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Gut beschützt? Sexueller Missbrauch in der Kirche

Warum sind kirchliche Einrichtungen und Gemeinden häufiges Umfeld für sexuelle Übergriffe? Wo fängt sexuelle Ausbeutung eigentlich an? Und was können wir präventiv tun, um Kinder wirklich zu schützen? Fachmann Christian Rommert im Gespräch über sichere und unsichere Gemeinden.

Warum ist es wichtig, dass sich Kirchen mit dem Thema „Sichere Gemeinde“ auseinandersetzen?

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Christian Rommert: Das ist wichtig, weil Täterinnen und Täter gezielt nach Orten suchen, wo sie grenzüberschreitendes Verhalten ausüben und sexuell übergriffig sein können. Ein Täter handelt aus einer Art Suchtverhalten heraus. Instinktiv scoutet er bei Familien, Kindern und auch Institutionen, ob die Gefahr besteht, dass seine Taten aufgedeckt werden. Es gibt schon seit einigen Jahren in einigen Kirchen und Gemeindeverbänden intensive Bemühungen, ein Bewusstsein für diese Thematik zu schaffen, und viele Gemeinden haben sich in der Zwischenzeit zumindest ansatzweise damit auseinandergesetzt. Trotzdem halte ich es für notwendig, dass wir uns weiterhin damit beschäftigen, weil Täterinnen und Täter ihre Strategien anpassen.

Es gibt in Kirchen und Gemeinden mittlerweile Ermüdungserscheinungen – „wir haben dazu eine Schulung gemacht, vielleicht polizeiliche Führungszeugnisse für Mitarbeitende angefordert, das reicht doch – und es kann sich doch nicht alles um dieses eine Thema drehen …“. Das wird wahrgenommen, sowohl von Betroffenen als auch von Tätern. Betroffene kriegen oft das Signal: Den Leuten reicht’s schon, ich halte lieber die Klappe. Und Täterinnen und Täter kriegen das Signal: Ein bisschen Füße stillhalten, dann wird das schon! Wer verantwortlich Arbeit mit Kindern und Jugendlichen machen will, der muss sich beide Seiten der Medaille anschauen: Wie mache ich kreative Arbeit für Kinder und Jugendliche – und wie schaffe ich einen sicheren Ort?

Was ist denn eine sichere Gemeinde?

Man erreicht nicht irgendwann vollständige Sicherheit, und dann bekommt man ein Gütesiegel, und alles ist gut. Eine Gemeinde, die auf dem Weg zur Sicherheit ist, der spüre ich ab, dass sie ihre Kinder stärkt. Nicht nur als Zukunft der Gemeinde, sondern als Gegenwart der Gemeinde. Kinder und alte Menschen können häufig ihre eigenen Bedürfnisse nicht so vertreten, wie es notwendig wäre. Wir haben da eine besondere Verantwortung, Lobbyarbeit zu leisten. Wenn ich zu IKEA gehe, merke ich: Das ist ein Unternehmen, das die Bedürfnisse von Kindern ernstnimmt. Da gibt’s ein Pissoir auf der Höhe des Kindes. Es gibt eine Kinderspielecke, es gibt Höckerchen … Alles atmet: Bei uns sind Familien willkommen! Auf der anderen Seite gibt es Gemeinden, wo jeder Cent für ein Spielgerät zu viel ist. Ich muss mich entscheiden: Investiere ich in Kinder – oder gehe ich über ihre Bedürfnisse hinweg?

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Ein weiterer Punkt auf dem Weg zur sicheren Gemeinde sind starke Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich mit dem Thema beschäftigt haben. Leider stehen oft nicht die Kinder im Mittelpunkt, sondern das Programm. Samstagabends nach der Badewanne noch irgendwas aus dem Materialbuch zu ziehen – so entsteht keine Beziehung zu Kindern. Ich wünsche mir Mitarbeitende, die zusammen mit den Kindern leben und sich freuen zu hören, was das Kind in der Woche erlebt hat.

Wo fängt Ihrer Erfahrung nach sexuelle Ausbeutung an?

Im Kopf des Täters. Von außen kann das eine unverfängliche Situation sein. Wenn Täterinnen oder Täter in ihrem Kopf daraus etwas machen, was ihre Bedürfnisse befriedigt und über die Grenze der betroffenen Person hinweggeht – dann ist das der Anfang von Missbrauch. Rein juristisch ist das noch nicht relevant, aber ich würde davor warnen, nur das ernstzunehmen, was auch juristisch relevant ist. Es gibt Grauzonen – und das sind die Biotope, wo Täterinnen und Täter sich aufhalten.

Was macht das Gemeinde- oder Kirchenumfeld so anfällig für Täter?

