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Grüne Kirchenpolitik: „Plausibilität vieler religiöser Fragen nimmt ab“

Bündnis 90/Die Grünen debattieren über das Verhältnis von Kirche und Staat. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann und der Europaabgeordnete Sven Giegold haben dazu ein Diskussionspapier mit dem Titel "Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat" erstellt.

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Beide Politiker sind kirchlich engagiert: Kretschmann gehört dem Zentralkomitee der Deutschen Katholiken an, Giegold engagiert sich in der Präsidialversammlung des Deutschen Evangelischen Kirchentags. Im epd-Interview mit Thomas Schiller sprechen sie über Tanzverbote, das Verhältnis von Kirche und Staat und warum die Kirche sich ständig reformieren müsse.

 epd: Die Debatte bei den Grünen um das Verhältnis von Staat und Kirche ist recht spät losgegangen, 2013 wurde ein säkularer Arbeitskreis gegründet. Dabei haben Grüne und die Kirchen zuvor recht häufig auf einer Linie gelegen, etwa in Fragen von Menschenrechten und Umwelt. Warum wird diese Debatte nun geführt?

 Kretschmann: Die Debatte ist nicht so jung, wie sie jetzt erscheint. In meinem Landesverband wurde sie schon 1988 geführt. Und seitdem kommt das Thema immer mal wieder hoch. So auch jetzt. Die Gesellschaft wird religiös pluraler, es gibt mehr Religionsgemeinschaften, und die Zahl der nicht Konfessionsgebundenen nimmt zu. Das allein führt schon dazu, dass solche Debatten mehr und intensiver geführt werden, denken Sie zum Beispiel auch an die Debatte über Ethikunterricht.

 Giegold: Die inhaltlichen Übereinstimmungen mit den Kirchen sind sogar gewachsen. Gleichzeitig übersetzen sich gesellschaftliche Spannungen bei uns Grünen schneller in offene Debatten. Zudem sind wir in vielen Ländern nun in Regierungsverantwortung. Da fangen wir damit an. Denken Sie an die Einführung des muslimischen Religionsunterrichts in Nordrhein-Westfalen.

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 Haben Sie eine Vorstellung, wie stark unter den Mitgliedern der Grünen das Verhältnis von religiös Gebundenen zu Atheisten ist?

 Giegold: Nein, aber in der Diskussion geht es ja nicht um das Bekenntnis, sondern um das Verhältnis zwischen Staat und Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Die Positionen dazu stellen sich immer erst am Ende einer Diskussion heraus. In den Grünen gibt es traditionell viele Menschen, die sich mit der Kirche eng verbunden fühlen. Kritische Christen waren eine der Quellen der Grünen. Das sehen Sie auch an vielen Aktiven innerhalb der Partei. Umgekehrt gibt es neue Wählerschichten und Parteimitglieder gerade aus urbanen Räumen, die mit Kirche nicht viel am Hut haben.

 Sie haben ein Papier für die innerparteiliche Debatte verfasst. War Ihr Impetus, die Grünen mehrheitsfähig zu halten?

 Kretschmann: Nein, darum geht es nicht. Wir sind der Meinung, dass wir das kooperative Modell von Staat und Kirche, wie wir das in Deutschland haben, gut für eine moderne Gesellschaft begründen können – auch als Beispiel für andere. Gucken Sie doch zum Beispiel nach Frankreich mit seiner stärkeren Trennung von Staat und Kirche. Zum Schluss fragen Sie: Was ist daran besser? Das können wir nicht erkennen. Auf jeden Fall haben wir das Papier nun bei den Grünen eingespeist und es kann jetzt von der genannten Kommission debattiert werden.

 Welche Position bringen Sie in die Debatte ein?

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 Giegold: Unser zentraler Punkt ist, dass der Staat nicht nur zu seinen Bürgern als Einzelpersonen in Beziehung tritt, sondern aus gutem Grund auch zu Gemeinschaften. Wir sind gegen die Vorstellung des Bürgers als "lonesome Cowboy". Diejenigen, die die strikte Trennung von Kirche und Staat fordern, haben häufig ein Gesellschaftsbild, das nur noch den Staat und einzelne Bürger kennt. Uns geht es darum, dass Menschen sich in Gemeinschaften organisieren, in denen sie oft Dinge besser können, als es der Staat oder Einzelne können. Dass religiöse Gemeinschaften die größten Ausprägungen in unserer Gesellschaft sind, muss sich der Staat zunutze machen, um einen besseren Zusammenhalt in der Gesellschaft zu gewährleisten.

