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Fulbert Steffensky: „Wir gehen zu ernst mit der Bibel um“

Fulbert Steffensky bezeichnet sich als katholischen Christen und evangelischen Theologen. Im Interview spricht er darüber, wieso er als Zweifler das Gebet unbedingt braucht und wir uns an der Schönheit der Bibel mehr erfreuen sollten. 

Sie sind in diesem Jahr 85 Jahre alt geworden und blicken auf ein biografisch vielfältiges Leben zurück. Was waren für Sie entscheidende Begebenheiten?
1939 wurden wir als Saarländer evakuiert. Wir kamen „ins Reich“, wie man bei uns sagte. Das zweite große Ereignis war die Flucht, als sich uns die Front aus Frankreich näherte. Auf dieser Flucht ist mein Vater gestorben. Dann der Eintritt ins Kloster, der Austritt aus dem Kloster, ein großer Bruch. Dann natürlich unsere Heirat und der plötzliche Tod meiner Frau (Dorothee Sölle, Anm. d. Red.), und meine erneute Heirat. Es ist ein Leben voller Aufbrüche und Brüche.

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Was hat Ihr Denken verändert?
Ich habe Denken gelernt, weil ich Heimat verlassen und gefunden habe. Wenn man nur bei sich bleibt, wenn ich nur im Saarland geblieben wäre, hätte ich weniger denken können. Aufbrechen erweitert den Horizont. Man findet sich gerade in der Fremde.

Sie waren katholisch …
Ja. Ich stamme aus einer sehr katholischen christlichen Gegend, einem christlichen Elternhaus.

Inwiefern hat Sie das geprägt?
Ich bin zwar evangelisch geworden, aber nicht konvertiert. Das war mir zu mühsam. Die Konversion war für mich so etwas wie ein Umzug von München nach Berlin. Das
tut man nicht ungestraft. (lacht) Aber damit hatte ich immer zwei Sprachen und damit eigentlich auch zwei Denkweisen, zwei Frömmigkeitsweisen, und ich habe die eine nie aufgegeben.

Den Katholizismus?
Richtig! Ich halte den Katholizismus für den eigentlich geistlicheren und religiöseren Entwurf. Der Protestantismus ist zwar aufgeklärter, aber dadurch auch ein Stück ärmer. Der Katholizismus atmet mehr Reichtum, Sinnlichkeit und Frömmigkeit. Im Grunde liebe ich aber beides.

Sie betiteln sich als „einen katholischen Christen, aber einen protestantischen Theologen“?
Ja, katholisch im christlichen Vollzug, mit allem, was es gibt, mit der Regelmäßigkeit, der Form, den Gebeten, den eingehaltenen Zeiten und der Sinnlichkeit des Katholizismus. Und mit der Aufgeklärtheit des Protestantismus auf der anderen Seite, und auch mit der Freiheit, keinen Papst haben zu müssen.

Die Erlaubnis, unvollkommen zu sein

Gemeinsam mit Ihrer verstorbenen Frau, Dorothee Sölle, haben Sie in Köln das politische Nachtgebet mitbegründet. Wie wichtig ist Ihnen das persönliche Gebet?
Ich bin ein viel zu zweifelnder Christ, als dass ich auf das Gebet verzichten könnte. Das Gebet ist eigentlich die einzige Stelle, wo man Dinge zusammenkriegt, die sonst nicht zusammenpassen. Die Güte Gottes und was in der Welt passiert, was nicht alles die Schuld der Menschen ist.

„Im Gebet finden die Schönheit und die Tragik des Lebens zueinander.“

Meine Überzeugung ist: Je größer die Zweifel, desto wichtiger ist das Gebet. Und wenn ich es nicht kann, dann bete ich halt ungekonnt. Wenn ich eins gelernt habe von diesem Christentum, dann das: Es muss nichts ganz sein, ich als Mensch kann Fragment sein. Gnade erlaubt es mir, ein nicht vollkommener Mensch zu sein. Gnade ist, dass ich nicht unter Ganzheitszwängen lebe, auch nicht unter religiösen.

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Wo muss die Kirche das Gebet wieder neu erlernen?
Wir müssen im Gottesdienst die Stellen der schönen Nutzlosigkeit, wie z. B. das Gebet, neu entdecken. Also nicht die Predigt zum Papst, also zur Hauptsache, machen. (lacht)

Aber der Glaube kommt im Protestantismus doch aus der Predigt …
(energisch) Diese vermeintliche Schwerpunktsetzung finde ich schade. Ich kann auf einen Psalm nicht verzichten. Ich kann auf die Lieder von Paul Gerhardt nicht verzichten, aber auf die Predigt schon. Mir sind die Prediger, die Leute anklagen, zu mächtig. Es gibt gute Handwerker, die was Einfaches sagen und tun. Denen höre ich auch gerne zu. Aber die Essenz des Gottesdienstes liegt nicht in der Predigt.

