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Moderne Sklaverei: 50 Millionen Menschen betroffen – aber es gibt Hoffnung

Das christliche Hilfswerk International Justice Mission (IJM) kämpft gegen moderne Sklaverei. Ihr Vorsitzender Dietmar Roller hält es für möglich, sie bis 2030 zu beenden.

Herr Roller, die moderne Sklaverei hat viele Gesichter. Wie blickt jemand, der sich täglich damit beschäftigt, beispielsweise auf die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar mit ihren Tausenden Arbeitsmigranten?

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Dietmar Roller: In Katar sehen wir ein altes kapitalistisches System am Werk, das Normen vorgibt für Menschen aus anderen Ländern, die als migrant worker ins Land kommen. Positiv muss man sehen, dass dahinter Millionen Familien in den Ländern des globalen Südens stehen, die durch die Arbeit ihr Auskommen haben. Die andere Seite ist, dass man den Menschen verkapitalisiert, seinen Körper zur Ware macht. Und es gibt keine moralischethischen Rahmenbedingungen, die die Menschen schützen.

Wir wissen zum Beispiel nicht, wie viele von ihnen später noch in ihrer Heimat an Nierenversagen sterben, weil es durch die brutale Hitze und schwere Arbeit zu massiven Nierenschädigungen gekommen ist. Dazu kommt die Geldgier der FIFA, wo man ebenso merkt, dass hier ein Kapitalismus ohne ethische Rahmenbedingungen auftritt. Die Geldmaximierung im Sport sorgt dafür, dass man über Bestechung – anders kann man es nicht sagen – Spiele vergibt, die so nicht hätten vergeben werden dürfen.

Neben den Männern auf dem Bau sprechen wir hier auch von vielen Frauen aus Süd- und Südostasien und vermehrt auch aus Afrika, die in den Haushalten verschwinden und unter erbärmlichsten Bedingungen ausgebeutet werden, auch sexuell.

In Berlin etwa hat sich das Personal in den Bordellen komplett verändert: Wo vorher viele Frauen aus Rumänien waren, sind jetzt viele Frauen aus der Ukraine.

Dietmar Roller

Ein anderer Fall von – sexueller – Ausbeutung lässt sich beobachten im Zusammenhang mit Frauen, die aus der Ukraine geflohen sind.

Roller: Richtig. Wir wissen generell: Menschen auf der Flucht sind besonders verletzlich. Und wenn jetzt viele erschöpfte Frauen und Kinder aus der Ukraine kommen, deren Männer in der Heimat kämpfen, dann ist die Gefahr groß, dass diese Situation brutal ausgenutzt wird. Dann sagt jemand zu den Frauen: Du kannst bei mir wohnen, kriegst alles umsonst – und wenn die Frauen das dankbar annehmen, folgt häufig eine sexuelle Ausbeutung.

Es gibt sehr starke Indikatoren für Zwangsprostitution. In Berlin etwa hat sich das Personal in den Bordellen komplett verändert: Wo vorher viele Frauen aus Rumänien waren, sind jetzt viele Frauen aus der Ukraine. Wir haben als IJM auf TikTok Aufklärungskampagnen gestartet – und es ist erschütternd, was wir da an Rückmeldung von Frauen kriegen. Das ist eine hochgefährliche Konstellation! Viele Frauen sind so in Not, dass sie sich auf solche Angebote einlassen.

TikTok hätte ich nicht mit einer Aufklärungskampagne verbunden …

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Roller: Ja. Aber ganz viele Menschen haben das auf ihrem Handy installiert …

Um das Phänomen etwas besser zu fassen: Aktuell ist die Rede von 50 Millionen Menschen, die Opfer moderner Sklaverei sind.

Roller: Ja. Die Zahlen werden alle zwei bis drei Jahre über den Global Slavery Index und die International Labour Organization ILO aktualisiert. Die Zahl von 50 Millionen stammt jetzt vom November.

Wann spricht man überhaupt von „Sklaverei“?

