Es ist wohl schon immer sträflich gewesen, einen Künstler auf das zu reduzieren, was einem sofort aufleuchtet, hört man nur seinen Namen. Ähnlich geht es vielen mit Heinz Rudolf Kunze, bei dem sofort „Dein ist mein ganzes Herz“ (1985) einfällt. Doch das ist auch hier sträflich. Spätestens nach der Lektüre des Vorwortes von Oliver Kobold – übrigens mit Abstand der längste Text im Buch – wurde mir deutlich: hier ist soviel Potenzial und Tiefe zu finden, dass selbst diejenigen meiner Deutschlehrer im Gymnasium, die sich auf hoher literaturwissenschaftlicher Stufe sahen, einer größeren Schülerarbeit über dieses Werk nicht abgeneigt gewesen wären.
Kunze stellt hier 200 „Zeitgeschichten“ vor, die zwischen 2016 und 2019 entstanden und nach Entstehungsdatum sortiert sind. Lyrische Texte, oft Songtexten ähnlich, wechseln sich mit „Möglichst-Kurz-Geschichten“ ab. Wer sich zu sehr am Verlagsprogramm orientiert, wird überrascht werden: Nicht Gott oder Fragen an ihn präsentiert der Liedermacher. Auf einem Silbertablett präsentiert er das ganze Durcheinander dieser Welt: vom Durcheinander im Persönlichen bis hin zum Durcheinander in der Welt ist alles dabei. Nicht selten ist auch Unverständnis, Kritik und Wut des eigenen „Ich“ des Erzählers zu erkennen: auf das fehlende politische Engagement, das für Kunze wohl wie ein feiges Davonschleichen vor eigener Verantwortung und Wunsch nach einem einfachen „sich durchschlawineren“ wirkt. Das eigene „Ich“ des Erzählers verzweifelt an Trumps Wählerschaft sowie allem rund um die Sozialen Netzwerke. Dieses verzweifelt ebenso an den alltäglichen Situationen, in denen Menschen, auch das eigene Ich des Erzählers versagen. Wer hier ein Momentum des Christlichen sucht, das am besten die (Er-)Lösung bringt, wird nicht fündig. Es gibt nur einen Aufruf: „Werdet Elite!“, so ein Text.
Was hätte meine Deutschlehrer begeistert? Die Wortneuschöpfungen, das Ausbrechen aus den derzeitigen Satzbildungsregeln, bewusst gewählte Schreibungen. Dadurch entsteht ein neuer Blick auf die Wirklichkeit um uns und gräbt die Wahrheit ein wenig besser aus dem Dreck, in der sie nach Kunze liegt.
Von Björn Röhrer-Ertl