„Je größer die Zweifel, desto wichtiger ist das Gebet.“

Ist die Predigt dann überflüssig?
Nein, aber der Satz stammt aus den Zeiten, als es noch keine Bücher gab. Die Predigt ist nicht überflüssig, aber sie darf nicht dominieren. Das Problem ist, dass damit auch viele Pfarrerinnen und Pfarrer dominieren. Ich halte evangelische Gottesdienste für viel autoritärer als katholische. Im evangelischen Gottesdienst ist der Pfarrer, ist die Pfarrerin ein freier Mensch, sie sind die Bestimmenden. Ich glaube, unsere Pfarrer und Pfarrerinnen waren noch nie so fleißig wie heute, aber ob etwas bei der vielen Arbeit rauskommt, das ist die Frage. Und ein Gottesdienst, der so bestimmt ist von einem Menschen wie bei den Reformierten, wo die Liturgie keine Rolle spielt, der ist eben autoritär – da muss der arme Mensch schon sehr gut sein.

Pfarrerinnen und Pfarrer geben doch ihr Bestes …
Und meistens sind wir nicht gut, wir sind Durchschnitt. Und wenn wir Durchschnitt sind, hilft es uns sehr, wenn ich einen Psalm habe, nicht jeden Psalm selber machen muss. Wenn ich eine Geste habe, nicht jede Geste selber erfinden muss. Wenn ich einen Segen habe, nicht in ungeheurer Geschwätzigkeit diesen Segen einschmieren muss. Eigene Worte sind da manchmal einfach grässlich. Und da finde ich, dass die Liturgie etwas sehr Wichtiges ist, sie befreit die Gemeinde vom Pfarrer und den Pfarrer von sich selbst. Ja, das klingt schon sehr katholisch, aber deshalb nicht unwahr.

Sie haben einmal die Bibel als Ihre „liebste alte Dame“ bezeichnet. Was lieben Sie an ihr?

Ich liebe es, dass es sie gibt, dass ich nicht mit mir alleine bin, dass ich jeden Morgen, wenn ich in den Losungen oder in der Bibel lese, diesen fremden Gast bei mir habe. Das durchbricht meine geistliche Enge, wenn ich mir das angewöhne. Ob dieser Gast immer klug ist oder nicht. Es gibt natürlich auch dumme Stellen in der Bibel, aber es gibt mehr kluge. Es gibt die Erzählungen von der Bergung des Lebens, vom Trost, vom Geheimnis Gottes, von der Freiheit der Gnade, es gibt die Bergpredigt. Wenn ich die Bibel lese, werde ich immer ermuntert und gerichtet, das ist einfach sehr schön. Ich lese im Augenblick gerade die ganzen Propheten, das langweilt auch! Aber so ist das bei Besuch, der kommt, der langweilt auch, aber dann ist es wieder spannend.

Von alten Menschen kann man ja viel lernen. Weshalb sollten Christinnen und Christen so auch ganz neu die Bibel entdecken?
Bibellesen setzt auf Treue, also nicht nur ab und zu mal reingucken. Bibellesen baut auf Beständigkeit. Die Bibel kann ich nur verstehen, wenn ich sie lange und regelmäßig lese. Ich würde eher sagen, sie sagt mir nicht in einer Geschichte oder an einer Stelle etwas, sondern sie bildet mich im Ganzen. Bildung ist immer ein langfristiger Vorgang. Die Bibel bildet mich, sie bildet meine Ideen, sie bildet mein Gewissen, und darum ist sie meine liebste alte Dame.

Schönheit im Glauben finden

Was finden Sie charmant an der Bibel?
Interessante Frage. Ich habe in den letzten Jahren an der Uni gerne Folgendes gemacht: Ich habe eine knochige, biblische Geschichte mitgebracht und die Studenten gefragt: Was finden Sie daran charmant? Sie sagten: „Ja, exegetisch könnte man Folgendes …“ Ich sagte: „Das interessiert mich nicht. Was ist charmant daran?“ Wir sind es nicht gewohnt, unseren eigenen Glaubensentwurf als Schönheit zu interpretieren. Immer nur als Muss, Moral oder als irgendwas zu Glaubendes. Viel wichtiger ist zunächst: Der Glaube kommt nach dem Schönfinden. Viel wichtiger ist es, erst etwas schön zu finden!

