- Werbung -

Nächstenliebe: Ist es egoistisch, auch mal Nein zu sagen?

Ist es lieblos und egoistisch, wenn ich meine Bedürfnisse wahr- und ernstnehme und mich von denen anderer abgrenze? Sandra Wright musste sich gezwungenermaßen mit dieser Frage auseinandersetzen.

„Menschen mit klaren Grenzen sind die liebevollsten Menschen auf Erden“, habe ich unlängst gelesen. Kann das wirklich sein? Ist es nicht egoistisch, Grenzen zu setzen? Lebe ich dann nicht für mich statt für Gott? Können mich dann andere Menschen noch lieben, wenn ich plötzlich auch mich selbst wichtig nehme? Oder ist es vielleicht nur ehrlich, wenn ich sage, was ich brauche? Wenn ich anerkenne, wie weit ich willig oder auch fähig bin zu geben – und wie weit auch nicht? Je klarer ich mir darüber bin, was meine Aufgabe ist und was nicht, desto klarer kann ich mit meinem Ja und mit meinem Nein auf die Anforderungen reagieren, die an mich gestellt werden.

- Werbung -

Ein besserer Mensch

Ich lernte das auf die schwierige Art vor ein paar Jahren, als ich eigentlich alles erreicht hatte: Ich hatte eine tolle Familie, einen Mann, den ich liebte, ein gut gehendes Unternehmen, und wir lebten an einem wunderschönen Ort. Ich konnte das jedoch überhaupt nicht genießen. Denn ich war wie eine Getriebene. Getrieben von den Anforderungen, von denen ich das Gefühl hatte, dass sie mich bis in jede kleinste Zelle meines Körpers verfolgten. Und statt zu sagen: „Ich kann nicht mehr“, versuchte ich schneller und schneller und schneller zu laufen. Ich versuchte, es allen recht zu machen: meinen Klienten, meinen Eltern, meiner Familie. Schließlich wurde ich krank, und ich wusste, es musste sich etwas ändern. Ich musste Jesus noch besser kennenlernen.

Was mir nicht klar gewesen war: Grenzen setzen ist nichts Aggressives. Es bedeutet nicht, dass ich jemand anderem etwas wegnehme oder dass ich ihn einschränke. Bei sich zu bleiben ist etwas zutiefst Gesundes, Normales und Notwendiges. Es ließ mich ein besserer Mensch sein und gab mir die Möglichkeit, noch klarer Ja zu Gottes Auftrag in meinem Leben zu sagen. Ich konnte vertrauen, das nicht ich für alles zuständig bin, sondern Gott! Ich musste lernen, Ja zu mir, meinen Bedürfnissen und Begrenzungen zu sagen. Damit war das Risiko verbunden, dass andere es nicht verstehen würden oder enttäuscht sein könnten! Aber ich musste lernen zu sagen: „Ich selbst bin mir auch wichtig.”

„Gott selbst hat dem Volk Israel Grenzen gesetzt“

Heiliger Raum

Ich erkannte, dass Gott zwar ohne Begrenzungen ist, wir jedoch in unserer Menschlichkeit sehr wohl mit Grenzen und Begrenzungen leben und diese sogar ein Schutz für uns sind. In der Bibel sind Grenzen heilig. Gott selbst hat dem Volk Israel Grenzen gesetzt. Heilig waren aber auch die Grenzen zwischen den Menschen des Volkes Israel. Immer wieder warnt das Buch der Sprüche, die Grenzsteine nicht zu versetzen (Sprüche 22,28 und 23,10). Im 5. Buch Mose befiehlt Gott den Israeliten: „Du sollst die Grenzen deines Nächsten nicht verrücken.“ Grenzen definieren uns und unser Eigentum. Sie lassen keinen Zweifel darüber, was ich bin und was nicht. Eine Grenze zeigt mir ganz klar, dass ich hier ende und jemand anderes beginnt. Grenzen schützen uns auch. Zur Kultur des menschlichen Zusammenlebens gehört das Beachten der Grenzen. Wer sich ständig auf Kosten des Nachbarn breit macht, missachtet ihn.

