Wie können wir tragfähige Beziehungen gestalten? Anja Gundlach hat für ihr Leben entdeckt, warum ein Beziehungsnetz so wichtig ist, in dem sich Geben und Nehmen ergänzen.
Von Anja Gundlach
Ich war schon immer ein Beziehungsmensch mit vielen Freunden und Bekannten. Vom Typ her bin ich dabei jemand, die gerne anderen hilft und sich für andere einsetzt. Ich bin ziemlich belastbar und habe als Älteste von vier Geschwistern früh gelernt, für andere zu sorgen und Verantwortung zu übernehmen. Das sind alles Eigenschaften, für die ich dankbar bin und die mir schon oft im Leben geholfen haben.
Schmerzliche, aber hilfreiche Einsicht
Mit Anfang dreißig habe ich dann aber zum ersten Mal so richtig über das Beziehungsnetz nachgedacht, in dem ich lebe. Ich befand mich damals in einer massiven Krisensituation, in der ich schmerzlich merkte, dass mein Beziehungsnetz sehr einseitig geprägt war. Ich hatte nämlich ganz viele Beziehungen, in denen ich vor allem die Gebende war. Doch in dieser schwierigen Zeit brauchte ich selbst viel Hilfe und Unterstützung. Das konnte ich zuerst einmal gar nicht sehen und akzeptieren. Ich hatte von mir das Bild, immer die Starke sein zu müssen. Auch in den Beziehungen, in denen ich lebte – egal, ob in Ehe und Familie, in Freundschaften, in der Nachbarschaft oder in der Gemeinde. Und das Bild hatte ich auch den anderen so vermittelt. In der Krise musste ich aber lernen, mir auch helfen zu lassen und „Nein“ zu sagen, wenn andere meine Hilfe wollten.
Mir wurde an diesem Punkt sehr bewusst, dass ich mehr Beziehungen brauchte, die mir Kraft geben und in denen ich auch geistlich getragen werde. Ich brauchte Beziehungen, in denen ich mich auch in meiner Schwachheit und Verletzlichkeit, mit meinen Anfechtungen und Versuchungen zeigen konnte. Dazu musste ich natürlich zuerst einmal lernen, diese Seiten von mir anderen zu zeigen und nicht nur immer die Starke zu sein.
„Natürlich muss man sich auch öffnen, sich mit seinen eigenen Stärken und Schwächen zeigen.“
Ein Artikel des amerikanischen Pastors und Autors Gordon MacDonald zum Thema Beziehungen, den ich damals las, gab dann den entscheidenden Anstoß. Mir wurde dadurch bewusst, dass ich Beziehungen von verschiedener Qualität brauche. Dabei liegt in dieser Unterscheidung keine Wertung! Mir wurde auch klar, dass ein gutes Beziehungsnetz in der Regel nicht von allein entsteht. Ich muss mich bewusst dafür entscheiden und dann auch Zeit und Kraft investieren, damit so ein Netz entsteht. Aus diesen Erfahrungen und Anstößen ist mein persönliches „Beziehungsnetzmodell“ gewachsen, mit dem ich jetzt schon über zwanzig Jahre unterwegs bin und das für mein Leben ein großer Segen ist.
Empfangen
Zuerst einmal brauche ich Beziehungen zu Menschen, von denen ich empfange. Hier geht es um Beziehungen zu Menschen, die mir etwas zu geben haben. Die im Leben und Glauben weiter sind, mehr Erfahrung und Weisheit haben – und davon profitiere ich. In diesen Beziehungen geht es zuerst darum, dass ich nehme und empfange! So eine Beziehung hatte ich damals in der Krise eigentlich nur zu meiner Mutter. Sie war über viele Jahre und in vielen Bereichen meines Lebens eine wunderbare Begleiterin. Das war und ist für mich bis heute wirklich ein Geschenk. Aber kein Mensch kann alles abdecken! So lebte meine Mutter räumlich weit weg und war für manche Themen auch „zu dicht“ dran. Darum habe ich mir bewusst eine „mütterliche“ Begleiterin in meiner Gemeinde gesucht. Sie ist zehn Jahre älter als ich und mit ihr traf ich mich über viele Jahre regelmäßig zum Gespräch. Und da ging es dann zuerst einmal um mich und meine Belange! Ich profitierte von der Lebens- und Glaubenserfahrung dieser Freundin. In dieser Beziehung habe ich viel empfangen und tue es bis heute. Inzwischen ist unsere Beziehung nicht mehr so „einseitig“ und stattdessen geprägt vom gegenseitigen Geben und Nehmen.
Seit einigen Jahren habe ich auch eine feste geistliche Begleiterin außerhalb meiner Gemeinde. Wir treffen uns regelmäßig. Dann geht es in den Gesprächen um die Themen im Leben und Glauben, die mich gerade beschäftigen. Dabei hilft mir meine Begleiterin immer wieder, in allem Gottes Wege und sein Dasein in meinem Leben zu entdecken bzw. im Blick zu behalten. Diese Beziehung ist ein großes Geschenk für mich, in der ich ganz viel empfange.
Auf Augenhöhe
Daneben brauche ich Beziehungen zu Menschen, mit denen ich mich auf der gleichen Ebene, sozusagen auf Augenhöhe, befinde.
