Der süddeutsche Reformator Johannes Brenz prägte den Satz: „Gebet ist ein Reden des Herzens mit Gott in Bitte und Fürbitte, Dank und Anbetung.“ Aber woher weiß ich, wie ich beten soll?
Schon Jesus sagte: „Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern …“ (Matthäus 6,7). Wenige Worte reichen aus. So lehrt Jesus seine Freunde ein kurzes Gebet für alle Fälle: das Vaterunser. Hier wird Gott als himmlischer Vater geehrt, man ordnet sich seinem Willen unter, bringt alles ans Licht, macht Frieden mit den Feinden und bittet um Schutz vor dem Bösen. Dieses Gebet ist ein zeitloser Klassiker. Aber sobald man von dieser stark verdichteten Form weggeht, tiefer in den individuellen Alltag des Einzelnen hinein, dann wird es schon wieder schwammiger, wie Gebet in meinem Leben hier und jetzt aussehen kann.
Muss Beten effektiv sein?
Eines ist klar: Lebenskultur bedingt Gebetskultur. Wenn schon der Apostel Paulus den Griechen ein Grieche sein wollte und Missionar Hudson Taylor den Chinesen ein Chinese, dann müssen wir auch damit rechnen, dass in unterschiedlichen Kulturen und zu unterschiedlichen Epochen verschiedene Aspekte des Redens mit Gott in den Fokus rücken. Doch schauen wir nicht ins alte Griechenland und China, sondern bleiben bei unserer europäischen protestantischen Kultur. Luther setzte Impulse, die bis in die Postmoderne nachbeben. Und vielleicht auch langsam ausklingen. Das Gebet sei ein Handwerk, so Luther. Und andersherum: Auch wer sein Handwerk treu ausübt, lobe seinen Schöpfer. Und wenn das Handwerk gelingt, dann gibt es erneut Grund zu danken. Also nicht nur Worte, nicht nur Betrachtung, sondern auch Tun sind Ausdruck unseres Betens.
Heutzutage fragen sich manche Beterinnen und Beter, wie man das Gebet am effektivsten anwenden kann – und für welchen Zweck. Denn viele evangelische und freikirchliche Christen sind noch von der sogenannten „protestantischen Ethik“ geprägt. Das Gebet muss, wie alle andere Arbeit, zu der wir gerufen sind, Frucht bringen oder Frucht benennen.
Kontrollverlust als Anrede Gottes
Als Enkel des industriellen Zeitalters leben wir in einem materiellen Wohlstand, der uns die Beziehungsnot zu Gott leicht vergessen lässt. Hier möchte ich eine provokante These aufstellen: Könnte es sein, dass Schwierigkeiten und Nöte in unserem Leben, die Situationen, in denen uns die Kontrolle entgleitet – Krankheit, Armut, Verlust von Freunden –, nicht manchmal Gottes Bitten an uns sind, ihm wieder nahe zu sein? Über diese These muss ich immer mal nachdenken, wenn es grad nicht so rundläuft.
Was bedeutet einem Christen in der Postmoderne noch Gebet? Gibt es eine Schnittstelle zwischen Reden, Hören und Tun in unserer Beziehung zu Gott? Bei dieser Frage gehe ich von zwei Grundannahmen aus: Zum einen, dass eine tägliche Qualitätszeit zwischen Menschenherz und Gottes Herz nötig und möglich ist. Zum anderen, dass wirtschaftlicher, materieller Erfolg und der damit einhergehende Leistungsdruck das gefährden, was Johannes Brenz vor 500 Jahren als „Reden des Herzens mit Gott“ definierte.
Das rationalisierte, hoch effektiv gedachte Industriezeitalter neigt sich zwar seinem Ende zu, aber mehr Raum für unser Gebetsleben ist kaum zu entdecken. Denn nun wirkt allmählich immer stärker der Wunsch nach Selbstoptimierung in uns hinein. Wo uns früher das Arbeiten vom Beten abhielt, so ist es heute der mediale Dauerstress vieler unserer Beziehungen. Dabei ist die Konzentration doch so wichtig: Wenn Jesus betete, sprach er mit seinem lieben Vater. Dazu zog er sich an einsame Orte zurück. Jesus holte sich im Gebet Kraft für den nächsten Tag – sowohl aus der Einöde in der besinnlichen Zwiesprache mit dem lieben Vater als auch mit seinen Gleichgesinnten, die er nicht das Fürchten, sondern das Beten lehrte.
Gebetsverbindung im Tumult
Was das Beten für uns zeitlos macht, über alle Sprach- und Kulturgrenzen hinweg, ist zwar irrational, aber etwas ganz Universelles: Jesus versprach uns seinen Geist, der unaufhörliches Gebet von unserem Geist zu Gott möglich macht – eine innere Standleitung auch abseits unserer emotionalen Überfrachtung durch Reize und Blockaden.
In der Bibel finden wir Gebetsformen, die gerade in sehr schwierigen Zeiten großen Trost hervorbringen: David, zweiter König Israels, beschreit in seinen Liedern Gottes Treue, just als er von Armeen gejagt, vom eigenen Sohn verbannt oder vom Propheten Nathan als Mörder und Ehebrecher entlarvt wird. Das bringt er in zahlreichen Liedern zu Gott, damit hält er, lobpreisend, Verbindung über seine Abgründe hinweg zu seinem Schöpfer.
Situationen, in denen uns die Kontrolle entgleitet, können Gottes Bitten an uns sein, ihm wieder nahe zu kommen.
Geistliches Liedgut in meiner Muttersprache – ja, auch das ist Gebet. Der Geigenbauer Martin Schleske (Autor von „Der Klang“) berichtet sogar 2016 aus seinem Tagewerk, knapp drei Jahrtausende nach David: „Musik ist in Klang gegossenes Gebet.“ Einen Psalm selbst schreiben, vielleicht einen Klagepsalm, ist ein bewährtes Mittel, um meinen Schmerz zu Gott bringen zu können. Das ist nötig und hat meine innere Standleitung nach oben schon manches Mal wiederbelebt.
Christian Bartholomäi hat sich im Rahmen seiner Abschlussarbeit im Fach Ethnologie intensiv mit der evangelischen Gebetspraxis aus kultureller Perspektive auseinandergesetzt. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Wycliff e. V.
Dieser Beitrag ist im Gebetsmagazin sela. erschienen. sela. ist wie Jesus.de ein Angebot des SCM Bundes-Verlags.