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Michael Diener: Warum Zahlen nicht alles sind

Lässt sich der Wert einer Gemeinde an ihrem Erfolg ablesen? Sind 3.000 Kirchbesucher wirklich besser als drei? Ein Kommentar von Michael Diener.

Jede christlich motivierte Begründung, die Zahlen relativiert, greift irgendwie und irgendwann auf Matthäus 18,20 zurück: „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Im Kontext des Kapitels geht es um Jesu Fürsorge für den Einzelnen, um die Warnung vor Verführung, die gegenseitige Ermahnung in der Gemeinde und um die Kraft des Gebets im Namen Jesu, wo immer „zwei oder drei einig werden“. Überhaupt lässt sich sagen, dass die Hochschätzung des Kleinen, Schwachen (z. B. Micha 5,2) oder der „kleinen Herde“ (Lukas 12,32) durchgehend auf Gottes begleitendes Handeln, auf seinen anderen Blick für Menschen und Situationen verweist. Nie, aber wirklich nie geht es dabei um die Rechtfertigung eines zahlenmäßig geringen Status Quo. Denn wenn Zahlen so völlig unbedeutend wären, warum hat Jesus dann, laut Evangelisten, 5.000 und 4.000 Menschen gesättigt und nicht 50 und 40? Wäre doch auch schon phänomenal gewesen angesichts der begrenzten Ressourcen. Und warum legt die Apostelgeschichte so großen Wert darauf, dass sich nach der Pfingstpredigt des Petrus „etwa 3.000 Menschen“ (Apostelgeschichte 2,41) der Gemeinde hinzufügen ließen?

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Große Zahlen können irren

Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen – das Evangelium ist weder ein Aufruf zum Minimalismus noch ein Guinness-Buch der Zahlenrekorde. Und das ist ja auch völlig logisch, weil wirklich jede und jeder von uns gelernt hat, zwischen Quantität und Qualität zu unterscheiden. Mit Recht. Wohlgemerkt: zu unterscheiden und nicht völlig zu trennen. Wir wissen, dass fast jeder (geistliche oder politische) Aufbruch erst einmal als Häresie, als Abweichung mit kleinen Zahlen begann und dass große Zahlen irren können. Auch bei demokratischen Wahlen (ich erspare mir sehr subjektive Beispiele dafür).

Michael Diener (epd-Bild / Norbert Neetz)

Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass sich Menschen, gerade auch Christenmenschen, der Diktatur der Zahlen entziehen in einer Zeit, in der Zahlen oft alles sind („Follower auf Twitter“, Absatzzahlen, Einschaltquoten, Kontostände) und das empfundene Diktat der Zahlen genau den oben geschilderten, eigentlich völlig naheliegenden und vernünftigen Blick auf die Unterscheidung von Quantität und Qualität verstellt. Das liegt sozusagen in unserem menschlichen Wesen, aber eben auch im Wesen des Evangeliums. Wo die Zahlen regieren, geht oft der Blick auf den Einzelnen verloren, aber genau der zählt in der jüdisch-christlichen Überlieferung. Da bekommt von Anfang an alles seinen Namen, wird angesehen, für gut befunden, wertgeschätzt, geschützt, begleitet, gesucht, in Verantwortung genommen. Zahlen sind ein Wunderwerk und Teil der Schöpfung – leider ein Teil der Schöpfung, den ich in seiner Tiefe noch nie so recht verstanden habe. Nicht mal im Traum werde ich mich jemals an der Lösung eines der sechs verbliebenen ungelösten „Millennium-Probleme“ der Mathematik versuchen, selbst wenn deren Lösung mit 100 Millionen statt mit 1 Million US-Dollar dotiert wäre. Aber ganz klar: Zahlen sind nicht alles und dürfen nicht alles sein. Gerade weil sich in unserer Welt so viel „rechnen muss“, sollen sich nicht auch noch Glaubensangelegenheiten rechnen müssen. Denn da geht es – Gott sei Dank – dem Gott, der drei in eins ist, ja zuallererst um Liebe, grenzenlose, ewige, göttliche Liebe, und die lässt sich nicht in Zahlen umfassend ausdrücken und beschreiben.

Und dann ist da ja noch das völlig Unverrechenbare: Das nicht unter Zahlen zu begrabende Vertrauen, dass unser Gott fähig ist, über Zahlen hinaus. Wie viele Veranstaltungen und Gebäude, wie viele Personaleinstellungen wären nicht erfolgt, wenn Menschen nur auf das Vorhandene, nur auf die Zahlen geschaut und nicht damit gerechnet, besser: darauf vertraut hätten, dass das Wunder der Vermehrung zu jeder Zeit und an jedem Ort wieder geschehen kann und geschieht. Ja, ich kann es schreiben, ich kann es singen, das Lied, dass Zahlen nicht alles sind, und ich lebe es auch – auch in meinem Leben, in meinem Alltag, denn sonst fehlt eine Tiefendimension des Lebens und Glaubens, die unaufgebbar ist.