Damit meine ich Freunde oder Bekannte, die vieles verstehen oder selbst durchmachen, das auch mich beschäftigt. Weil sie zum Beispiel in der gleichen Lebenssituation oder im gleichen Alter sind. Man hat Spaß zusammen, kann aber auch über die Probleme in der Partnerschaft, bei den Kindern oder im Job reden. Oder den Glauben miteinander teilen. Allerdings muss man dann natürlich auch darüber reden und sich öffnen. Sich mit seinen Stärken und Schwächen zeigen. Hier geht es um Beziehungen, in denen wir miteinander unser Leben ehrlich teilen – und davon profitieren dann alle.
In der Kleinkindzeit wuchs so eine Beziehung zu einer Nachbarin. Wir waren beide neu am Ort, im gleichen Alter, hatten beide kleine Kinder – und keine Oma in der Nähe! Wir waren ein wenig aufeinander angewiesen und unterstützten uns gegenseitig. Das war eine ganz wichtige Beziehung in dieser Zeit. Daraus wurde eine echte Freundschaft, die bis heute besteht, obwohl wir inzwischen seit vielen Jahren weit auseinander wohnen.
In diese Kategorie gehören für mich auch meine wirklich guten Freundinnen – vor Ort oder auch weiter entfernt.
„Es ist etwas sehr Befriedigendes und Erfüllendes, anderen zu helfen und sie zu unterstützen.“
Oder ich habe seit vielen Jahren einen tollen Frauenhauskreis in meiner Gemeinde, in dem wir miteinander unterwegs sind und unser Leben und unseren Glauben ehrlich teilen.
Mein Mann und ich haben auch ein paar befreundete Ehepaare, mit denen wir bewusst solche Beziehungen leben. Da werden auch als Paare ehrlich Freud und Leid geteilt und miteinander ausgehalten. Jeder trägt mal die anderen oder wird von ihnen getragen. Diese Beziehungen sind auch eine wichtige Unterstützung für uns als Paar in unserer Ehe.
Geben
Und ich brauche auch Beziehungen zu Menschen, denen ich etwas gebe. Hier geht es um Beziehungen zu Menschen, in die ich mich bewusst investiere. Das kann zeitlich begrenzt sein oder auch nicht. Also Beziehungen, in denen ich mehr gebe als ich empfange. Die mich etwas kosten. Und das meine ich nicht überheblich. Das kann die Beziehung zu den eigenen kleinen oder auch schon großen Kindern sein. Oder zu den altgewordenen Eltern. Das sind Menschen in meiner Familie, Umgebung oder Gemeinde, denen ich meine Hilfe und Unterstützung gebe – praktisch oder „seelisch-moralisch“ oder geistlich.
Wir hatten über viele Jahre in der Familie mit schwerwiegenden Krankheiten bei einer Tochter und bei meinem Mann zu tun. In diesen Zeiten habe ich viel investiert. In meiner Gemeinde begleite ich immer wieder jüngere Frauen, die gerade in ihrer Lebenssituation herausgefordert sind. Mal geht es dabei ums Gespräch, mal ums Kinderhüten. Oder ich unterstütze eine junge, syrische Mutter in verschiedenen Belangen. Oder ich begleite eine Freundin, die gerade eine schwere Krise zu bewältigen hat. Solche Beziehungen sind dann natürlich mitunter auch recht anstrengend und kosten viel. Das gebe ich zu. Aber auch Geben gibt Kraft. Es ist etwas sehr Befriedigendes und Erfüllendes, anderen zu helfen und sie zu unterstützen.
Geben und Nehmen ist gesegnet
Entscheidend ist, dass mein Geben und Nehmen dabei in einem guten Verhältnis stehen. Natürlich sind viele Beziehungen irgendwie ein „Nehmen und Geben“. Aber ich selbst und auch andere sind immer wieder in Situationen, in denen wir mehr geben müssen – oder mehr brauchen, zum Beispiel bei kleinen Kindern, in Krankheitssituationen oder Krisenzeiten. Ich habe gelernt, mir selbst auch immer wieder bewusst zu machen, was ich gerade brauche und was ich gerade geben kann. Ich lerne immer mehr auch Nein zu sagen und gut für mich selbst zu sorgen. Denn ich habe in den letzten zwanzig Jahren die Erfahrung gemacht, dass dann meine Kraft für andere nicht kleiner wird. Im Gegenteil! Durch so ein Netz aus Beziehungen, in denen ich gebe und nehme, fühle ich mich gut aufgehoben und kann dann auch andere tragen.
„Geben ist nicht gesegneter als Nehmen. Der Segen fließt da, wo beides in einem guten Verhältnis steht.“
Darum mache ich auch immer mal wieder „Inventur“. Damit meine ich: Ich schaue regelmäßig, wie gerade meine aktuelle Situation ist und ob mein Beziehungsnetz dazu passt. Stehen Geben und Nehmen in einem Verhältnis, das in der aktuellen Situation angemessen ist? Das ändert sich im Laufe des Lebens immer mal wieder. Meine Erfahrung bei diesem Thema lautet: Geben ist nicht gesegneter als Nehmen. Der Segen fließt da, wo beides in einem guten Verhältnis steht.
Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift JOYCE erschienen, die wie Jesus.de zum SCM Bundes-Verlag gehört.