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Das Alte Testament „abkoppeln“?

Der einflussreiche amerikanische Pastor Andy Stanley sorgt mit einer steilen These für Aufsehen. Menschen, denen das Alte Testament Schwierigkeiten macht, sollten es einfach weglassen. Kann das funktionieren? Ein Diskussionsbeitrag von Christof Klenk, Redaktionsleiter des Hauskreismagazins.

Neu ist die Diskussion sicherlich nicht. Schon im zweiten Jahrhundert nach Christus forderte der Theologe Marcion, die Texte des Alten Testaments nicht in die Bibel aufzunehmen. Auch die deutsche liberale Theologie des 19. Jahrhunderts hatte mit Adolf von Harnack einen prominenten Vertreter, der sich weigerte, das Alte Testament als Teil des Kanons anzuerkennen. Es sollte allenfalls den Stellenwert der Apokryphen haben. Der Systematische Theologe Notker Slenczka hat die These von Harnack und anderen protestantischen Wissenschaftlern in jüngster Zeit aufgegriffen und kommt zu dem Schluss, dass „das AT als Grundlage einer Predigt, die einen Text als Anrede an die Gemeinde auslegt, nicht mehr geeignet“ sei, da die alttestamentlichen Texte nicht der christlichen Kirche gelten würden. Slenzcka diagnostiziert ein „Fremdeln“ des christlich-„frommen Selbstbewusstseins“ mit den Texten des Alten Testaments. Sein Vortrag hat mit gewisser Verzögerung für einen Aufschrei gesorgt. Dem Berliner Theologieprofessor wurde sogar „Antijudaismus“ vorgeworfen. Ein Vorwurf, den er vehement bestreitet.

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Nun hat sich also der amerikanische Pastor Andy Stanley dafür ausgesprochen, das Alte Testament vom christlichen Glauben „abzukoppeln“ (bzw. dass Christen sich vom Alten Testament „abkoppeln“). Neu ist daran sicherlich, dass die AT-Kritik von einem prominenten Theologen kommt, der eher der evangelikalen Ecke zugeordnet wird. 2010 wurden 1.000 protestantische Pastoren befragt, wer für sie der einflussreichste lebende Prediger sei. Andy Stanley landete auf Platz 10. Sein Vater Charles belegte den dritten Platz. 1995 gründete Andy Stanley zusammen mit anderen die North Point Community Church in Atlanta. Sie erreicht laut eigenen Angaben mittlerweile Woche für Woche 36.000 Menschen. Hier hat sich also kein Außenseiter oder theologischer Sonderling zu Wort gemeldet. Entsprechend groß ist das Echo, das er unter den Christen in den USA ausgelöst hat.

Unnötiger Glaubensverlust

Doch was steckt dahinter? Stanley ist sicher kein Verächter des Alten Testaments. Er betont, dass die ganze Bibel vom Geist Gottes inspiriert ist und hat lange Predigtreihen über alttestamentliche Bücher gehalten. Trotzdem sieht er bei der Vermittlung des Christentums ein Problem. Die jüdischen Schriften könnten Menschen vom Glauben abhalten. Viele Amerikaner würden mit der Bibel aufwachsen, ohne darüber Bescheid zu wissen, wie der alte und der neue Bund zusammenhingen. Als junge Erwachsene bekämen sie dann zunehmend Schwierigkeiten, am Glauben festzuhalten, weil sie die Bibel und vor allem das Alte Testament als problematisch empfinden. „Ich wurde groß mit dem Hinweis: Das ist alles Gottes Wort. Alles wahr. Tu alles, was da drinsteht“, erzählt Stanley im dritten Teil seiner Predigtreihe unter dem Titel „Aftermath“ (Nachwirkungen). Für Leute, die so aufgewachsen sind wie Stanley selbst, hat der amerikanische Pastor eine wichtige Botschaft: „Ich bin überzeugt: Dass ihr euren Glauben verloren habt oder dabei seid, ihn zu verlieren, ist unnötig.“

Bibel
Foto: thinkstock

Befreiend könne hier das Beispiel der ersten Christen sein, meint Stanley, denn sie hatten ähnliche Probleme: „Sie hatten das Gesetz Moses, mit dem sie groß geworden waren, den alten Bund, und dann hatten sie den neuen Bund, den Jesus gründete. Es war sehr schwierig für sie, diese beiden Bünde nicht durcheinanderzuwerfen.“ Hier kommt Apostelgeschichte 15 ins Spiel. Paulus hatte in Antiochia den Heiden das Evangelium von der Auferstehung des Herrn gepredigt und war auf offene Ohren gestoßen. Doch in Jerusalem war man mit der Botschaft des Paulus offenbar nicht ganz zufrieden und schickte Leute hinterher, die den neuen Geschwistern erklärten: „Ihr könnt nicht gerettet werden, wenn ihr euch nicht beschneiden lasst, wie es das Gesetz des Mose vorschreibt“ (Apostelgeschichte 15,1).

