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„Ab in den Sarg“: Die etwas andere kirchliche Erfahrung

Gottesdienst: Frontal, passiv, einschläfernd? „Nicht mein Ding“, meint Björn Wagner und lässt sich auf ein Experiment ein.

Von Björn Wagner

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„Wir haben da was gegründet – das wäre was für dich.“ So hat mich ein Freund angesprochen und zu meinem ersten Treffen bei Weiter Raum Marburg eingeladen. Ich war naturgemäß neugierig. Künstlerisch sollte es sein, alternativ, aufregend. So kam ich zu meinem ersten „Weiter Denken“-Treffen dazu und lernte die Menschen kennen, die diese Gründung zu etwas Besonderem machen.

Und genau das ist es doch, oder? Menschen, die sich treffen und besonders werden füreinander. Dieses Prickeln in der Luft, wenn man die ewige Geschichte Gottes in zeitliche Kleider hüllt, miteinander spricht, diskutiert, ringt, lacht, weint und feiert. Da schlägt das Herz von „Weiter Raum“, diese radikale Zugewandtheit der Menschen zueinander und zu dem Gott, der uns Raum gibt und zugleich in die Weite führt.

Und ganz ehrlich: Das fehlt doch ganz oft in der Landschaft der Kirchen in Deutschland. Der Mut, neue Formen auszuprobieren, ein Experiment zu starten, sich auf das Wasser zu wagen.

Sehnsucht nach sinnlicher Erfahrung

Es wohnen in Marburg ca. 72.000 Menschen, davon ca. 27.000 Studierende. In christlichen Gemeinden beheimatet sind ca. 4.000 davon, vielleicht ein paar mehr oder weniger. Es gibt also viele Menschen, die nicht in einer christlichen Gemeinschaft ihre Heimat finden, aber vielleicht ein Interesse an Spiritualität haben. „Weiter Raum“ will eine neue, andere Andockstelle für Menschen anbieten, die gemeinsam Spiritualität leben und gestalten wollen, und dabei unsere eigene Faszination über diesen Jesus Christus ins Gespräch bringen.

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So haben wir im Frühjahr 2016 das Format „Weiter + Raum“ begonnen, einen spirituellen Erlebnisabend. Menschen – Männer wie Frauen – suchen sinnliche Erfahrungen, ein Thema ganzheitlich zu begreifen. Die klassische Wahl der meisten Gemeinden ist die der Worte. Wir reden. In nicht enden wollender Folge kleben wir Worte aneinander, als ob diese Kette uns zum Himmel zieht. In den letzten Jahrzehnten singen wir diese Worte oft, um sie erträglicher zu machen, aber die Wortgestalt dominiert die christlichen Veranstaltungen. Die Kinder dürfen erfahren, die Erwachsenen zuhören.

Der „Weite Raum Marburg“ möchte etwas anderes gestalten: Erlebnisse. Er-lebt-es, das verändert, voranbringt und Verstehen – neues Verstehen – möglich macht. Dabei sehen wir uns als Katalysatoren zwischen den Teilnehmenden und Gott selbst.

Tabu-Themen anpacken

Wir gehen dabei an die Grenzen. Beim Thema Tod haben wir kurzerhand in dem Raum einen Sarg aufgebaut: zum Probeliegen, spüren, wie hart das Futter ist, wie eng diese Holzkiste den Körper umschließt. Premium-Hundefutter gab es zum Probieren – in Lebensmittelqualität, vielleicht als etwas zu nachhaltige Erfahrung hatte ich den Geschmack noch Stunden danach auf der Zunge. Auch das Tabu „Über Geld spricht man nicht“ haben wir adressiert. Gesprochen haben wir nicht, aber wir haben die Möglichkeit eröffnet, sein Nettogehalt an die Wand kleben zu können, mit gedruckten Zahlen, damit es auch anonym bleiben konnte. Zwischen mehreren tausend Euro und Null hatten wir alles dort an der Wand.

