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Deutsche Einheit: Wie die Mauer in den Köpfen der Generationen weiter lebt

Heute ist der 23. Tag der Deutschen Einheit – für viele ein arbeitsfreier Tag, für andere Bananenparty-Tag. Und für die meisten deutschen Bundesbürger vor allem eins: ein Tag der Erinnerung. Denn ganz egal ob vor oder nach der Wende geboren: In vielen Köpfen lebt die Mauer weiter.

Mit drei „Ossis“ und drei „Wessis“ sind wir zwar ein Beispiel für eine gelungene Wiedervereinigung. Trotzdem gehören Klischees, Witze und Vorurteile nicht selten zum Büroalltag. Wir lassen euch an unseren Gedanken über den Tag der Einheit teil haben.

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Mirjam Benecke hat die Wiedervereinigung um vier Jahre verpasst

Erste Kindheitserinnerung: mein dritter Geburtstag, ein sonniger Herbsttag im Jahr 1997. In meiner kleinen Faust halte ich einen heliumgefüllten Sesamstraßenballon. Ich bin glücklich in meinem Kleinkind-Universum. Plötzlich ein unaufmerksamer Moment und das Ernie-Gesicht steigt lachend hinauf in den blauen Himmel, hoch über das Haus und den Wald, der ehemals Grenzgebiet war. Als meine Eltern die Ballonflucht bemerkten, kam jede Rettung zu spät. „Der ist längst im Westen. Den holen wir nicht mehr ein“, stellte meine Mutter resigniert fest.

„Im Westen“… Worte, die ich nur zu gut kannte. Lucky Luke, meine erste große Liebe, ritt durch den (wilden) Westen. Meine Schwester studierte im Westen. Später zogen die Brüder nach. Irgendwo hinter dem Wäldchen vor unserem Haus begann dieser Westen, der mir alles genommen hatte: meinen Kindheitshelden, meine Geschwister und (am schmerzhaftesten) meinen Ballon.

Kein Wunder also, dass auch ich mich nach dem Abitur auf in den Westen gemacht habe um sie alle wiederzufinden – und wieder zu vereinen. Dabei landete ich aber weder in der Prärie, noch bei meinen Geschwistern, sondern im Ruhrpott – bei jesus.de.

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Heute feiere ich also meinen ersten Tag der deutschen Einheit als “Ossi“ im Westen. Und bin froh. Denn ich habe nicht nur die Freiheit zu wählen, wen ich will und zu gehen, wohin ich will. Ich darf auch glauben, was ich will. Keine Selbstverständlichkeit.
Konfirmation und Taufe waren im Osten verpönt. Getauft wurden vom SED-Staat nur die Engel. Und zwar auf den Namen „Jahresendfigur mit Flügeln“. Auch heute noch sind Fischaufkleber auf Autos „bei uns“ ein halbes Weltwunder und Menschen, die beim Beten aufstehen und die Arme hochreißen – das kannte ich bisher nur aus den Joyce-Meyer-Videos meiner Oma.

Zwar sind wir jetzt ein „einig Vaterland“, aber längst kein Einheitliches. Selbst über 20 Jahre nach der Wiedervereinigung verdienen Arbeitnehmer im Osten teils bis zu 33 Prozent weniger als ihre westlichen Kollegen. Auch glaubensmäßig klaffen große Unterschiede auf.

Nur jeder Vierte glaubt heute in den neuen Bundesländern überhaupt an einen Gott. In den alten Bundesländern sind über zwei Drittel von einer Gottesexistenz überzeugt. Doch was soll man erwarten, wenn über 40 Jahre lang Honecker-Gemälde anstatt Kreuze in den Klassenzimmern hingen? Christ sein in der DDR war unbequem, Religion passte nicht ins Staatskonzept. Alle Menschen sind gleich, hieß es im Sozialismus. Und doch waren Christen immer ein bisschen ungleicher als alle anderen.

