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Goldene Regel: Warum sie auch heute noch als ethischer Maßstab taugt

„Was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füg auch keinem andern zu“ – so lautet die bekannte goldene Regel. Welchen Stellenwert hat sie eigentlich im Christentum und in der Bibel?

Von Ulrich Wendel

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Porphyrius sitzt in Rom und spitzt die Feder. Das, was er gleich schreibt, wird ein weiterer Sargnagel für die Lehre des Christentums! Das ist zumindest seine Hoffnung. Porphyrius ist eine historische Person, ein Philosoph aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. Ein scharfer Denker, universal interessiert. Eins seiner Arbeitsgebiete ist es, die Christen zu widerlegen. Das funktioniert auf vielerlei Weise. Die Bibelkritik ist eine vorzügliche Methode. Wie läppisch ist doch diese angebliche Heilige Schrift, das Neue Testament. Da findet sich zum Beispiel ein Satz, der aus Sicht eines Philosophen nicht schlecht klingt: „Was man nicht will, dass es andere an einem tun, soll man auch nicht an anderen tun.“ Schön, schön – aber das kennt Porphyrius doch schon lange. Das ist eine olle Kamelle. Wie viele Philosophen vor ihm haben diesen Satz schon gebracht! Darauf sind die Christen also stolz? Auf ein Plagiat? Porphyrius taucht die Feder in die Tinte und beginnt zu schreiben.

Worüber der antike Philosoph hier spottet, ist in der Tat eine Beobachtung, die man in jedem Bibelkommentar lesen kann. Die sogenannte „Goldene Regel“ steht in Matthäus 7,12 und lautet: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“ (Porphyrius war in einer Bibelhandschrift an anderer Stelle auf diese Regel gestoßen, und zwar in der „negativen“ Variante: „Was man nicht will, dass …“). Und es ist seit Langem bekannt, dass Jesus diesen Leitsatz nicht erfunden hat. Seine jüdischen Zeitgenossen kannten ihn. Griechische Philosophen und Dichter in den Jahrhunderten zuvor ebenfalls. Und damit nicht genug, auch die indische Weisheit und der chinesische Philosoph Konfuzius (5./6. Jahrhundert v. Chr.) wussten davon.

Die Goldene Regel: Ein Edelstein aus nichtchristlicher Philosophie?

Ich war richtiggehend enttäuscht, als ich mich mit der Goldenen Regel von Jesus befasste. In ihr soll ja das ganze Gesetz und die Propheten zusammengefasst sein, sagt Jesus. Also der ganze Wille Gottes – in so einer schon damals altbekannten Maxime? Noch dazu in einer Maxime, in der Gott gar nicht vorkommt? Was hat Jesus damit sagen wollen? Hat er das Beste, Edelste aus dem antiken Denken herausgesucht, um es zu würdigen und in seine Lehre aufzunehmen?

Auch das wird man nicht sagen können. Denn das Beste der griechischen Philosophie war dieser Satz gar nicht. Viele der Gelehrten, die über die Goldene Regel diskutierten, meinten: Das ist der Mindeststandard. Denn diesem Satz wird ja schon mal jeder zustimmen können, auch die Ungebildeten. Das ist Ethik light für das allgemeine Volk. Die höheren Sphären der Philosophie gehen über diesen Satz hinaus. Ein Bibelausleger sagt dementsprechend, Jesus wollte hier „nichts Neues sagen, sondern etwas Uraltes, nichts Originelles, sondern etwas Allgemeingültiges, nichts Überraschendes, sondern etwas Einleuchtendes … Jesus ist nur der Botschafter einer ewigen Wahrheit, die grundsätzlich immer und überall und von jedermann anerkannt ist“ (Ethelbert Stauffer). Da stellt sich die Frage umso dringlicher: Wieso fasst gerade dieser Satz „das Gesetz und die Propheten“ zusammen?

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Ein Satz, brauchbar für Egozentriker?