Roller: Nach dem internationalen „Palermo-Protokoll“ von 2000 spricht man von Sklaverei, wenn Personen unter Androhung von Gewalt, Vorspiegelung falscher Tatsachen, unter Wegnahme des Passes und der Freiheit für andere arbeiten müssen und nicht mehr aus diesen Verhältnissen herauskommen und der Körper der Menschen zur Ware wird. Man nimmt ihnen alles und setzt sie ein zur Ausbeutung für den eigenen Gewinn, die eigene Lust oder Macht.

Es ist ein extrem lukrativer Markt, der sich in rechtsfreien Räumen abspielt. Die Menschen darin haben keinen Zugang zum Rechtssystem, zur Gesundheitsversorgung oder anderes. Ich spreche immer von dem Chamäleonhaften der Sklaverei: Sie versteckt sich, man sieht sie nicht.

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Sexuelle Ausbeutung von Kindern im Livestream

Und sie ist vielschichtig. Man findet sie eben in Zwangsprostitution, Schuldknechtschaft, bei der Ausbeutung von Migranten oder auch Rohstoffen … Gibt es dabei besonders schwerwiegende Bereiche?

Roller: Was ich mit am belastendsten finde, ist die sexuelle Ausbeutung von Kindern im Livestream. In Deutschland und Europa sind es immer Männer, die, sagen wir 100 Dollar, über einen Geldversender überweisen an einen Mittelsmann oder eine -frau – die ihnen dafür ein Kind vermitteln. Für eine Stunde darf der Mann in Europa dann sagen, was mit dem Kind geschehen soll. Da kommt es zu allerschwersten sexuellen und anderen Missbrauchsfällen; das rührt einen tief an.

Bei Aaron war der Fall besonders schwer: Sein Vater ist Deutscher, die Mutter Filipina – und der Vater hat ihn extra auf den Philippinen gezeugt, für die sexuelle Ausbeutung! Aaron war erst zwei Jahre alt, als er mithilfe eines hochqualifizierten investigativen Netzwerks und der lokalen Polizei von uns befreit wurde. Heute lebt er in einer Einrichtung, erfährt eine intensive Traumabewältigung und kann in seinem Wesen tatsächlich heilen. Sein Vater ist auf den Philippinen zu lebenslanger Haft verurteilt worden.

Wenn man seit Jahrzehnten mit solchen Schicksalen konfrontiert ist – wie verkraftet man das?

Roller: Ich habe tatsächlich viele schwere Fälle gesehen. Mir helfen da mehrere Dinge: Einmal sehe ich hier von meinem christlichen Glauben her eine Berufung; ich bin da gut verankert. Das andere ist: Ich habe eine starke Hoffnung. Manche Dinge verändern sich rapide. In Südasien konnte in mehreren Fällen Schuldknechtschaft beendet werden. Es passiert etwas.

Durch unser globales Netzwerk bei IJM, unsere Öffentlichkeits- und Aufklärungsarbeit sehen wir, dass Regierungen das aufnehmen und sagen: Wir müssen etwas tun, die Gesetzeslage angesichts der Ausbeutung anpassen! Bei dem letzten G7-Treffen wurde diese Frage bei den Innenministern zum Thema. Das ist also auf der politischen Ebene angekommen.

Und schließlich: Ich treffe häufig Kinder, die aus der Sklaverei befreit wurden – und es ist einfach schön, wenn sie wieder lachen können, wenn sie eine Zukunft kriegen und Wunden heilen. Die Kinder werden ihre Narben immer mit sich tragen, deshalb ist es wichtig, dass sie gut integriert sind, um ein starkes, resilientes Leben aufzubauen. Das zu sehen, motiviert total!

150 Menschen befreit

Es gibt also Wege aus der Sklaverei, regelrechte „Erfolgs“-Geschichten?

Roller: Sehr viele. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Mich bewegt besonders die Geschichte der kleinen Sinatra aus Indien, deren Eltern schon versklavt waren und die selbst mit vier Jahren Steine im Steinbruch klopfen musste – wo sie irgendwann sterben sollte. Zusammen mit 150 anderen Leuten wurde sie befreit und kam in ein Kinderhilfsprogramm.

Dort hat sie zum ersten Mal in ihrem Leben Stifte in der Hand gehabt und ein Strichmännchen gemalt. Das ist für mich eines der schönsten Kunstwerke, das ich kenne! Gemalt in Freiheit. „Sinatra“ bedeutet so viel wie „lebensfunkelnde Augen“, „Sterne“. Und diese Freude in ihren Augen begleitet mich in vielen schweren Situationen.