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Erstens das familiäre Miteinander – jede und jeder vertraut jedem. Wir umarmen uns und sagen: „Ja, aber das sind doch Christen, natürlich können die im Zelt mit Kindern übernachten.“ Der dichte und familiäre Umgang ist sehr wertvoll – aber für Täterinnen und Täter eben auch ein Signal: Das kann ich ausnutzen.

Zweitens unser problematischer Umgang mit dem Thema Sexualität. Sexualität ist eines unserer Lieblingsthemen in Gemeinden — aber immer nur mit der Frage: Was darf man, was darf man nicht? Da herrscht eine große Unsicherheit, die wir auch Kindern vermitteln. Und Kinder spüren: Darüber kann ich mit Mama und Papa nie reden. Sie suchen sich andere Quellen, das Internet, Freunde … Aber wehe, wenn jemand Älteres sagt: „Komm, ich zeig dir das jetzt mal.“ Die Kinder fühlen sich endlich verstanden — und dann wird das ausgenutzt.

Der dritte Faktor ist das Thema Vergebung. Ich kann Geschichten erzählen von Täterinnen und Tätern, die um Vergebung gebeten haben, sich entschuldigt haben – und dann in der nächsten Gemeinde wieder Arbeit mit Kindern machen. Was heißt konkret Vergebung? Ein Schuldeingeständnis von einer Kirche ist erst dann sinnvoll, wenn die Betroffenen wirklich das Gefühl haben: Hier hat mein Gegenüber verstanden, was mir passiert ist. So wie der Papst das kürzlich in Zusammenhang mit den Vorfällen in Philadelphia (systematische Verschleierung von Fällen sexueller Ausbeutung innerhalb der katholischen Kirche, Anm. d. Red.) formuliert hat, finde ich es gut: „Wir sind beschämt, dass so was bei uns vorkommt!“ Aber die Betroffenen um Vergebung zu bitten, wäre jetzt zu früh und unglaubwürdig.

„Das Machtgefälle zwischen einem männlichem Erwachsenen und einem weiblichen Kind ist das größte in unserer Gesellschaft.“

Viertens ist da das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen in der Gemeinde. Ich komme aufgrund meines Schriftverständnisses zum Ergebnis: Mit dem Sterben Jesu gibt es keinerlei Unterschiede zwischen Mann und Frau, auch nicht in der Aufgabenverteilung in der Gemeinde. Daher frage ich: Wo wird Geschlechtergerechtigkeit sichtbar? Sexuelle Gewalt ist in erster Linie Machtmissbrauch. Das Machtgefälle zwischen einem männlichem Erwachsenen und einem weiblichen Kind ist das größte in unserer Gesellschaft. Deshalb ist das das häu- figste Täter-Opfer-Verhältnis. In vier Prozent aller Fälle von sexuellem Missbrauch sind die Täter tatsächlich Pädophile, aber in 96 Prozent der Fälle geht es um Machtmissbrauch.

Und als fünften Faktor möchte ich die größte Lüge überhaupt nennen: „Bei uns gibt’s das nicht.“ In wirklich jeder Schulung, die ich halte, kommen Leute auf mich zu und erzählen teilweise tragische Geschichten, wo sie um Hilfe gerufen haben, und keiner hat zugehört. Ich bin überzeugt, in jeder Gemeinde, in jeder Schulklasse, in jedem Verein sitzen Betroffene. Wenn ich als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter den Verdacht habe, dass es eine akute Situation gibt – was mache ich? An wen wende ich mich? Ruhe bewahren – das ist das oberste Gebot. Überlegen, wer mich unterstützen kann. In der Regel finde ich eine Vertrauensperson bei einem Kinderschutzbund, beim Jugendamt, häufig auch in der Gemeinde.

Es gibt zum Beispiel beim Bund Evangelisch Freikirchlicher Gemeinden eine Hotline, es gibt beim Bund Freier evangelischer Gemeinden den „Schutzraum“. Man muss keine Namen nennen, sondern kann sich beraten lassen. Die Betroffenen sind häufig schon seit vielen Jahren in so einem Missbrauchssystem – also lieber noch mal zwei Wochen nachgedacht und dann erst losgelegt. Das Verkehrteste, was man machen kann, ist den Täter konfrontieren. Sehr wichtig ist es zu dokumentieren: Uhrzeit, Datum, was hab ich beobachtet? Das kann hinterher bei Gerichtsverfahren helfen. Wenn ein Kind sich mir öffnet: Keine Warum-Fragen stellen. Offene Fragen stellen: Wie ging es dir damit? Und wie war das genau? Kannst du dich noch an mehr erinnern? Und auch gucken: Wo ist meine Grenze? Die Enttäuschung wiegt schwer, wenn ich als vermeintlicher „Robin Hood“ mich plötzlich als kleines ängstliches Kaninchen entpuppe, das auch nicht weiterhelfen kann. Dann lieber sagen: Du, das überfor- dert mich – aber ich unterstütze dich, dir Hilfsangebote zu suchen.