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Kleinen Zahlen nicht verleugnen

Aber das ist eben auch nur die eine Seite der Medaille: Wie viele Veranstaltungen fanden statt, wie viele Gebäude wurden gebaut, wie viele Menschen eingestellt – und all das wäre besser nie erfolgt, weil es schlicht und ergreifend falsche Entscheidungen waren, nein, nicht nur ablesbar an Zahlen, sondern auch an der tiefen nachfolgenden Depression der dabei Beteiligten. Die Macht der Zahlen darf nicht unbegrenzt sein, aber ihre Relevanz zu leugnen, das geht nun auch nicht. Unter solchen vermeintlichen Glaubensschritten (wir beurteilen derartige Vorhaben dann oft nach Erfolg oder Misserfolg, wieder messbar an Zahlen) leiden dann so manches Mal ganze nachfolgende Generationen. Und mal Hand aufs Herz: Unser jüdisch-christlicher Glaube hat doch eben nicht nur die individuell „minimalistische“ Perspektive, sondern eben auch die universal „maximalistische“ Sicht. Wenn eines Tages alle Völker zum Berg Zion pilgern, dann darf ich doch wenigstens die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich auf dem Weg dahin auch ein paar in meine Gemeinde, in unsere Initiative verirren, oder? Und auch wenn wir Menschen „das absolut nicht machen“ können, sondern hier die Theologie der Angewiesenheit gilt, der leeren Hände, wie bei allem, wo es letztlich um Frucht geht, sind wir doch aufgefordert, als gute Dienerinnen und Diener unseres Herrn unseren Verstand und unser Herz, unsere Füße und Hände wirklich zu gebrauchen, um das geistliche (!) „Bruttosozialprodukt“ zu steigern. Wenn dabei die ehrlichste und tiefste Motivation eben nicht die immer größere Zahl, sondern das Weitergeben dieser oben so gepriesenen Liebe ist, dann haben alle Bemühungen auch das so notwendige inhärente Korrektiv.

Ganz fatal wird es, wenn die kleine Zahl sogar als Beweis der inhaltlichen Qualität herhalten muss. Ich habe nicht nur einmal erlebt, dass mit dem Hinweis darauf, dass das Heil letztlich ja eh nur den Wenigen auf dem schmalen Weg mit der engen Pforte (Matthäus 7,14) verheißen ist, jegliches Wachstum und alle großen Versammlungen als suspekt und höchstwahrscheinlich zeitgeistig infiziert betrachtet wurden. Was von außerhalb recht leicht als sektiererische, gesetzliche, weil nicht von der göttlichen Liebe geleitete Anschauung erkennbar war, hatte sich nach innen zuerst radikalisiert und dann zunehmend gegen jegliche Veränderung immunisiert – bis dann mal jemand kam und den völlig irrelevanten Laden einfach dichtmachte.

Kirche als letzter „offener “ im Dorf

Während ich diesen Artikel schreibe, denke ich an meine kürzlich erfolgten Besuche in zwei Kirchenkreisen der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Ungefähr 46.000 Gemeindeglieder in etwa 370 (!) Kirchengemeinden mit ungefähr 450 (!) Kirchengebäuden in einer der strukturschwächsten Regionen Deutschlands, in der teilweise die Kirchenmitgliedschaft nur noch 5 % beträgt. Völlig unmöglich, dass die in der Verkündigung involvierten Haupt-und Ehrenamtlichen in jeder Gemeinde und schon gar nicht in jeder Kirche regelmäßig Gottesdienste feiern. Aber völlig üblich, dass die Zahl der Gottesdienstbesucher in der Regel gering ist, oftmals einstellig. Wie lebt es sich hier mit Zahlen? Tief berührt hat mich bei diesen Besuchen eine spürbare „realistische Zuversicht“. Da werden keine Wolkenkuckucksheime gebaut, sondern treu und dankbar mit den wenigen Gottesdienstbesuchern Gottesdienst gefeiert: „Wo zwei oder drei versammelt sind“ … Da ist die Kirche wirklich oft das Letzte, was eben noch im Dorf geblieben ist – da regieren nicht die Zahlen, sondern die Hoffnung des Glaubens. Aber zugleich wurden viele Pfarrstellen aufgegeben, Kirchengemeinden in Gemeindeverbänden zusammengefasst, die Zahl der Gottesdienste begrenzt. Und zugleich hört auch das Fragen und Suchen nicht auf, wie Menschen zu erreichen sind, wie Gemeinde der Zukunft in so einer Region aussehen kann. Da wird experimentiert und quergedacht, Neues probiert und so mancher inzwischen alt gewordene Zopf auch abgeschnitten.

Was lernen wir daraus? Nein, Zahlen sind nicht alles. Geistliche Grundvollzüge lassen sich nicht einfach mit Zahlen beschreiben und an Zahlen messen. Die Verheißungen und das Unverrechenbare des Glaubens dürfen nicht unter Zahlen erstickt werden. Zugleich muss sich ein Evangelium, welches für die Menschen da ist, daran messen lassen, ob es die Menschen auch hören, ob es Menschen wirklich erreicht. Da ist der ernsthafte Blick auf und dann über die stetig sinkenden Zahlen der Kirchenmitgliedschaft hinaus bitter notwendig. Vielleicht – ein schmerzlicher Gedanke – wird das bewusste Hinsehen zu den Adressaten des Evangeliums in ihrer Gänze ja sogar erleichtert, wenn die Mitgliedschaftszahlen sinken. Es braucht viel mehr Mut, Kreativität, unterschiedlichste Gottesdienstformen, unterschiedlichste Gemeindeformate, viel mehr Vielfalt in Sachen Musik und Sprache, anstatt „Lamentiererei“ aufgrund einer wertzuschätzenden, aber schwindenden und oft sehr milieuverengten Kerngemeinde. Am Ende zählt, ob die Liebe ankommt.

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Dr. Michael Diener ist noch bis August 2020 Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbands und Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift „3E“ erschienen, die wie Jesus.de zum SCM Bundes-Verlag gehört.

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