Auch für die Seele ist die Einhaltung der äußeren Grenze wichtig. Damit der Mensch nicht innerlich zerfließt, sondern seine Identität bewahrt, braucht er den Schutz der Grenzen. Es gibt auch in mir einen heiligen Raum, zu dem andere Menschen mit ihren Erwartungen und Ansprüchen keinen Zutritt haben. Diesen inneren Raum muss ich schützen.

Überall gibt es Grenzen

Ein Haus ist umgeben von Mauern, die sagen: Hier beginnt und hier endet mein Eigentum. Ab hier bin ich verantwortlich für das, was passiert. Seine Mauern schützen mich aber auch vor Wind und Wetter. Unser Körper ist begrenzt von Haut. Diese hält unsere lebenswichtigen Organe, Blutgefäße und Knochen zusammen. Gleichzeitig hält sie Keime außerhalb unseres Körpers und schützt uns so vor Infektionen. Ein Baby lernt über Hautkontakt, dass es separat von Mutter und Vater ist, die mit ihm kuscheln und es liebkosen.

Doch es gibt noch viele andere Begrenzungen: Unser Tag hat 24 Stunden. Wir können nur an einem geographischen Ort zu einer Zeit sein. Und wir leben in einem Körper, der immer wieder mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt werden muss.

„Jesus lebte offensiv und war proaktiv“

Jesus und seine Grenzen

Wie ging eigentlich Jesus mit diesem Thema um? Jesus hatte persönliche Bedürfnisse, denen er auch Priorität gab und die er manchmal sogar über die Bedürfnisse anderer stellte. Und er tat das ohne Schuldgefühle. In erster Linie trennte er sich von anderen Menschen, um allein mit Gott zu sein und sich um seine Seele zu kümmern. Wo wären wir, wenn er das nicht getan hätte?

Jesus lebte einen Lebensrhythmus, der ihn nicht ausbrennen ließ, sondern der ihn im Gegenteil voll von Gott, voll von Gnade und Wahrheit sein ließ. Gerade deshalb hatte er genug Ressourcen, um mitfühlend und großzügig zu sein, wenn es unvorhergesehene Ereignisse und Krisen gab.

Jesus war nicht immer nett

Jesus lebte nicht defensiv, indem er nur reagierte und dabei müder und müder wurde, bis er irgendwann nicht mehr konnte. Im Gegenteil: Er lebte offensiv und war proaktiv, indem er konstant in seine Beziehung zu Gott investierte. Das gab ihm Energie und half ihm, bei sich und seiner Aufgabe zu bleiben.

Jesus war auch nicht immer „nett“ zu Menschen. Er tat oft nicht das, was sie von ihm erwarteten, und er half auch nicht allen. Und wann immer er anderen Menschen half, erwartete er von ihnen, dass sie auch ihren Teil dazu beitrugen. Den Gelähmten am Teich Betesda fragte er provokant: „Möchtest du gesund werden?“ Dann sollte dieser seine Matte nehmen, aufstehen und gehen. Er musste sich selbst motivieren und Verantwortung für sich übernehmen (Johannes 5,1-14). Die Blinden am Weg nach Jericho fragte er, was er für sie tun sollte. Sie mussten konkret benennen, was sie brauchten. Und sie mussten ihm vertrauen (Matthäus 20,29-34).

