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US-Theologe fragt: Ist die Bibel noch „relevant“?

Manchmal betritt man eine fremde Welt, wenn man die Bibel aufschlägt. Umso wichtiger ist es, sie mit unserer Gegenwartskultur in Verbindung zu bringen. Und dennoch – es gibt Wichtigeres als „Relevanz“, findet der US-Theologe Kyle Roberts.

„Lies die Bibel, bet’ jeden Tag, wenn du wachsen willst!“ Haben Sie auch vor Jahrzehnten dieses Lied im Kindergottesdienst gesungen? Und wenn ja – hatte es Nachwirkungen? Viele Christen haben schon einen oder mehrere Anläufe genommen, endlich mehr in der Bibel zu lesen. Die einen greifen zu einem Bibelleseplan, die anderen fangen einfach vorn an und versuchen, sich durch die Mosebücher zu kämpfen, und wieder andere verwenden eine Jahresbibel, die verspricht, sie im Laufe eines Jahres durch die komplette Heilige Schrift zu führen.

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Hoch verehrt, wenig gelesen

Doch es sind mit großer Wahrscheinlichkeit nicht viele, die so konsequent dranbleiben am Bibellesen – egal, was man als Kind in der „Sonntagsschule“ darüber gesungen hat. Unsere Bibelkenntnis im Christentum (auch in dessen evangelikalem Zweig) hat sich im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte nicht wirklich verbessert – ungeachtet aller Fortschritte bei Informationen und Technologie. George Hunsinger hat einmal über Karl Barth geschrieben, er werde „für gewöhnlich verehrt, aber nicht viel gelesen“. Dasselbe könnte man auch von der Bibel in evangelikalen Kreisen sagen. An den meisten Sonntagen dürfte man in den großen Volkskirchen mehr Bibeltexte hören als in den evangelikalen Gemeinden – dabei sind es doch die Evangelikalen, die besonders auf die Autorität, Inspiration und Unfehlbarkeit der Bibel pochen. Die großen protestantischen und katholischen Kirchen widmen oft einen bedeutenden Teil ihrer Gottesdienstliturgie dem öffentlichen Lesen der Heiligen Schrift. Diese Lesungen folgen in der Regel dem liturgischen Kalender, sodass man nicht in Versuchung kommt, nur die beliebtesten Passagen zu lesen.

Foto: Pixabay

Seien wir mal ehrlich. Es kann ganz schön schwierig sein zu wissen, was man mit manchmal obskuren, „fremdartigen“ und vielleicht sogar beunruhigenden Texten anfangen soll. Und auf solche Texte stößt zwangsläufig jeder, der sich vornimmt, „mehr“ in der Bibel zu lesen – sei es mithilfe einer Jahresbibel oder einfach mit dem persönlichen Vorhaben, von Seite eins irgendwann bis Seite 1564 zu kommen. Die Gebote im 3. Buch Mose sind, gelinde gesagt, unübersichtlich. Das Verzeichnis der Abgaben der Stammesfürsten in 4. Mose 7 ist empörend monoton (probieren Sie mal, dieses Kapitel jemandem vorzulesen!). Die Zeitrechnung von Jesus in Zukunftsfragen ist rätselhaft (welche Generation meint er, die „dies alles“ erleben wird, Matthäus 24,34?). Und wie der Judasbrief mit seiner schäumenden Polemik seine Gegner überzeugen möchte, kann man sich nicht gut vorstellen.

Verstörende Texte – heute bedeutungslos?

Die Unverständlichkeit und „Fremdheit“ dieser Texte, wie sie in unseren industrialisierten, computergewöhnten und individualisierten Ohren klingen, hat sicherlich zu dem beigetragen, was Hans Frei die „Verfinsterung der biblischen Erzählung“ genannt hat. Evangelikale Gemeinschaften, von denen viele sich explizit auf die Reformation mit ihrem „Sola scriptura“Prinzip („Allein die Schrift!“) als theologisches Erbe berufen, stehen so vor einer anhaltenden Herausforderung: Wie sollen wir die Bibel als unsere grundlegende Schrift verkünden – und sie gleichzeitig so kommunizieren, dass sie im heutigen Kontext relevant ist? Und dass sie das Leben von Menschen verändert?

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Die ernste Sorge um Relevanz in evangelikalen Gemeinden kann (zumindest in der jüngeren Geschichte) darauf zurückgeführt werden, dass irgendwann „Gottesdienste für Suchende“ aufkamen. Der Wunsch, die Kirche zu einem attraktiven und gastfreundlichen Erlebnis für diejenigen zu machen, die nicht kirchlich sozialisiert sind, ist ein sehr lobenswertes Ziel. Es wurde jedoch mit so großer Ernsthaftigkeit verfolgt, dass man möglicherweise den Karren vor das Pferd gespannt hat.

Entscheidet sich alles an der Relevanz?

Dietrich Bonhoeffer, der den Verlust von Bibelwissen schon zu seiner Zeit beklagte, hat zugespitzt von einer Überbetonung der „Relevanz“ und der Selbstherrlichkeit des einzelnen

Bild: pixabay

Christen gesprochen. In seinem Buch „Gemeinsames Leben“ schlug er vor, wir sollten die Bibel am Stück und in großen Abschnitten lesen, um uns selbst in die biblische Erzählung einzufügen – anstatt sie in unsere Erzählung einzubauen (indem wir uns nur auf einen Vers hier oder dort konzentrieren und ihn aus dem Zusammenhang reißen). Wenn wir die Bibel zu uns sprechen lassen, werden wir „aus unserer eigenen Existenz herausgerissen mitten hineinversetzt in die heilige Geschichte Gottes auf Erden. Dort hat Gott an uns gehandelt, und dort handelt er noch heute an uns, an unseren Nöten und unseren Sünden durch Zorn und Gnade“.