Oder nehmen wir den Fall von Chris, in Ghana, am „Lake Volta“. Kinder, oft nicht älter als vier Jahre, werden dort verkauft an Fischer und sind ihrem „Master“ auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. In dem größten Stausee der Welt sind viele Bäume überflutet, die Netze verheddern sich oft darin. Die Kinder werden dann über Bord geworfen und müssen die Netze wieder befreien, eine gefährliche Arbeit, bei der immer wieder Kinder sterben. Im Normalfall fahren die Boote um Mitternacht raus, kommen am Nachmittag zurück, dann müssen noch die Netze geputzt werden. Die Kinder leisten eine Arbeit, die eigentlich für Erwachsene zu hart ist!

Fünf Jahre lang hat Chris das gemacht, bevor er im März 2021 befreit wurde. Er kam in unsere Reha speziell für diese Jungs, dort hab ich ihn getroffen. Er bekommt psychologische Betreuung und kann jetzt zur Schule gehen. Die Kinder fiebern zum Teil jeden Tag darauf hin! Für die ist Schule wie Weihnachten. (lacht) Und man merkt, wie so ein Leben aufblüht, wenn es auf einmal sein Potenzial entfalten kann.

„Noch nie waren die Rahmenbedingungen, Sklaverei zu beenden, so gut wie heute. Im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten ist Sklaverei heute auf der ganzen Welt strafbar.“

Dietmar Roller

Demnach ist ein großer Satz von Ihnen gerechtfertigt: „Sklaverei kann ein für alle Mal beendet werden“?

Roller: Ja. Noch nie waren die Rahmenbedingungen, Sklaverei zu beenden, so gut wie heute. Im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten ist Sklaverei heute auf der ganzen Welt strafbar.

Wir merken, dass man in den rechtsfreien Räumen, in denen moderne Sklaverei sich versteckt, Veränderungen erreichen kann, indem man Täterinnen und Täter zur Anklage bringt. Das hat einen Leuchtturm-Effekt, bringt Licht ins Dunkel. Sobald es zu zwei, drei Verurteilungen kommt, bricht die Straflosigkeit zusammen. Dann werden die Geschäftsmodelle unattraktiv.

Und schließlich – da sind wir alle gefragt: Es ist wichtig, das Schweigen zu brechen. Solange man nicht über moderne Sklaverei redet, sie nicht öffentlich zum Diskurs macht, so lange bleibt sie im Verborgenen. In Deutschland kursieren Produkte im Wert von etwa 30 Milliarden Euro, die mit moderner Sklaverei „kontaminiert“ sind. Wir haben viel Einfluss über unser Konsumverhalten. Es gibt heute viele faire Produkte zu kaufen, die man vor 20 Jahren im Dritte-Welt-Laden irgendwo um zehn Ecken suchen musste. Wir können etwas verändern mit unserem Verhalten, wenn wir offensiv damit umgehen.

„Die Sklaverei bis 2030 zu beenden. Das ist keine Utopie.“

Dietmar Roller

Ich sage immer: Viele Menschen können das Gesicht der Welt verändern, wenn sie viele kleine Dinge richtig tun. Deshalb haben wir auch ein großes Ehrenamtsprogramm, mit über 1.000 Ehrenamtlichen allein in Deutschland, die genau das mit versuchen. Wir machen sensibel und merken, was für einen Einfluss das auch auf die Politik hat. Die Politik reagiert, wenn die Gesellschaft reagiert.

Von daher habe ich große Hoffnung, dass wir das SDG 8 (Sustainable Development Goal) der Vereinten Nationen erreichen: Die Sklaverei bis 2030 zu beenden. Das ist keine Utopie.

Vielen Dank für das Gespräch – und weiter den nötigen Mut für die Arbeit, unterfüttert durch viele wichtige Erfahrungen!

Die Fragen stellte Jörg Podworny.

Lesetipp: „Ware Mensch“ von Dietmar Roller und Judith Stein.


