"Wir gehen einmal die Reeperbahn rauf bis zur Esso-Tankstelle und dann wieder zurück zum Freiversammlungsplatz", gibt Major Olivier Chevalley von der Heilsarmee die Route für den Abend vor. Wie jeden Donnerstagabend versammelt sich um 20 Uhr ein Team der Heilsarmee Hamburg vor dem roten Backsteingebäude in der Talstraße 13 auf St. Pauli.
Über der Tür des Heilsarmee-Hauses leuchtet der Schriftzug "Jesus lebt" auf orange farbigem Untergrund. Auf der anderen Straßenseite wirbt ein Sex-Kino um Kundschaft – hier formiert sich der Heilsarmee-Zug für seinen Einsatz. Die Gruppe besteht aus jungen FSJlern des Missionsteams der Heilsarmee, gut erkennbar in ihren leuchtend roten T-Shirts mit Heilsarmee-Schriftzug, dazu die ehrenamtlichen Mitarbeiter aus der Gemeinde und vorneweg der Leiter des Hamburger Heilsarmee Korps, Olivier Chevalley, in Anzughose, weißem Hemd, Krawatte und dunkler Schirmmütze – der Uniform des Heilsarmee-Soldaten.
Während am Kopf des Zuges ein junger Mann seine Gitarre stimmt, ein anderer ein schweres Holzkreuz in Position bringt und der Fahnenträger die Heilsarmee-Flagge zurechtrückt, stimmt Olivier Chevalley seine Truppe auf ihren Einsatz ein: "Gebt mir ein J" – "Gebt mir ein E" – "Gebt mir ein S" – "Gebt mir ein U" – "Gebt mir ein S" – "Wer ist unser Herr?" – "Jesus!" ruft es überzeugt aus den 25 Kehlen der versammelten Mannschaft zurück.
Und los geht’s. Laut Lobpreis-Lieder singend und klatschend setzt sich der Zug in Bewegung. "Klatscht in die Hände und jauchzt – König ist unser Gott" schallt es über die abendliche Reeperbahn. Vorbei geht’s an abgeklärten Türstehern, Spenden sammelnden Punks, jungen Frauen in engen Shirts und warmen Stiefeln, die auf Kundschaft warten – und vielen ungläubig staunenden Touristen. "Du, die sind echt – keine Halluzination!", ruft eine junge Frau und knufft ihren Freund in die Seite. Hier an der Reeperbahn liegen normale Kneipen und MacDonalds neben Table Dance und Striplokalen. Und mittendrin hat die Heilsarmee Hamburg ihr Quartier.
Bekannt und anerkannt sind sie für ihre offene Sozialarbeit in der Tagesstätte, wo sie Dienstags, Donnerstags und Freitags ihre Türen öffnen und Obdachlose und Mittellose mit kostenlosen Mahlzeiten, Zugang zur Kleiderkammer, Duschmöglichkeiten und Beratung unterstützen. Doch der Grundsatz der Heilsarmee lautet seit hundert Jahren nicht nur "Suppe" und "Seife", sondern auch "Seelenheil". Und so zieht jeden Donnerstagabend nach der Bibelarbeit das Missionsteam raus auf den Kiez, um die Menschen im Stadtteil daran zu erinnern, dass Gott auch hier auf St. Pauli präsent ist – und sich für sie interessiert.
"Wir sind hier in Hamburg noch sehr nah dran an unseren Wurzeln", erklärt Majorin Ingeborg Chevalley vom Heilsarmee-Team. "William Booth, der Gründer der Heilsarmee, hat ja auch mit Missionseinsätzen auf der Straße angefangen." Für heute hat das Team seine Runde fast beendet. Zum Abschluss gibt’s noch eine zwanzigminütige Freiversammlung am Eingang der Talstraße. Unter dem S-Bahn-Schild "Reeperbahn" stellen sich alle im Halbkreis auf und formen so eine Bühne für den abschließenden Gottesdienst im Freien: Theater und Predigt wechseln sich ab und ein mit Musik untermaltes Pantomimestück bietet den Aufhänger für eine junge FSJlerin, von Gott und ihrem Glauben zu erzählen. Direkt vor den glitzernden Leuchtreklamen, manchmal auch übertönt von dröhnenden Motorrädern, die vorbeirauschen, oder den Kommentaren der Obdachlosen. Aber sie lässt sich nicht beirren und liest den Umstehenden Gottes Zusage aus Jeremia vor: "Wenn ihr mich von ganzem Herzen sucht, so werde ich mich von euch finden lassen."
Inzwischen ist es 21 Uhr, längst ist es ist dunkel geworden und der Straßeneinsatz ist für heute beendet. "Jetzt sehen wir uns bei der Heilsarmee – gleich um die Ecke: Talstraße 13", bekräftigt Major Chevalley noch einmal seine Einladung in die Coffeebar.
Im Anschluss an den Straßeneinsatz und die Freiversammlung lädt die Heilsarmee jeden Donnerstag von 21 Uhr bis 23 Uhr in ihren Saal zu Kaffee, Keksen und Kurzpredigt ein. Der Raum füllt sich schnell. Auf den Tischen verbreiten Teelichter in Papiertüten warmes Licht im abgedunkelten Saal, die durchschnittlich 30 bis 50 Gäste werden von den FSJlern mit Kaffee und Keksen versorgt. Mitarbeiter setzen sich zu den Gästen an die Tische und begrüßen die Männer von der Straße, unter denen sie manches bekannte Gesicht entdecken: "Na, Eckhard, wo hast du die letzten Wochen gesteckt?", fragt eine junge FSJlerin fröhlich ihren grauhaarigen Tischnachbarn. Die Atmosphäre wirkt friedlich und entspannt.
"Es gibt auch Leute, die aggressiv sind. Ich habe auch schon mal eine Ohrfeige bekommen – aber das ist selten. Wir haben klare Hausregeln, Gewalt wird hier nicht geduldet", betont Major Chevalley. Auch draußen auf der Straße pöbeln und schimpfen manche. "Aber die meisten Menschen bewundern uns dafür, dass wir den Mut haben, uns im Stadtteil zum Glauben zu bekennen", erklärt Chevalley. Und immer wieder lassen sich Leute zur Coffeebar einladen. Und zum Glauben. "Es geschieht zwar selten, dass ein Mensch kommt und sich dann am selben Abend noch bekehrt, aber viele werden angesprochen durch die Atmosphäre und das Programm und kommen dann wieder. Und einige öffnen sich neu für den Glauben."
Man braucht Geduld. Und eine feste Überzeugung, um jede Woche wieder raus auf die Straße zu gehen. Doch die hat Major Chevalley. Denn wie schon der Gründer William Booth findet er: "Die Kirche muss zu den Menschen gehen." Und das tun die Soldaten der Heilsarmee Woche für Woche. Und erreichen so Menschen, die in anderen Gemeinden vermutlich nur schwer einen Platz finden.
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Zahlreiche Daten und Fakten zur Heilsarmee findet Ihr hier.
(Quelle: jesus.de)