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Ehrenamt: „Minijob ohne Schmerzensgeld“

Warum engagieren sich Menschen ehrenamtlich? Und was schreckt sie ab? Ein Gespräch über Freiwilligenarbeit mit dem Arbeits- und Organisationspsychologen Professor Theo Wehner.

In welchem Bereich wird der „Ehrenamtsforscher“ selbst zu einem Ehrenamtlichen?

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Wehner: (lacht) In der wissenschaftlichen Arbeit ist es zum Beispiel üblich, dass wir alle Gutachten umsonst erstellen. Jede Anfrage, die an mich gestellt wird, übernehme ich ehrenamtlich – oder auch nicht.

Sie haben viele Jahre zur Freiwilligenarbeit an der ETH Zürich geforscht. Was ist Ihre überraschendste Erkenntnis?

Dass wir dies in unserer Gesellschaft doch noch sehr eindimensional sehen: Ist das gelebte Engagement selbstlos oder ist es doch ein bisschen versteckter Egoismus? Es ist uns gelungen, aufzuzeigen, dass das Ehrenamt aus vielen Motiven gespeist wird und eine echte Bürgertugend ist. Es lässt sich nicht mit diesen zwei Extremen begründen und schon gar nicht mit „Gutmenschentum“ abqualifizieren.

Welche Stärken und Schwächen besitzt das Ehrenamt?

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Es besitzt die Stärke, dass es eine individuelle Ressource ist, die gleichzeitig dem Gemeinwohl dient. Die Zunahme der Vermarktlichung würde ich als Schwäche sehen.

Was verstehen Sie darunter?

Alles wird abrechenbar und käuflich gemacht, z. B. in der Pflege, beim Besuchsdienst, bei der Kinderbetreuung. Eine wesentliche Schwä­che sehe ich aber auch in der immer stärker werdenden Bürokratisierung des Freiwilli­gendienstes. Vermehrte Verwaltungsvorschrif­ten sind der Totengräber für das Ehrenamt.

Fragen Menschen im Ehrenamt heute mehr nach dem „Spaß- und Sinnfaktor“ als früher?

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Ja! In der Statistik steht Spaß ganz oben. Dahinter verbirgt sich aber auch ein Miss­verständnis. In Interviews mit Ehrenamt­lichen höre ich nie: „Ich will Spaß haben“, sondern „Ich will mit anderen Gemeinschaft haben und dies soll unter einer freudigen, erfüllenden Perspektive geschehen“. Ein ho­her Prozentsatz tut es auch, weil sie etwas dazulernen und neue Erfahrungen machen wollen.

„Bürokratie schreckt ab!“

Was schreckt Freiwillige am meisten ab?

Mehr und mehr Bürokratie und Verpflich­tung. Freiwillige wollen heute vermehrt ihre Autonomie und Zeitsouveränität behalten. Der Hinweis „Sie müssten dies aber regel­mäßig machen“ schreckt ab.

Freiwilligenarbeit ist eine wichtige kirchliche Ressource. Doch immer mehr Kirchengemeinden finden immer weniger Menschen, die sich z. B. für die Arbeit in den Kirchenvorständen gewinnen lassen. Was raten Sie?

Die Kirche muss deutlicher machen: Ja, wir stehen für einen Auftrag Gottes, aber wir leisten auch ein hohes Maß an zivilgesell­schaftlichem Einsatz. Und du darfst bei uns auch mitmachen, wenn du glaubenstech­nisch (noch) nicht mit uns auf einer Wellen­ länge bist.

Interessant. Die anglikanische Kirche sieht in der These „Belonging before believing“ (Dazugehören kommt vor Glauben) einen Schlüssel der Zukunft. Würden Sie dies unterstreichen?

Ja! Unbedingt.

Sind kürzere Verpflichtungszeiträume eine Lösung? Braucht es mehr Mut zur Lücke?

Neben Mut braucht es vor allem Fantasie. Verantwortliche müssen sich Gedanken da­rüber machen, wie sie es hinbekommen, dass ihre Institution nicht so verstaubt und ein­gefahren rüberkommt. Die Aufgaben, die Ehrenamtliche übernehmen sollen, müssen gemeinsam erarbeitet werden. Ich darf nicht schon von einem Katalog an Aufgaben und Anforderungen, womöglich von einem Pflich­tenheft, erschlagen werden.

Pfarrerinnen und Pfarrer sollten also mehr fragen: Was würdest du gerne tun?