Jesus sagte Nein

Jesus sagte Nein zu unangemessenem Verhalten. Er distanzierte sich von Fangfragen, Zynismus, Missbrauch, Anspruchsdenken, Manipulation und Stolz. Sogar als seine Mutter und Brüder deren Familienbeziehung zu ihm nutzen wollten, um ihn von der Menge zu ihnen zu ziehen, ging er darauf nicht ein (Matthäus 12,46-50). Jesus sagte ganz klar die Wahrheit. Er vertrieb die Kaufleute und Geldwechsler aus dem Tempel, die Vorteil aus den Armen zogen und Gottes Haus in eine Markthalle verwandelt hatten (Johannes 2,12-16). Dem reichen Jüngling sagte er, dass er ihm nicht helfen könne, solange er nicht bereit war, die Sucht nach Geld, die ihn bestimmte, aufzugeben (Matthäus 19,16-21). Gleichzeitig umgab sich Jesus ganz bewusst mit Menschen, die ihm gut taten, die für ihn waren (Matthäus 26,36-38).

Diese Aspekte in Jesu Leben haben mich gelehrt, dass es nicht nur gesund, sondern sogar heilig sein kann, Nein zu Menschen zu sagen, ihre Erwartungen und Ansprüche nicht immer zu erfüllen. Dass es richtig sein kann, unwillkommene und unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Und dass ich vor allem meine persönlichen Grenzen kennen und akzeptieren muss. Ich kann nicht die ganze Welt retten.

„Sie hat mich eingeladen, mein Leben neu zu betrachten“

Chance für Wachstum

Auch Gott setzt uns Grenzen. Es ist ein Zeichen von Demut, zu den Grenzen, die Gott mir gesetzt hat, Ja zu sagen. In meiner Fantasie bin ich grenzenlos. Doch wenn ich meine Ideen verwirklichen möchte, stoße ich oft an Grenzen.

Wenn wir noch einmal an unsere Immobilie denken: Diese hat eine bestimmte Größe, Lage und einen Zweck. Eine kleine, gemütliche Hütte am Strand wird keine Großveranstaltung beherbergen. Im Gegenteil, eine Großveranstaltung würde sie kaputt machen. Dafür benötigt man eine Halle. Doch würden Sie gern in einer Halle wohnen? Unterschiedliche Immobilien haben unterschiedliche Bestimmungen. Wir sollten unsere Bestimmung und unsere Aufgabe kennen, dann können wir einerseits diese Aufgabe besser erfüllen und wissen andererseits auch genauer, was wir uns zumuten können und was nicht. Auch mit größtem Zwang und Stress wird aus der Strandhütte keine Halle werden!

Grenzen bringen uns weiter

An unseren Grenzen erfahren wir, wer wir sind. Grenzerfahrungen, die uns an die Grenze unserer Belastbarkeit führen, können uns zwar bedrohen. Es war nicht schön, krank durch Überlastung zu werden. Aber zugleich war meine Grenzerfahrung eine riesige Chance für Wachstum. Sie hat mich eingeladen, mein Leben neu zu betrachten, mir neu zu überlegen: Wie will, wie kann ich mit mir, mit meiner Familie, mit meiner Arbeit, mit meinen Eltern, mit meinen Mitmenschen umgehen? Was genau ist eigentlich meine Aufgabe im Leben und was nicht? Gibt es vielleicht Aufgaben in meinem Leben, die ich abgeschlossen habe? Oder welche, die ein anderer übernehmen kann?

Grenzerfahrungen laden uns ein, neue Lebensmöglichkeiten zu entwickeln. Sie zwingen mich, über mich und meine Möglichkeiten nachzudenken. Ich kann dagegen anrennen und damit schlimmstenfalls mit dem Leben bezahlen. Ich kann sie verdrängen und einfach so dahinleben. Dann wird mein Leben langweilig und sinnlos. Ich kann mich auch den Grenzen in meinem Leben stellen und mich an ihnen reiben. Das tut oft weh. Es erzeugt aber auch eine Spannung. Eine Spannung zwischen dem Akzeptieren der Grenzen und dem Hinauswachsen. Mich haben sie letztendlich auf Gott verwiesen.

Sandra Wright ist Physiotherapeutin und lebt mit ihrer Familie in Tullnerbach.


Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift Family erschienen, die wie Jesus.de zum SCM Bundes-Verlag gehört.

Zuletzt veröffentlicht