Denken wir nun inhaltlich über die Goldene Regel nach, so werden die Fragen nicht weniger. Gut, diese Maxime ist handlich und passt auf jede Situation. Aber wird die Welt, werden wir Menschen wirklich besser, wenn wir uns danach richten? Man kann da raus doch auch ein sehr bescheidenes Engagement für die anderen ableiten und kann diesen Satz gebrauchen, um immer noch zuerst an sich selbst zu denken. Sehr schnell kann die Goldene Regel abkippen in diese Haltung: So viel erwarte ich ja gar nicht von anderen. Ich will ja gar nicht, dass mein Nachbar sich für mich interessiert. Also brauch ich das auch schon mal nicht ihm gegenüber zu tun. Ich möchte ja gar nicht, dass sich für mich jemand verantwortlich fühlt. Also bin ich von der Verantwortung für andere entlastet. Notfalls könnte ich darauf verzichten, dass andere mir helfen, wenn ich etwa krank oder im Stress bin. Zumindest könnte ich dann darauf verzichten, wenn ich damit erreichen würde, dass ich ebenfalls nicht mehr anderen helfen muss. Dieser schöne Satz der Philosophen und der jüdischen Theologen, den Jesus übernimmt, dieser Satz produziert dann lauter Egozentriker: weil unser Herz meist ichbezogen ist. Durch Lebensweisheit verändert man keinen Menschen zum Guten. Schöne Lehren können nicht erlösen, und Goldene Regeln machen unser verlogenes und verbogenes Herz nicht aufrichtig.

Liebe als nötige Zutat

Hat Jesus die Schwäche der Goldenen Regel nicht selbst erkannt? Blättern wir hinüber ins Lukasevangelium, dann finden wir zwar dort ebenfalls die Goldene Regel (Lukas 6,31). Aber danach stehen Worte von Jesus, die diese Regel fast widerlegen:

Glaubt ihr, ihr hättet dafür Anerkennung verdient, dass ihr die liebt, die euch auch lieben? Das tun sogar die Sünder! Und wenn ihr nur denen Gutes erweist, die euch Gutes tun, was ist daran so anerkennenswert? Selbst Sünder verhalten sich so! Oder wenn ihr nur denen Geld leiht, die es euch zurückzahlen können, was ist daran außergewöhnlich? Selbst Sünder leihen ihresgleichen Geld in der Hoffnung, die volle Summe zurückzuerhalten. Liebt eure Feinde! Erweist ihnen Gutes!

Das bedeutet doch: Geht weit über die Goldene Regel hinaus! Es reicht nicht, wenn ihr anderen nur das tut, was sie euch tun, oder wenn ihr euch so verhaltet, wie andere sich hoffentlich auch verhalten! – Ist das nicht ein Fragezeichen, das die Bibel selbst die Goldene Regel setzt? Tatsächlich muss ja die Liebe zu dieser Maxime hinzukommen, wie Jesus bei Lukas sagt. Der große Reformator Ulrich Zwingli meinte dazu: „Das Gebot der Natur [die Goldene Regel, die auf Gegenseitigkeit beruht] hat Jesus mit der Liebe gezuckert.“

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Wie erwähnt war ich selbst lange Zeit enttäuscht von der Goldenen Regel – oder besser gesagt: von Jesus, der gerade diese Regel zur wichtigsten Norm erhebt. Würde im Neuen Testament etwas fehlen, wenn diese Regel dort nicht stünde?

Warum die Goldene Regel einzigartig ist

Doch bei näherem Hinsehen und nach einigem Lesen entdecke ich mindestens drei Vorzüge, die diese Maxime einzigartig, radikal und unverzichtbar machen. Drei Vorzüge, die mir eine Idee geben, warum Jesus diesen Leitsatz in seine Verkündigung aufgenommen hat:

(1) Komplett beansprucht

In der Bergpredigt beginnt die Goldene Regel mit dem Wort „alles“. Das erinnert mich daran, dass Jesus Anspruch auf mein ganzes Leben erhebt. Es sind nicht nur bestimmte Lebensbereiche, an die ich die Frage zulasse, was Christus von mir will. Jede Zone, jeder Winkel meines Lebens ist von Jesus angefordert. So wollte er ja auch, dass seine Nachfolger über Generationen hinweg „alles“ lehren, was er ihnen geboten hat (Matthäus 28,20). Die Bestimmung der Christen ist es, vollkommen zu sein, wie ihr Vater im Himmel vollkommen ist (Matthäus 5,48).