Darf ich mir jetzt noch was zum Tag der Deutschen Einheit wünschen? Ich wünsche mir vom Einheitsmann (der antikapitalistische Bruder vom Weihnachtsmann) eine Lohngleichheit zwischen neuen und alten Bundesländern. Damit auch eine Kleinstadt im tiefsten Osten neue Pfarrer und Lehrer anzieht. Ach ja, und dann hätte ich gerne noch meinen Luftballon zurück!

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Micha Knodt ist waschechter Bayer und 1992 geboren

Es gibt Momente im Leben eines Journalisten, an denen man sich die Frage stellt, warum man diesen Job unbedingt haben wollte. Einen Text über den Tag der deutschen Einheit schreiben!? Ich bin im Westen aufgewachsen. Oder, noch schlimmer, in Bayern. Was interessiert mich da der 3. Oktober? Und vor allem, was soll ich darüber schreiben? Wurde ohnehin schon alles gesagt. Als Wessi gehören mir ja eh alle Straßen im Osten. Warum soll ich jetzt auch noch Aufbauarbeit durch „Juppeidi, wir sind wiedervereinigt“-Texte leisten?

Ihr merkt schon, geschichtliche Dramatik und historische Dimension des Mauerfalls gingen an mir vorbei. Das mag daran liegen, dass in meiner Kindheit immer galt, dass der Fall der Mauer zwar gut war, „uns im Westen“ aber auch eine Menge Geld gekostet hat. Außerdem gibt’s drüben Nazis in Landtagen und Arbeitslose, die dauernd sagen: „Uns ham se doch belogen und betrogen“. Die Mauer ist also weg, aber da ich mich auch landschaftlich nie für den Osten interessiert habe, war’s mir egal.

Ich erlebte meinen persönlichen „Mauerfall“ erst, als ich in eine WG nach Nordrhein-Westfalen zog. Eine meiner Mitbewohnerinnen kam aus Sachsen, hatte es aber geschafft, ihren lustigen Dialekt abzulegen. Okay, als Bayer sollte ich zu diesem Thema besser schweigen. Entgegen meiner Erwartung verstanden wir uns ziemlich gut. Und wir konnten uns großartig aufziehen, indem wir gegenseitig die Klischees des anderen bedienten. Gespielte Intoleranz bringt großartige Wortgefechte hervor.

Wir fuhren sogar zusammen in den Osten, auf eine Party. Spätestens seit diesem Tag weiß ich, dass die Sachsen die nettesten Deutschen sind. Und die Unkompliziertesten. Und die, die Bayern am wenigsten mögen. Danke, dass ihr für mich eine Ausnahme gemacht habt! Wir mögen euch ja eigentlich auch nicht. Aber was zusammengehört, muss eben zusammenwachsen. Manchmal tut’s weh, meistens macht’s zum Glück Spaß. Frohen 3. Oktober! Schön, dass ihr da seid!

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Henrike Fischer lag noch im Kinderwagen, als die Mauer fiel

„Wie verwendet man eine Banane als Kompass? Wenn man sie auf eine Mauer legt, ist Osten dort, wo die Banane abgebissen ist.“ Ein ganzes Jahr lang höre ich mir Witze über Bananen an. Am 3. Oktober werden sie mir geschenkt: Es ist Bananenpartytag. Der Tag, an dem ich mit meinen Freunden feiere, dass ich im Westen leben darf. Nur Weihnachten und die Semesterferien verbringe ich noch im Osten, meiner Heimat. Denn seit vier Jahren bin ich nicht mehr nur „Mauerkind“, sondern auch „Mischkind“, als Ossi ins Wessiland gezogen.

Oberlausitz, Franken, Ruhrpott: die bisherigen Stationen meines Lebens. Seitdem hat der Tag der Deutschen Einheit für mich eine ganz neue Bedeutung. Ich lebe in zwei Gesellschaften, die seit 23 Jahren vereint sind und doch gegensätzlicher kaum sein könnten. Denn irgendwo, tief verankert, lebt sie noch immer in den Köpfen – die Mauer. Heute wie damals scheinbar unüberwindbar.