Ausgabe 1/23

Dieser Artikel ist in der Zeitschrift lebenslust erschienen. Lebenslust ist Teil des SCM Bundes-Verlags,

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1 Kommentar

  1. Wenn moderne Sklaverei endet…

    „Die Sklaverei ist 2030 beendet. Das ist keine Utopie.“! Dies hoffe ich auch, wenn auch an mir da letztlich ein wenig Zweifel nagen. Im übrigen halte ich die Befreiung und letztlich die Abschaffung auch unserer modernen Sklaverei für eine überaus christliche Aufgabe. In der Tradition von Moses stehend, der ein Werkzeug war für die Befreiung der Israeliten aus der Versklavung unter den Pharaonen, sind Menschen die sehr auf Gott hoffen immer (eigentlich) eine weltweite Befreiungsbewegung. Als Christinnen und Christen ist es auch unsere seelische Befreiung von der Sünde, die allesamt ans Kreuz genagelt damit völlig und unwiderruflich ungültig ist. Eigentlich müssten wir uns alle leicht fühlen wie ein Vogel, dass uns die hier völlig unnütze Mühe erspart bleibt, wie einst Martin Luther sich bemühte, es aber niemals gelang, auch über den eigenen langen Schatten zu hüpfen. Die Sklaverei und auch die Prostitution gilt es schlicht und einfach zu verbieten, und lediglich die hier missbrauchten Frauen nicht durch den Justiz zu bestrafen. Dazu gehören dann alle Erscheinungsformen von Knechtung, also auch der Lohnsklaverei und ebenso die unmenschliche Kinderarbeit bis hin auf Müllkippen in armen und großen Ländern. Was da der weltweite Fußball sich kürzlich leistete, soll mir nicht die Freude am Fußball vertreiben, aber nicht meinen heiliger Zorn auf die käuflichen und daher korrupten obersten Fußballfunktionäre. Doch bereits eine nicht gewährte Freiheit, also die Vorstufe zur Unfreiheit, dann folgend zur Sklaverei: Sie beginnt schon dort, wo wir uns so in das Licht stellen, dass der Mensch neben uns zwangsläufig im Schatten steht. Das Mittel dagegen ist – in unser aller Köpfen und Gewissen – mit unseren Mitmenschen bzw. Schwestern und Brüdern so umzugehen wie man mit Geschwistern immer umgeht: Auf Augenhöhe, möglichst mit einer Portion Emphatie und jeden möglichst so zu behandeln, wie man mit Gottes geliebten Menschen umgeht – „sehr sorgsam“! Insofern sind alle Menschen in diesem Sinne Geschwister, nicht nur diejenigen die mit uns beten und singen: Weil wir alle Geist von Gottes Geist sind. Und solche Geschöpfe aus Gott selbst geformt, dürfen von niemanden und unter keinen Umständen nur wie Sachen behandelt und in den Dreck geworfen werden. Ungeborene Kinder sind kein Restmüll, wenn sie uns nicht in den Kram passen. Statt Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung völlig lieblos und gefühllos zu begegnen, sollten wir jeden Menschen neben uns immer wertzuschätzen. Also unsere Ethik gewaltig reformieren, ggfls. durch die Abschaffung einer „Nicht-Frömmigkeit des Wegsehens“! Für Jesus gab es keine Unberührbaren. Wie kürzlich wieder die AFD Bösartigkeit bewies, wie sie gegen den Quer-Beauftragten im Bundestag Bösartigkeiten austeilte. Zudem der Redner versuchte, diese Mitmenschen der Lächerlichkeit preiszugeben. Der Mensch, also jeder Mensch zumal, ist von Gott geadelt: Der klügste Philosoph, der ärmste Nichtsesshafte, ein Strafgefangener und auch der angesehene Nobelpreisträger. Nebst Ghandi und Mao sind wir immer unverdient von Gott geliebt. Er lässt es ja regnen auf Böse und Gute. Jesus nimmt alle Mensch ernst. Christinnen und Christen versuchen dies in nur unvollkommener Art auch zu tun. Bei uns nennt man dies „christlich“ und bei Nichtchristen „humanistisch“. Aber wie leben in einer Gesellschaft, einer Welt, einem Universum, unter einem alles umfassenden Gott.

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