Ich merke, wie da schnell die Luft dünn für mich wird. Kann ich das hinbekommen, absolut komplett nach Gottes Willen zu leben? Wohl kaum. Ich brauche also noch mehr als die Maxime von Jesus, um seinen Willen zu tun. Ich brauche ihn selbst, Christus. Wie gesagt: Goldene Regeln allein machen unser verlogenes und verbogenes Herz nicht aufrichtig.

(2) Ein bisschen subversiv

Wenn Jesus „alles“ sagt, dann schließt das sicher auch ein: Verhalte dich so gegenüber allen Menschen. Also auch gegenüber denen, die dir unterstellt sind. Gegenüber solchen, denen du eigentlich zu nichts verpflichtet bist. Es ist also auch eine Maxime für Väter und Mütter gegenüber ihren Kindern. Für Vorgesetzte gegenüber ihren Mitarbeitern. Für Privilegierte gegenüber denen, die schlechter gestellt sind. Natürlich gibt es oft ein Autoritätsgefälle: Der Chef muss nun mal führen, sonst bricht der Laden zusammen. Eltern müssen eine gelassene Autorität ausüben, sonst kommen die Kinder ins Schlingern. Aber was erwarte ich als Vater von meinen Kindern, als Vorgesetzter von meinen Mitarbeitern? Mindestens Respekt, Fairness und Ehrlichkeit. Also bin ich (als Vater, als Chef) derjenige, der zuerst fair und ehrlich ist, verlässlich außerdem, und der Respekt zollt. Die Goldene Regel ist da ein kleines bisschen subversiv: Sie stellt alle Menschen auf gleicher Ebene einander gegenüber. So hat es ja auch Paulus in seinen Briefen angeordnet beim Thema Eltern und Kinder, Herren und Sklaven (Epheser 6,1-9; Kolosser 3,18-4,1). Im kleinen Kreis kann das schon revolutionär sein. Durch den Seitenblick auf Paulus zeigt sich: Die Goldene Regel von Jesus ist tief im Neuen Testament verankert.

(3) Tust du’s oder tust du’s nicht?

Was Jesus sagt, konfrontiert mich mit dem Realitäts-Test. Ich bin ganz schlicht gefragt: Tust du’s oder tust du’s nicht? Bleibst du im moralischen Abwägen stehen oder gehst du endlich einen Schritt? Klar, viele Entscheidungssituationen sind kompliziert, im 21. Jahrhundert mehr denn je, wo alles global und vernetzt und multioptional ist. Wir wissen zum Beispiel, dass der Besitz auf dem Globus ungleich verteilt ist und dass wir zu den bestens Versorgten gehören. Wir wissen auch, dass man als einzelner daran nicht viel ändern kann. Wir bemerken es sehr wohl, wenn Spendengelder in bürokratischen Apparaturen versickern. Wir horchen auf, wenn wir hören, wie Regenten in der Dritten Welt Paläste und Armeen finanzieren, während die Bevölkerung hungert. Es scheint einfach nicht mehr möglich zu sein, das Richtige zu tun. Jede Entscheidung hat hier ihre Schattenseiten. Aber der simple Entschluss, an einer Stelle meinen Konsum zu begrenzen, an einem Punkt nicht mehr mitzumachen bei dem Spiel, dass alles jedes Jahr größer und schöner gekauft werden muss, dieser Entschluss bleibt dann auf der Strecke. Jesus entlarvt mein Abwägen und Zögern und Diskutieren und Differenzieren, indem er sagt: Denk doch mal vom anderen her. Ich gebe dir nur diesen schlichten Satz. Die Verworrenheit des Lebens darf dich nicht von den einfachsten Taten abhalten: „All das, was ihr von anderen erwartet, das tut ihr auch ihnen.“ Es ist immer noch besser, eine Tat der Liebe zu versuchen, als gar nichts zu tun.

