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Wie eine Deutsche beim Flüchtlingscamp Moria Gottesdienst feiert

Andrea Wegener arbeitet als einzige Deutsche im überfüllten Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. In ihrem Buch „Wo die Welt schreit“ erzählt sie, wie sie ihre Zeit dort erlebt. Dabei schildert sie auch einen Gottesdienst außerhalb des Camps in der Teestube Oasis. Ein Auszug.

Sonntag, 25. November

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Wie gut, dass es Sonntage gibt! Und wie gut, dass es bisher an allen Einsatzorten, in denen ich in den letzten Jahren war, Christen gab, die Gottesdienst feierten! Ich brauche diese Neu-Ausrichtung meines inneren Kompasses immer wieder, um in dem Unverständlichen und Schwierigen, das ich mitbekomme, nicht die Orientierung zu verlieren. Der Gottesdienst in der „Oasis“ ist sehr schlicht und unliturgisch gehalten, was wohl an der mennonitisch-amischen Tradition der Mitarbeiter liegt: Wir singen ein paar Lieder, ein oder zwei Leute sprechen ein freies Gebet, es gibt eine Predigt, die meist bewusst einfach und persönlich gehalten ist. Immerhin gibt es, je nachdem, wer gerade da ist, Klavier- und Gitarrenbegleitung, und der Gesang fällt oft mehrstimmig und so herzhaft aus, dass ich mich ein bisschen wie in meiner Gemeinde zu Hause fühle. Während der Woche komme ich oft nicht dazu, die Gedanken und Gefühle zu sortieren und auszudrücken, die in mir durcheinanderpurzeln. Deswegen bin ich immer dankbar, wenn die Stille vor dem Gottesdienst und das Singen etwas länger ausfallen, so dass ich ein bisschen Raum habe, dem Durcheinander in mir nachzuspüren.

Und ich bin froh, dass es Lieder gibt, deren Texte dann in meine Fragen und Themen hineinsprechen. Heute singen wir unter anderem ein Lied, das besser in die Achtziger und Neunziger passte, von unseren Musikern aber wieder aus der Mottenkiste hervorgekramt worden ist: „Lord, the light of your love is shining in the midst of the darkness“: „Herr, das Licht deiner Liebe leuchtet mitten in der Finsternis“. Im Moment kommt mir dieses „Licht der Liebe“ vor wie ein mickriges Teelicht in einer völlig dunklen Konzerthalle. Aber ich weiß, dass es da ist: weil wir da sind – und mit uns Christus mit seiner Liebe und Freundlichkeit.

Die Not ist überwältigend, und unser kleines bisschen Hilfe wirkt wie ein Tropfen auf den heißen Stein.

Ich möchte lernen, auch das Kleine zu schätzen und im Glauben zu leben, nicht im Schauen: Unsere Arbeit macht einen Unterschied, auch wenn wir das kaum sehen. Gott arbeitet im Verborgenen. Was wir geben können, ist nie genug. Die Not ist überwältigend, und unser kleines bisschen Hilfe wirkt wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Und doch hat Gott in der Geschichte seiner Menschen immer gerade das Schwache, das in den Augen der Welt Gescheiterte und das Unscheinbare gebraucht, um seine Ziele zu verwirklichen. Wir feiern in unseren Liedern Jesus als den Gekreuzigten …

In Moria ist so viel Kaputtheit, so viel Hässlichkeit, Entwurzelung, Zerstörung, Hoffnungslosigkeit. Es liegt der Tod in der Luft: in den Erlebnissen, die die Bewohner aus ihrer Heimat und von der Reise mitbringen. In der tiefen Traurigkeit, die in viel zu vielen Augen zu sehen ist. In der Gewalt und dem Hass, dem sie entfliehen wollten und den sie doch in ihrem Herzen mitgebracht haben. Und gerade deswegen feiern wir fast trotzig in unseren Liedern Jesus auch als den Auferstandenen, den Heiland, den Herrn des Lebens, den Sieger über den Tod.

Die Bibel ist in Zeiten und Gesellschaften hineingeschrieben worden, die für unsere Afghanen, Syrer oder Sudanesen weit vertrauter klingen als für Europäer im einundzwanzigsten Jahrhundert.

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Ich finde es ungemein tröstlich, dass die Bibel ein sehr wirklichkeitsnahes Weltbild vermittelt. In Deutschland, in unserer Blase aus Sicherheit, Freiheit und unerhörtem Wohlstand, siebzig Jahre nach dem letzten Krieg, lässt es sich allzu leicht vergessen: Die Welt ist voller unerträglicher Gewalt und Ungerechtigkeit, und Menschen tun einander so schreckliche Dinge an, dass man nicht einmal darüber lesen oder hören möchte. Die Bibel ist dagegen in Zeiten und Gesellschaften hineingeschrieben worden, die für unsere Afghanen, Syrer oder Sudanesen weit vertrauter klingen als für Europäer im einundzwanzigsten Jahrhundert:
• Patriarchalische Gesellschaften, in denen Ehen arrangiert und Frauen als Privateigentum betrachtet werden;
• Kulturen, in denen die Ehre den Älteren gegenüber und Gastfreundschaft für Fremde unaufgebbare Werte sind;
• Volksgruppen, die jederzeit mit Krieg, Hunger, Unrecht und Vertreibung rechnen müssen.
• Jesus selbst wird in ein besetztes Land hineingeboren, er ist als Kleinkind mit seinen Eltern auf der Flucht, und er stirbt, rein menschlich betrachtet, als Opfer eines Justizskandals den grausigsten Tod, den die Folterexperten des damaligen Weltreichs sich ausdenken konnten.

Mehr Realismus geht nicht!

Die Autoren der Bibel sind von all dem nicht befremdet. Und sie bleiben andererseits auch nicht achselzuckend dabei stehen, dass das Leben eben kein Ponyhof ist und manche Leute halt das Pech haben, auf der falschen Seite von Freiheit und Reichtum geboren zu werden: Wo Menschen Gott in ihrem Leben Raum geben, wird den Armen geholfen, werden Gefangene im Gefängnis besucht und Sklaven befreit, werden Arbeiter fair behandelt, Trauernde getröstet und Fremde aufgenommen, bekommen Nackte Kleidung und Hungernde etwas zu essen.

Ich muss nicht die Welt verbessern. Aber ich kann mit kleinen, handfesten Taten das Leben von einzelnen Menschen ein ganz kleines bisschen freundlicher machen. Sogar – und gerade – in Moria. Ich will daran festhalten, dass das Licht stärker ist als die Dunkelheit, die Liebe stärker als der Hass und der Mut stärker als die Angst. Es ist gut, sonntags daran erinnert zu werden.

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Das Buch „Wo die Welt schreit“ von Andrea Wegener ist im Fontis Verlag erschienen. 

 

 

 

 

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