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Es kommt zum großen Clash mit Paulus und Barnabas, denn die sind nicht glücklich über die Nachbesserungen. Die beiden reisen mit einigen Christen aus Antiochia nach Jerusalem, wo sie „den Aposteln und Gemeindevorstehern die Streitfrage vorlegen“ (Apostelgeschichte 15,2) sollen. Die Ergebnisse dieses Rats sind nicht nur für Stanley eine entscheidende Gelenkstelle in der Entstehung der ersten Gemeinden. Der Amerikaner kommt hier allerdings zu einer recht weitreichenden Deutung: „Petrus, Jakobus, Paulus haben die Entscheidung getroffen, den christlichen Glauben von den jüdischen Schriften abzukoppeln, und meine Freunde, das müssen auch wir tun.“

Mose und Jesus vermischt

Stanley argumentiert, dass Jakobus, der hier der Sprecher ist, der Vermischung von Mose und Jesus ein Ende setzt, weil er „die Menschen aus anderen Völkern, die sich Gott zuwenden, nicht mit dem ganzen jüdischen Gesetz belasten“ (Apostelgeschichte 15,19) will. Jakobus legt keinen Wert darauf, dass sich alle beschneiden lassen, aber sie sollen Götzenopferfleisch meiden, sich vor Unzucht hüten und keine erwürgten Tiere essen (Vers 20). Warum ausgerechnet diese drei Schwerpunkte? Stanley meint, es geht Jakobus nicht darum, das mosaische Gesetz zumindest teilweise zu halten oder die wichtigsten Punkte herauszupicken, die Zusammenstellung soll vielmehr eins bewirken: Den Frieden innerhalb der Kirche zu bewahren.

Stanley zieht weitreichende Konsequenzen aus diesem Beschluss der Jerusalemer Gemeindeleitung: „Wir werden nicht nach den Zehn Geboten gefragt. Wir werden nicht nach dem jüdischen Gesetz gefragt. Gott hat etwas komplett Neues angefangen.“ Das Neue Testament bräuchte nicht von den Jüdischen Schriften gestützt zu werden, der Neue Bund basiere vielmehr auf Kreuzigung und Auferstehung. Das Alte Testament habe seine Bedeutung als „go-to source“ (als entscheidende Quelle) verloren.

Bild: pixabay

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Stanleys Motive sind aller Ehren wert. Es gibt tatsächlich viele Christen, die mit dem Alten Testament Schwierigkeiten haben. „In der Praxis sind viele Christen (…) Anhänger des Marcion [siehe Artikelanfang] geworden, ob sie es zugeben oder nicht“, sagt der Neutestamentler Pieter J. Lalleman. Dass das so weit führt, dass sie mit dem Glauben insgesamt Probleme bekommen, kann man sich durchaus vorstellen. Es gibt schon Stellen, die mit unserem modernen Denken kollidieren. Wenn Gott Israel dazu ermutigt, ganze Völker auszurotten (5. Mose 20, 16-17), dann taucht die (klassische) Frage auf, ob das derselbe Gott sein kann, der will, dass alle Menschen gerettet werden. Um die Gesetzestexte und Ahnentafeln machen viele Christen sowieso einen großen Bogen. Die Psalmen werden in Gottesdiensten immer noch gerne genommen, aber sicher nicht alle Psalmen. Jeremia und Jesaja sind für viele Christen sowieso ein Buch mit sieben Siegeln, mal die Verse ausgenommen, die immer an Weihnachten auftauchen. Und wie sieht es mit der Diskussion „Schöpfung contra Evolution“ aus? Sie ist irgendwie versandet. Die Verfechter einer naturwissenschaftlichen Auslegung der Schöpfungsberichte sind in die Defensive geraten, aber was genau die Texte dann aussagen, ist auch nicht unbedingt klar.