Bibel, Koran und die Goldene Regel

Zu guter Letzt ist die Goldene Regel von Jesus auch noch von höchster Bedeutung für unser Heftthema „Bibel und Koran“. Denn gerade hier, im Vergleich der Religionen und im Gespräch zwischen ihnen, geht es nicht ohne Fairness. Okay, vielleicht geht es schon – die große Zahl von verfolgten Christen weltweit zeigt uns ja, dass viele Religionen es mit der Fairness nicht so haben. Aber Christen können ihrerseits auf Fairness nicht verzichten.

Wie gehe ich vor, wenn ich die Bibel mit dem Koran vergleiche? Picke ich mir die Koran-Suren heraus, die von Gewalt gegen Andersgläubige sprechen, und stelle sie der biblischen Nächstenliebe gegenüber? Das wäre nicht fair. Von Muslimen würde ich ja erwarten, dass sie sich bemühen, die Bibel im Ganzen zu verstehen, anstatt mir ein paar alttestamentliche Kriegstexte um die Ohren zu hauen.

Also verbietet es sich, dies umgekehrt mit dem Koran zu machen. Die schlichte Goldene Regel würde die Art, wie viele Christen über den Koran reden, ändern, und sie würde zeigen, dass Christen sich hier nicht immer mit Ruhm bekleckert haben. Wie rede ich über Muslime in unserem Land? Dürfen sie Religionsfreiheit genießen? Dürfen sie Moscheen bauen? Vielleicht sogar in meinem Viertel? Natürlich wünschen wir uns, dass christliche Gemeinden in der muslimischen Welt sich ebenfalls entfalten dürfen. Natürlich dürfen wir das auch einfordern. Aber eine Voraussetzung zur Religionsfreiheit von Muslimen hierzulande darf das nicht sein. Im Gegenteil: Wir Christen müssten in Vorleistung gehen. Weil wir von muslimischen Ländern erwarten, dass Christen Lebensraum haben und gefördert werden, müssen wir dasselbe Muslimen in unserem Land geben. Zumindest, wenn die Goldene Regel gilt. Und ganz heiß wird der Boden, wenn wir uns wünschen, Christen dürften in der Türkei, in Malaysia oder Ägypten kulturellen Einfluss haben. Alles, was ihr von anderen erwartet …

Die Goldene Regel als Grundregel für das Sprechen über den Glauben

Überhaupt müssen alle Versuche, die Botschaft des christlichen Glaubens weiterzugeben, entsprechend geprägt sein. Was würde ich mir von jemandem wünschen, den ich gern in der Nähe von Jesus sähe und der sich dem Evangelium öffnen könnte? Dass er mir zuhört. Dass er Jesus nicht mit denjenigen Kirchen und Christen verwechselt, die Christus oft nur schlecht widerspiegeln. Dass er meinem Glauben eine Chance gibt. Wie könnte ich mich selbst da anders verhalten? Mich für den Glauben der anderen nicht interessieren? Mir keine Zeit nehmen, um ihnen zuzuhören? Die Goldene Regel macht Schluss mit jeder Überlegenheitsgeste, die Christen manchmal gegenüber Nichtchristen zeigen.

Wie vergleiche ich also meine geschätzte und geliebte Bibel mit dem Koran, der mir weithin fremd ist? Mit Fairness. Mit Interesse für das so ganz andere Buch. Mit Wertschätzung für die, die diesem Buch folgen. Mit Offenheit dafür, was an diesem fremden Buch vielleicht schön ist – und mit derselben Offenheit für meine eigene Heilige Schrift: dass ich vielleicht gerade durch den Vergleich Schönheiten an ihr entdecke, die ich vorher noch gar nicht im Blick hatte. Das wäre eine Haltung, die dem Willen von Jesus entspräche.


Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Faszination Bibel. Faszination Bibel wird vom SCM Bundes-Verlag herausgegeben, zu dem auch Jesus.de gehört. 

 

 

 

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