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Daher Ihr Faible für die alte Dame?
Ja, sie ist so anmutig. Lesen Sie mal das Hohelied der Liebe. Wir gehen zu ernst mit der Bibel um. Wir müssen als Allererstes lernen, die biblischen Geschichten schön zu finden. Man kann auf Dauer nur an etwas glauben, das man charmant gefunden hat. Nicht, wenn alles richtig ist! Das ist mir egal. Was ist der Charme des Wortes „Gnade“? Oder der Charme der Bergpredigt? Es hat etwas mit Schönheit zu tun!

Welcher Textabschnitt verkörpert für Sie das Schönste in der Bibel?
Ich nenne zwei Stellen. Das ist erstens Römer 8. „Derselbe Geist gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.“ Ich bin befreit, mein eigener Zeuge zu sein, und das ist der Grundsatz der Gnade. Gnade heißt nicht, dass Gott so fürchterlich groß ist und der Mensch so fürchterlich klein, und dass es deshalb diese Gnade geben muss. Sondern Gnade ist zu interpretieren als Liebe, und das heißt, ich muss nicht mein eigener Vater und meine eigene Mutter sein, sondern ich kann ein bedürftiges Wesen sein. Ich bin befreit dazu, Fragment zu sein. Der zweite Text steht in Matthäus 25. Dort geht’s um die Gerechtigkeit. Das Wichtige in unserem Leben ist die Gnade und das Brot der Armen. Diese schwachsinnigen Fragen, ob Katholiken und Protestanten zusammen zum Abendmahl gehen dürfen! Solche Fragen verstehe ich überhaupt nicht mehr.

Alte Damen haben so ihre Eigenheiten. Was stört Sie an Ihrer „liebsten alten Dame“? Wo beißen Sie sich fest?
Ich verbeiße mich nur, wenn ich die alte Dame für zu voll nehme, das heißt, wenn
ich sie zum Beispiel wörtlich nehme – da kann ich Ihnen eine Menge Stellen nennen, aber so geht man nicht mit diesem Buch um.

„Es ist keine vom Himmel gefallene Wahrheit.“

Es ist durch Menschenmund gegangen, es enthält zeitgebundene Irrtümer wie zum Beispiel den Mann-Frau-Irrtum, dass der Mann das Haupt ist und die Frau sich ihm unterordnen soll. Oder die Kriege, in denen sich die Völker ausrotten sollen. Oder ihr Blick auf Homosexualität. Die Bibel ist nicht meine Herrin, sie ist meine Trösterin und ermuntert mich. Die Bibel muss man in protestantischer Freiheit denken und lesen.

Der sonntägliche Gottesdienst lädt oft nur wenige Menschen ein. Weshalb gehen Sie gerne in den Gottesdienst?
Der Gottesdienst ist der Rollator meines hinkenden Glaubens. Denn es ist nicht leicht, zu glauben, es gibt viele Widersprüche. Der Gottesdienst führt mir vor Augen: Ich bin nicht der völlige Autor meines Glaubens. Ich habe den Wein nicht gekeltert, den ich trinke, das Brot nicht gebacken und die Wurst nicht gemetzgert, die ich esse. Im Gottesdienst begegnet mir Gottes Schönheit. Es gibt diese klösterliche Geschichte, dass ein junger Mensch seinen Abt bittet, dass er vom Chorgebet dispensiert werden möchte, weil sein Glaube zu brüchig sei für das große Gebet. Und der Abt sagt nicht liberal: „Also, wenn das schwierig ist, dann bleib lieber liegen und schlafe.“ Er sagt nicht autoritär: „Geh hin, bete, das ist deine Pflicht!“ Er sagt: „Geh hin und schau zu, wie deine Brüder beten.“ Genau das passiert für mich im Gottesdienst. Ich bete nicht nur, ich schaue auch gerne zu, wie meine Brüder oder meine Schwestern beten. Deshalb gucke ich auch beim Abendmahl gern in der Gegend rum und die Leute an.

Teil 2 des Interviews finden Sie hier.

Die Fragen stellten Rüdiger Jope und Ulrich Mang


Magazin 3E

Dieser Artikel ist im Kirchenmagazin 3E erschienen, das wie Jesus.de zum SCM Bundes-Verlag gehört.

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