 Eine schwarz-grüne Regierungsoption würde aber doch schwieriger, wenn sich die Grünen stärker säkular ausrichten würden.

 Giegold: Bevor man über machtpolitische Fragen nachdenkt, die hier nun gar nicht angetrieben haben, möchte ich noch einmal unterstreichen, dass unser Papier religionspolitische Substanz hat. Uns geht es darum, wie die politische Diskussion zwischen Religionsgemeinschaften und dem Staat in Deutschland weitergeführt wird. Diese Debatte findet in allen Parteien statt. Man spürt das auf den Kirchentagen, aber auch, wenn an eigentlich stillen Feiertagen auf dem Frankfurter Römer junge Menschen demonstrativ tanzen.

 Sie schlagen vor, das Tanzverbot an Feiertagen nur auf ausgewählte stille Feste wie Karfreitag, Allerheiligen oder Totensonntag zu beschränken, an welchen Festen sind Sie für Lockerungen?

 Kretschmann: Erstmal sind solche Feiertage gewissermaßen ein Geschenk der Christen an die ganze Gemeinschaft – alle kommen in ihren Genuss auch wenn sie unterschiedlich begangen werden. An den meisten Festen gibt es wirklich Grund zum Tanzen, Ostern zum Beispiel – das Versprechen, dass wir wieder auferstehen, ist doch der größte Grund zur Freude. Im Gegensatz dazu kann man an den stillen Feiertagen von Nichtgläubigen den Respekt erwarten, auf Tanz zu verzichten. Unsere Idee eines kooperativen Verhältnisses von Religionsgemeinschaften im Staat geht davon aus, dass es auf gegenseitigem Respekt basiert.

 Giegold: Viele, die mit dem Begriff des "Tanzverbotes" und der "Zwangsbestillung" arbeiten, sägen letztlich auch an der Sonntagsruhe. Das ist Vielen nicht bewusst. Ein gemeinsamer Rhythmus der Gesellschaft ist ein hohes gesellschaftliches Gut – wie auch Tage, an denen es ruhiger ist. Das kann keiner allein erzeugen.

 Sie appellieren an die Kirchen, sich an solchen Punkten, die öffentlich nur noch schwer vermittelbar sind, von sich aus zu modernisieren.

 Kretschmann: "Ecclesia semper reformanda" – die Kirche muss in einer demokratischen Gesellschaft begründen können, was sie fordert und wie sie sich verhält. Das hapert an einigen Stellen. Dass man etwas schon immer so gemacht hat, reicht heute nicht mehr aus. Wenn Regelungen wie der Feiertagsschutz nicht immer wieder kritisch auf ihren wahren Gehalt geprüft werden, läuft man Gefahr, dass sie aus der Gesellschaft heraus infrage gestellt oder gar gekippt werden. Die Plausibilität vieler religiöser Fragen nimmt ab, weil viele Menschen ihren Glauben verloren haben oder ihn gar nicht mehr gewinnen. Was früher plausibel war, ist es heute nicht mehr. Es braucht immer wieder neue Begründungen.

 Muss die katholische Kirche sich stärker verändern als die evangelische?

 Kretschmann: Das Dogmengebäude über den Evangelien ist erdrückend. Es heißt immer wieder: ad fontes – zu den Quellen. Es ist gut für die Kirche selber, wenn sie immer wieder unser Kernanliegen herausarbeitet – was bedeutet nun die Nachfolge Christi heute? Das zu klären ist Aufgabe der Kirchenmitglieder und Theologen.

 Giegold: Unser Papier lässt am Ende offen, mit welchen Maßnahmen wir zu unseren Zielen kommen wollen. Wichtig ist nur, dass man keine kurzschlussartigen Lösungen macht.

(Quelle: epd)

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