Wie sollte eine Kirchen- oder Gemeindeleitung reagieren, wenn ein Fall definitiv festgestellt und an sie herangetragen wurde?

Das erste und wichtigste ist, Täter und Betroffene zu trennen. Der Täter verlässt die Gemeinde, bekommt ein Hausverbot. Die betroffene Person bleibt und wird gehört! Da gibt es keine Diskussion. Man sollte kompetente Hilfe von außen suchen. Denn so schmerzhaft das ist: Wenn es in der Gemeinde zu Taten kam, ist das häufig das Ergebnis eines Systems. Und als Teil dieses Systems kann eine Gemeinde nicht glaubwürdig aufarbeiten.

Gibt es Warnzeichen, auf die man achten kann?

Ich reagiere sensibel auf Menschen, die generell einen grenzüberschreitenden Umgang zwischen den Geschlechtern und auch zu anderen Menschen pflegen. Ich bin sensibel bei Menschen, die manipulierend Macht ausüben, oder auch bei Menschen, die sich permanent nicht an Absprachen halten. Wenn die Absprache lautet: Keine Eins-zu-Eins-Situation – und jemand entschuldigt es doch immer. Alles für sich genommen, können das auch Hinweise auf etwas anderes sein. Aber es sind Puzzlesteine, die ich verräterisch finde. Ich würde sehr sensibel drauf achten, wie Kinder auf Menschen reagieren, was sie erzählen. Ansonsten sind Täterinnen und Täter häufig sehr kinderfreundlich, sehr engagiert, sehr fromm. Sie passen sich an. Sie sind Künstler der Verführung. — Das ist mir wichtig.

Wie können Mitarbeitende eine gute Balance finden, einerseits sensibel für die Wahrscheinlichkeit von Übergriffen zu sein – und andererseits nicht jede Beziehung erst mal durch Misstrauen zu belasten?

Vertrauen ist ja keine Einbahnstraße, sondern es basiert auf Vertrauenswürdigkeit. Mein Gegenüber erweist sich dann als vertrauenswürdig, wenn es Grenzen wahrt, wenn es ein paar Regeln einhält und sensibilisiert ist und ich dieses Signal wahrnehme. Damit ich vertrauenswürdig sein kann, braucht es den Kinderschutz, denn Kinderschutz ist Mitarbeiterschutz. Und es braucht Absprachen und Regeln.

Wenn die Gemeinde oder Mitarbeiterleitung es versäumt, Erwartungen zu formulieren, dann besteht die Gefahr, dass jeder jedem vertraut, und das ist eine ungute Art des Vertrauens. Es ist ein k.o. für einen Hauptamtlichen, wenn einem etwas angehängt wird. Deshalb muss ich als Hauptamtlicher oder Mitarbeitender sensibel sein für Regeln und für Situationen. Das kann man als Chance begreifen – oder denken: „Oh nein, ich muss mich verändern!“ Für mich ist Veränderung jesusmäßiges Leben. Jesus hat das selbst vorgelebt, hat Grenzen geachtet, und ich glaube, all seine Aussagen über Nächstenliebe betreffen bei uns den ganz normalen Umgang mit Kindern, mit dem anderen Geschlecht und mit den Menschen um uns herum.

Die Fragen stellte Christiane Henrich, Redaktionsleiterin von SevenEleven.

Kinder- und Jugendschutz: Hotlines und Beratungsmöglichkeiten (–> Link).


Christian Rommert
Foto: privat

Christian Rommert ist Pastor im Bund Evangelisch- Freikirchlicher Gemeinden (BEFG). Er lebt in Bochum und arbeitet als Berater in der Förderung von Führungskräften und Unternehmen. Gleichzeitig engagiert er sich dafür, dass kreative und sichere Gemeinden für Kinder gestaltet werden. Er ist Buchautor, und spricht „Das Wort zum Sonntag“ (ARD). Rommert hat die Initiative „Auf dem Weg zur Sicheren Gemeinde“ im Bund EFG maßgeblich gestaltet und gefördert. Bei diesem Thema liegt nach wie vor der Schwerpunkt seiner Beratungstätigkeit für Kirchen, Kindergärten, Schulen und Gemeinden. Seine Webseite: www.kinderschutz.media

Rommert SicherheitBuchtipps:
„Trügerische Sicherheit. Wie wir Kinder vor sexueller Gewalt in Gemeinden schützen“ von Christian Rommert, erschienen im Verlag SCM R.Brockhaus. Dieses Buch vertieft die Gedanken des Interviews. Alle Gemeinden und Mitarbeitende, die sich in Kinder investieren, können hier noch mehr zum Thema „Sichere Gemeinde“ erfahren.

 

 

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