Das ganze Gesetz einhalten

Ich finde Stanleys Fragestellungen durchaus hilfreich, aber schon seine biografische Grundlage fragwürdig. Ist er wirklich mit dem Gedanken groß geworden, dass man alles, was in der Bibel steht, einhalten muss, dass also das mosaische Gesetz eins zu eins für Christen gilt? Vor einem Jahrzehnt gab es dazu einen interessanten Selbstversuch. Der amerikanische Journalist A.J. Jacobs nahm sich vor, ein Jahr lang alle Gesetze der Bibel einzuhalten (daraus entstand sein Buch „Die Bibel & ich“). Was das Buch sehr deutlich macht: Das sind eine ganze Menge!

Bild: shutterstock / Inked Pixels

Ich bin in einem pietistischen Umfeld aufgewachsen, das sehr viel Wert auf „Bibeltreue“ gelegt hat. Auf die Idee, gemischte Gewebe zu vermeiden (5. Mose 22,10) oder Ehebrecher zu steinigen (5. Mose 22,22), ist trotzdem – soweit ich weiß – niemand gekommen. Da wurde schon ganz bewusst differenziert. Der Sohn von Charles Stanley hätte das eigentlich auch mitbekommen müssen.

Ich habe auch grundsätzlich meine Zweifel daran, dass Stanleys Botschaft für Leute, die mit ihrem Glauben aufgrund des Alten Testaments hadern, so befreiend wirkt. Der amerikanische Pastor hebt stark auf das mosaische Gesetz ab, aber wie schon angedeutet: Das ist nicht unbedingt das Hauptproblem zweifelnder Christen, auch wenn eine stärkere Auseinandersetzung damit sicherlich begrüßenswert wäre (dazu schreibt beispielsweise Tobias Teichen in seinem Buch „Roots“). Die Zehn Gebote sind sowieso fast gesellschaftlicher Konsens. Ich bin überzeugt, dass die Grausamkeiten, von denen das Alte Testament berichtet, größere Schwierigkeiten bereiten als die alten Gesetzestexte.

Hilft abkoppeln?

Den Glauben ausschließlich an der Auferstehung Christi festzumachen und das Alte Testament abzukoppeln (was immer das auch genau heißen mag) – das hört sich vielleicht gut an, vielleicht sogar irgendwie konsequent, aber wem hilft das? Die gesamte Heilsgeschichte und die Bedeutung von Jesus, sein Tod und seine Auferstehung blieben unverständlich. Neutestamentliche Autoren beziehen sich ständig aufs Alte Testament, man kann sie kaum verstehen, ohne ihre Quelle zu kennen.

Bei Stanley erscheint das Alte Testament zu sehr als Synonym für Gebote und Gesetze. Aber eigentlich ist es doch eine fortlaufende Geschichte. In ihr zeigt Gott, wie er ist und wie er handelt. Das Alte Testament enthält keine Grundsätze oder „Lehren“, sondern zeigt Gottes Taten. Wer Gott charakterisieren möchte, kommt am Alten Testament nicht vorbei.

Dazu kommt: Auch das Neue Testament enthält allerhand schwer Verdauliches, Unzeitgemäßes und Unverständliches. Todesstrafe für eine Falschaussage, muss das wirklich sein (Apostelgeschichte 5,1-11)? Meint Jesus das ernst, dass schon ein lüsterner Blick Ehebruch bedeutet (Matthäus 5,28)? Würde es uns nicht auch entgegenkommen, wenn Jesus Themen wie Gericht, Hölle, Tod und Teufel vermieden hätte?

Nimmt man Stanleys Aufforderung als Diagnose, dann liegt er vielleicht gar nicht so falsch: Mancher Christ hat sich vom Alten Testament schon abgekoppelt. Deshalb finde ich es wichtig, dass unsere Anfragen an die alten Texte immer wieder auf den Tisch kommen und nicht nur im Elfenbeinturm der wissenschaftlichen Theologie beleuchtet werden. Eine Auseinandersetzung mit Apostelgeschichte 15 und der Frage, was das für uns heute bedeuten könnte, ist grundsätzlich begrüßenswert. Stanleys Beitrag überzeugt mich allerdings nicht.


Dieser Beitrag ist zuerst im Magazin Faszination Bibel erschienen, das wie Jesus.de zum SCM Bundes-Verlag gehört. 

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