Richtig! Und auch das Controlling zurück­fahren. Das Ehrenamt darf nicht zum Mini­job ohne Schmerzensgeld werden.

Wer übernimmt dann die Aufgaben, die liegenbleiben?

Man muss sich fragen: Braucht es diese Jobs? Wie können wir sie attraktiver machen? Oder macht man sie selbst? Das mache ich in der Familie auch. Richtig ist auch: Aufga­ben müssen nicht immer lustvoll sein. Den Müll trage ich nicht runter, weil ich im Flow bin, sondern weil ich sozial in die Familie eingebunden bin.

Theo Wehner
Professor Theo Wehner (Foto: privat)

„Können wir es nicht auch
anders machen?“

Eine steile Aussage von Ihnen lautet: „Das zivilgesellschaftliche Engagement sollte den Menschen nicht durch zu viele Regeln oder standardisierte Abläufe verleidet werden.“ Also einfach die kirchlichen Verwaltungsvorschriften ignorieren?

Das wäre zu hart. Aber zur Regelbeachtung gehört auch eine Regelverletzungskompetenz. Hier mache ich Mut, diese auch wahrzu­nehmen. Regeln müssen interpretiert werden. Von den „Profis“ erwarte ich hier mehr Disziplin als von den „Laien“. Freiwillige können und sollen eine Institution „ent­selbstverständlichen“. Freiwillige müssen fra­gen dürfen: „Warum macht ihr das nur so?“, „Können wir es nicht auch anders machen?“

Drei Anreize, mit denen Kirchengemeinden mehr Freiwillige gewinnen können?

1. Es muss klar sein: Für wen ist diese Auf­gabe wichtig? 2. Übt eine fantasievolle Anerkennungskultur ein. Es hilft nichts, am Sonntag große Dankesreden zu schwingen, wenn ich am Dienstag als Ehrenamtlicher wiederkomme und niemand da ist, der Schlüssel ist nicht hinterlegt und ich muss drei Anrufe tätigen, bis ich ins Gemeinde­haus komme. 3. Bindet Menschen stärker in Entscheidungen mit ein. Leute wollen mitgenommen werden in Prozesse und auf Wege; sie wollen teilhaben und nicht nur teilnehmen.

Was sollten Leitende in der Begleitung von Ehrenamtlichen beachten? Was geht? Was geht gar nicht?

Sie sind keine Mitarbeitenden. Und so sind sie auch nicht anzusprechen. Pfarrerinnen und Pfarrer haben keine klassische Funkti­on eines Vorgesetzten. Sie sind gefordert, Fingerspitzengefühl zu beweisen zwischen den beiden Polen „Führungsverantwortung“ und „Begleitung“.

Kirchenvorstandssitzungen können gelegentlich anstrengend sein. Welche Tipps haben Sie für eine gelingende und konstruktive Sitzung?

1. Ohne Anstrengung geht’s nicht. 2. Jede Sitzung mit etwas Erfreulichem beginnen. Nehmen Sie Emotionales mit hinein. Bauen Sie Atempausen ein. 3. Probieren Sie es mal mit einer „Stehung“. Da lassen sich manche Punkte besser und auf jeden Fall schneller abarbeiten.

Sind Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, glücklicher als Leute, die dies nicht tun?

Dass sie glücklich sind, können wir statis­tisch nachweisen. Freiwillige erleben Sinner­füllung und sind gesünder. Vielleicht waren sie es auch schon, als sie die Aufgaben über­nommen haben. Was wir allerdings aufzeigen können: Ehrenamtlich Engagierte bringen ein deutlich höheres Maß an Identifikation mit ihrer beruflichen Tätigkeit mit, also nicht nur für das Ehrenamt.

Welches war das zuletzt schönste Erlebnis für den Ehrenamtlichen Theo Wehner?

Das Beste kommt noch! Das letzte? Die Frei­willigen, die ich interviewe, erleben das als Wertschätzung ihrer Tätigkeit. Sie freuen sich darüber, dass ein Forscher an ihnen Interes­se zeigt und ihnen Feedback gibt; das ist im­ mer wieder auch schön für mich.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Rüdiger Jope, Redaktionsleiter des Kirchenmagazins 3E


Kirchenzeitschrift 3EDas Interview mit Professor Dr. Theo Wehner ist zuerst im Kirchenmagazin 3E – echt.evangelisch.engagiert. erschienen, dass wie Jesus.de zum SCM Bundes-Verlag gehört.

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