Mauerkind? Stimmt so nicht ganz. Im Juli 1990 geboren, habe ich den Fall der Berliner Mauer nur im Bauch miterlebt. Den ersten Tag der Einheit habe ich größtenteils schlafend zugebracht. Und dass Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Dezember 1990 in meinen Kinderwagen schaute und nach meinem Namen fragte, weiß ich nur aus Erzählungen meiner Eltern. Vor allem die ersten Jahre nach der Wende haben mich trotz gefallener Mauer ossitechnisch geprägt: kein Fernseher, kein Telefon, kein Auto. Ich freute mich noch über Pakete unserer westdeutschen Verwandtschaft mit Süßigkeiten und Spielzeug. Und die Klamotten meiner älteren Brüder begleiteten mich bis in die Teeniezeit.Trotzdem bin ich froh, in der DDR geboren zu sein: in Sachsen. Tief im Osten. So tief, dass wir zum Tanken mal eben über die Grenze nach Polen fahren. Da, wo Sandmännchen herkommt, wo meine Freunde Mandy und Cindy heißen, wo die Busse, wenn überhaupt, einmal stündlich kommen. Aber auch da, wo die Städte aussterben, die jungen Menschen wegbleiben, wo es grau und trist ist, die Leute einfältig und mürrisch sind. Und komisch reden. So zumindest denken viele meiner westdeutschen Freunde über meine Heimat. Dabei waren die meisten von ihnen nie dort. Es fehlt ihnen das Interesse, den Osten kennenzulernen.

Wieso gerade ich weg bin? Ich wollte etwas sehen von der Welt und von Deutschland. Nicht selten erzählen mir meine Eltern, wie gut ich es doch hätte. Dass ich dahin reisen darf, wo ich will. Da wohnen kann, wo ich will. Also bewarb ich mich in einer Stadt, von der ich noch nie gehört hatte. Und landete in Witten, direkt im Ruhrpott. Mit dem gut gemeinten Ratschlag, kein Wessikind zu werden, ging es auf gen Westen. Ein kleiner Schritt für mich, ein Meilensprung in der Geschichte, und für meine Eltern auch heute noch keine Selbstverständlichkeit.

Das meiste meines Dialekts habe ich schnell verlernt. So dauerte es auch nicht lange, dass ich zum ersten Mal als Wessi abgestempelt wurde. Das beleidigte mich. Und ich war genervt über die Vorurteile meiner Freunde, die ich einst selbst im Kopf hatte. Menschen, die in den Westen zogen, wurden innerhalb kürzester Zeit zu Wessis – Lebemenschen, die gerne präsentieren, was sie haben. An Gesprächen dieser Art kommt man nicht vorbei. Egal, ob in der Schule, in der Freizeit oder zu Hause: Man ist mit Vorurteilen aufgewachsen. In meinem Heimatort munkelt man noch heute, wer der Stasi angehört haben könnte. Als Raumausstatter erzählte mein Vater mir oft, dass man mit dem Gewerbe im Westen fehl am Platz wäre. Denn die Wessis schmeißen ihre Möbel lieber raus und besorgen sich neue. Im Osten hingegen hängen die Menschen an ihrem Besitz, wissen, wie lang sie sparen mussten, um sich ihr Hab und Gut finanzieren zu können.

Vorurteile, die mich heute stören. Denn seit vier Jahren kenne ich beide Welten Deutschlands. Und ich weiß: Mürrische Menschen gibt es überall. Es gibt überall Dialekte, die sich doof anhören. Überall trostlose Gegenden. Menschen, die Geld besitzen und ihre Möbel wegschmeißen. Und es gibt überall Bananen. Doch die Mauer lebt weiter. Selbst in den Köpfen der Mauerkindgeneration. Solange auf beiden Seiten das Interesse fehlt, etwas daran zu ändern, werden wir auch weiterhin ein geteilter Staat bleiben. Aber bis dahin bleibt der dritte Oktober auch mein Bananenpartytag. Der Tag, an dem sich meine Freunde darüber freuen, dass ich in den Westen reisen darf. Und wo sich die ganze Bevölkerung, egal ob Ost oder West, wieder einmal bewusst wird, dass es im Grunde doch gut ist, dass wir eine wiedervereinte Nation sind. Zumindest für diesen einen Tag.