Eine echte Herausforderung war, einen Weg zu finden, wie wir das Tabu-Thema Sexualität erlebbar machen konnten. Aus verständlichen Gründen wollten wir hier keine direkte „Begreifbarkeit“. Die Fantasie des Menschen ist aber sehr facettenreich, so haben wir eine Station erdacht, an der man sich einen Text vorlesen konnte, aus einem recht normalen Roman. Allerdings zu zweit, in einer ruhigen Ecke des Raums. Hätte man den Textauszug verfilmt, wäre vermutlich FSK 18+ angebracht gewesen. Den Roman hätte man ohne Altersbeschränkung in jeder Buchhandlung kaufen können.

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In dem von uns gebauten „Raum im Raum“, einer Hütte aus Latten und weißem Gartenvlies, haben wir unsere Erfahrungen zueinander gebracht und getauscht. Und so waren wir gemeinsam beeindruckt davon, wie viele Tabubrüche es in Gottes Geschichte mit den Menschen gibt – und auch das größte Tabu: Gott wird Mensch. In Jesus. Uns stand jetzt klarer vor Augen, was es heißt, ein Tabu zu brechen. Die unaufgebbare Grenze zwischen Mensch und Gott flimmert und verschwimmt.

Im Herbst 2016 haben wir eine Erinnerungsfeier für trauernde Menschen veranstaltet – Kathy Pithan, Gründerin von „Weiter Raum“ und Beerdigungsrednerin, hatte es schon länger auf dem Herzen, ein Angebot für Trauernde zu schaffen. Einen Strauß voller Erinnerungen konnten die Trauernden in der Friedhofskapelle zusammenstellen.

Drei Elemente haben ihnen Gelegenheit gegeben, das Wertvolle der Vergangenheit zu schätzen, das Schmerzvolle der Gegenwart auszudrücken und das Hoffnungsvolle der Zukunft zu erahnen. Unsere Bilder waren so einfach wie kraftvoll: Die Vergangenheit haben wir durch eine Papierblume gestaltet, deren Blütenblätter zugleich Platz boten, gute und schwierige Erfahrungen aufzuschreiben. Später konnte man die Papierblätter an einen Bleistift ankleben, um diese eine wertvolle Blume mitnehmen zu können.

Die Gegenwart wurde durch eine leere Vase ausgedrückt, die von den Trauernden nach und nach mit mitgebrachten Blumen gefüllt wurde, bis ein wunderschöner Strauß entstanden war –verwandelte Trauer. Jeder Trauernde konnte den Namen der/des Verstorbenen sagen als Erinnerung an einen unverwechselbaren Menschen und seine Blume dem immer wachsenden Strauß hinzufügen.

Für die Zukunft haben wir das Bild eines Samenkorns gewählt. Ausgedrückt durch die Körner in und auf dem Brot und der Frische von gekeimter Kresse. Kleine Tütchen mit solchen Samen durften die Trauernden mit nach Hause nehmen, um Hoffnung, Wachstum, Frische aussäen zu können. Eine Teilnehmerin hat nachher berichtet, dass sie fast 20 Jahre lang nach einer solchen Möglichkeit gesucht habe, vom eigenen Vater Abschied nehmen zu können.

Weite und Festigkeit erleben

„Weiter Raum“ ist für mich der Traum einer Gründung: zuerst für mich selbst – und auch für die anderen, denn „Weiter Raum“ sehnt sich danach, ein Ort zu sein, an dem Menschen zugleich für sich Weite entdecken und dennoch die Festigkeit eines Raumes erleben können. „Weiter Raum“ bringt neue Ideen und viel Mut mit sich, diese anzugehen und umzusetzen.

Dabei bleiben viele Fragen offen, und Patentlösungen haben wir keine, wohl aber den Willen, christliche Gemeinschaft, Veranstaltungen und Formate zu entwickeln und durchzuführen, die für uns und andere Sinn machen und die Sprache der Künste atmen und ausdrücken. Das fordert mich heraus, kreativer, verrückter, verspielter und zugleich ernster, erwachsener und fester zu sein und zu werden, als ich es bisher war. „Weiter Raum Marburg“ schmeckt nach all dem und befördert all das

Björn Wagner ist interessiert. An fast allem. Gründer, Referent, Querdenker, Kreativling, Autor und CVJM’er, Familienmensch und Forscher. Und Kaffeenerd.

Internet: Weiter Raum Marburg

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