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Wenn wir erkennen, dass es in der Bibel nicht in erster Linie um uns geht, erleben wir eine „völlige Umkehrung“ (Bonhoeffer). Wir fangen an, uns selbst im Licht der größeren Geschichte von Israel, Jesus Christus und der Kirche zu sehen und uns als geringe – aber nichtsdestotrotz bedeutsame – Empfänger einer Erzählung zu begreifen, die zentraler Bestandteil unserer selbst ist, aber viel größer ist als wir. Wie Bonhoeffer sagte: „Es ist in der Tat wichtiger für uns zu wissen, was Gott an Israel, was er an seinem Sohn Jesus Christus tat, als zu erforschen, was Gott heute mit mir vorhat. … Nur aus der Heiligen Schrift lernen wir unsere eigene Geschichte kennen“.

Wenn Fragen offen bleiben dürfen

Um nicht missverstanden zu werden: Ich befürworte nicht unbedingt einen fundamentalistischeren Zugang zur Bibel in Kirche und Gemeinde. Im Grunde genommen sind Begriffe wie „liberal“ und „konservativ“ kaum von Nutzen, wenn es darum geht, ob die Bibel in einer Kirche eine zentrale Rolle spielt. Man kann zwar schnell voraussagen, wie die Bibel im jeweiligen Milieu – sei es „liberal“, sei es „konservativ“ – ausgelegt wird. Das ist mehr oder weniger berechenbar. Aber welche Würde man der Bibel dabei wirklich beimisst, ist damit noch längst nicht gesagt! Unter Umständen kann man bei einer liturgischen und theologisch progressiven Gemeinde eine tiefere Würdigung der Bibel in der tatsächlichen Praxis finden als in einer pragmatischen, aber theologisch konservativen Gemeinde.

Wie kommt das? Vermutlich auch daher, dass progressive Kirchen nicht so viel internen Druck verspüren, alle Fragen, die ein vielleicht eigentümlicher Text stellen mag, eindeutig zu beantworten, so wie es in konservativen Kreisen oft der Fall ist. Es mag tröstlicher sein, mit den Fragen zu leben, die schwierige, „fremdartige“ Texte aufwerfen. Andererseits aber ist es ja auch nicht immer eine Lösung, alle Fragen offen zu lassen. Es dürfte unverantwortlich sein, wenn Pastoren und geistliche Leiter die Menschen ausschließlich mit Fragen nach Hause schicken, wenn es doch zufriedenstellende und angemessene Antworten gibt. Hier haben die Konservativen durchaus Recht. Aber knifflige Fragen zu stellen und mit Unklarheiten zu leben – während man sich durchaus auf die Bibel einlässt –, ist kein schlechter Ausgangspunkt.

Bibel und Gegenwartskultur im Gleichgewicht

George Stroup benennt das Problem in seinem hervorragenden Buch „The Promise of Narrative Theology“ sehr prägnant: „Die Bibel hat nicht mehr die Autorität, die sie einst in vielen christlichen Gemeinden hatte. Und in jenen Gemeinden, in denen die Bibel noch immer ihre traditionelle Rolle spielt, gibt es nur wenig oder kaum eine ernsthafte Beschäftigung mit den Problemen des zwanzigsten Jahrhunderts.“

Mir scheint, wir brauchen das richtige Gleichgewicht, oder besser gesagt: ein „sowohl als auch“. Das heißt, wir brauchen Pastoren, die sich mit den sperrigen, harschen, herausfordernden und schwierigen Texten der Bibel auseinandersetzen, die sich aber ebenso engagiert mit den aktuellen kulturellen Themen beschäftigen. Die Herausforderung dabei ist, die „fremde, neue Welt der Bibel“ (Karl Barth) mit den komplexen, dringlichen Problemen zu verbinden, vor denen wir als Einzelne und als Gesellschaft heute stehen. Die Bibel und das Evangelium sprechen Worte des Lebens in unsere Welt hinein – aber sie tun es von einem Standpunkt aus, der über diese Welt hinausgeht.

Vielleicht haben Sie sich vorgenommen, endlich mal „mehr“ in der Bibel zu lesen (klingt Ihnen das Kinderlied „Lies die Bibel …“ noch im Ohr?). Wenn Sie dabei an eine schwierige, „seltsame“ Stelle kommen, von der Sie nicht wissen, wie Sie die auf Ihr Leben anwenden sollen – dann überlegen Sie, ob dieser Text tatsächlich so lebensfern, so „irrelevant“ ist. Lassen Sie den Gedanken zu, dass er durchaus eine Bedeutung für Sie haben könnte! Der Text ist Teil Ihrer Geschichte – unserer Geschichte. Und setzen Sie sich nicht so unter „Anwendungsdruck“, denn es geht eigentlich gar nicht um uns, wie Bonhoeffer deutlich gemacht hat. Es geht um Gott. Zum Glück hat er uns in seine Geschichte eingeladen. Und es ist eine Geschichte, die auch weiterhin die Welt verändern wird. 


Kyle Roberts ist Professor für Öffentliche Theologie und Kirche und Wirtschaftsleben am United Theological Seminary of the Twin Cities (St. Paul/ Minnesota). Der Artikel erschien zuerst auf der Webseite patheos.com und wurde für die deutsche Fassung leicht bearbeitet. Übersetzung von Dorothee Dziewas.

Die deutsche Fassung veröffentlichte das Magazin „Faszination Bibel“ zuerst, das wie Jesus.de zum SCM Bundes-Verlag gehört.

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