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Daniel Wildraut war bei der Wiedervereinigung 22 Jahre alt

Der „Tag der Deutschen Einheit“ berührt mich emotional wenig. Sehe ich dagegen Bilder vom Jubel in der deutschen Botschaft in Prag oder vom Mauerfall, kommen mir auch heute noch regelmäßig die Tränen. In meinem Bücherregal liegen eine Handvoll kleiner Bruchstücke der Mauer – sogar mit Graffiti! Ein Freund ist damals mit Hammer und Meißel losgezogen und hat sie mir besorgt. Erinnerungen an einen historischen Herbst. Auch für mich hier im Westen, im Ruhrgebiet.

Der Fernseher im Wohnzimmer meiner Eltern lief pausenlos in jenen Wochen im Herbst 1989. Gebannt verfolgten wir die friedliche Revolution, die Entmachtung der SED, die niemand für möglich gehalten hatte. „Die Mauer wird niemals fallen“, hatte mir ein Bekannter, selbst DDR-Bürger, noch im Frühjahr 1988 erzählt, als ich ihn in Ostberlin besuchte. Er hatte sich geirrt – Gott sei Dank! Niemals werde ich vergessen, wie wir in der Nacht auf den 10. November 1989 nach Stunden endlich telefonisch eine gute Freundin meiner Mutter in Ostberlin erreichten. Ihr Sohn, der mir später die Mauersteine besorgte, hatte sich da schon zum Feiern Richtung Ku’damm abgesetzt.

Drei Monate nach dem Mauerfall fuhr ich mit einem befreundeten Pfarrer nach Chemnitz (ehemals Karl-Marx-Stadt) zum „1. Gemeinde-Wachstumstag Ost“. Alles war spontan organisiert, klein und schlicht. Zu den Referenten zählte unter anderem Kai Scheunemann, später pastoraler Leiter der Andreasgemeinde in Niederhöchstadt. Wir zwei übernachteten beim Pfarrer der Ortsgemeinde mit Isomatte und Schlafsack auf dem Wohnzimmerboden.

Unser Gastgeber hat mich sehr beeindruckt – mehr als der Kongress an sich. Trotz aller Repressalien, obwohl die Stasi selbst seine Kinder auf dem Weg zur Schule beschatten ließ und seine Wohnung mit Ferngläsern und Teleskopen observierte, stand er treu zu seinem Glauben und seinem Dienst. Geprüfter und bewährter Glaube. Immer wieder schien er sich beobachtet zu fühlen, sprach oft leise und zurückhaltend. Dann jedoch, von einem Augenblick auf den andern, wischte er mit einer Handbewegung die Vergangenheit beiseite, lächelte, und redete völlig frei und offen. Erst Jahre später, als ich ihn bei einem Kongress in Nürnberg wiedertraf, war er auch innerlich in der politischen Freiheit „angekommen“.

Zurück zum Beginn, zurück zum Thema „Einheit“. Formell betrachtet haben wir da als Familie „Starthilfe“ geleistet. Meine Schwägerin stammt aus Sachsen-Anhalt, ihr Mann ist ein „Wessi“. Weiter: Ich kenne mehr Ostfriesen- als „Ossi“-Witze. Zugegeben, in Leipzig, Magdeburg oder Rostock bin ich noch nie gewesen, allerdings auch nicht in Ulm, Mainz, Kiel oder auf Schloss Neuschwanstein. Sächsisch klingt für mich nicht fremdartiger als Bayerisch. Genügt das?

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