Im Christentum, Judentum und Islam ist das menschliche Leben von Gott gewollt und von Anfang an zu schützen. Michael Schröder, Bereichsleiter der Stiftung ProVita und Pastor der FeG Dautphe, gibt in ChristseinHeute einen Überblick zu Besonderheiten und Übereinstimmungen in den Religionen.
JUDENTUM
Die jüdische Auffassung geht von 2. Mose 21,22-25 aus, wo die Frage des ungeborenen Lebens im Mittelpunkt steht. Bei einem Streit von Männern wird eine schwangere Frau verletzt. Sie verliert das ungeborene Kind. Trägt die Frau keinen dauerhaften Schaden davon, so ist für den Verlust des Kindes eine Entschädigung zu zahlen. In späteren Zeiten haben jüdische Lehrer (Rabbinen) festgestellt, dass das Kind als Teil der Mutter anzusehen ist. Mit der Geburt ist das Kind ein Mensch im umfassenden Sinn. Erst 40 Tage nach der Befruchtung erhält das Kind seine Seele vom Schöpfer. Vorher ist Leben vorhanden, aber es ist kein menschliches Leben. Man spricht von einer „Sukzessiv-Beseelung“, d.h. die Seele kommt später hinzu. Die Folgen sind weitreichend. Bei aller Ablehnung von Abtreibungen können diese durchgeführt werden, wenn schwere Erkrankungen bei der Mutter oder dem Kind festgestellt werden. Selbst eine Spätabtreibung ist möglich, da das Kind nicht „den gleichen Personenstatus hat wie die Mutter“ (Rabbiner Julian-Chaim Soussan). Forschungen an Embryonen sind kaum eingeschränkt, da sich in einem Reagenzglas gezeugte Embryonen außerhalb des Mutterleibes befinden und nicht älter als 40 Tage alt sind. Sie gelten als nicht beseelt. In Israel wird die Forschung an embryonalen Stammzellen gefördert, und auch das therapeutische Klonen von Zellen ist erlaubt.
ISLAM
Die Vorstellung der Beseelung am 40. Tag findet sich auch im islamischen Denken wieder. Man bezieht sich unter anderem auf Sure 23,12-16 im Koran. Das ungeborene Leben durchläuft drei Stadien: Tropfenstadium: Tag 40; Blutstadium: Tag 80 und das sogenannte Fleischklümpchenstadium: Tag 120. Es gibt keine Übereinstimmung im Islam, wann genau die Beseelung abgeschlossen ist. Einig ist man sich, dass es frühestens am 40. Tag geschieht. Man steht einer Abtreibung grundsätzlich ablehnend gegenüber. Sollten aber Krankheiten bei der Mutter oder dem Kind vorliegen, so ist diese möglich. Wie im Judentum ist ein Embryo vor dem 40. Tag nur ein potenzieller Mensch und hat keinen vollständigen Schutz. Daher sind Forschungen an Embryonen möglich und können zu einer Pflicht werden, sollten sich damit Krankheiten heilen lassen.
CHRISTENTUM
In der christlichen Tradition wurde ebenfalls die Annahme der Sukzessivbeseelung vertreten. Diese geht auf die philosophische Unterscheidung zwischen dem unbeseelten und beseelten Zustand ungeborenen Lebens zurück. In der römisch-katholischen Kirche wird heute darauf hingewiesen, dass die Vorstellung einer Beseelung am 40. Tag nach der Empfängnis „die Lehre der Kirche belastete“ (Karl Kardinal Lehmann, 2001). Damit war es prinzipiell möglich, eine Schwangerschaft bis zu diesem Tag abzubrechen. Seit der Alten Kirche hat es auch Stimmen gegeben, die Abtreibung verwarfen, und den Schutz des Lebens von Anfang an betonten. Tertullian hat sich am Übergang vom 2. zum 3. Jahrhundert geäußert: „Vorweggenommener Mord ist es, wenn man eine Geburt verhindert, und es macht keinen Unterschied, ob man ein schon geborenes Leben raubt oder es im Entstehen vernichtet.“
Im 20. Jahrhundert hat sich unter dem Einfluss naturwissenschaftlicher Forschungen die Erkenntnis durchgesetzt, dass menschliches Leben mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt. Mit der Befruchtung entsteht etwas, das sich nicht zum Menschen, sondern von diesem Zeitpunkt an „nach diesem individuellen Bauplan als Mensch“ entwickelt. Daher sollte nach katholischer Lehre, und nach Meinung vieler evangelischen Kirchen, das Leben von Anfang an geschützt werden. Forschungen an menschlichen Embryonen werden daher kritisch gesehen und weitgehend abgelehnt. So ist die Frage, wann das Leben beginnt, nicht präzise genug. Es ist zu klären, wann der menschliche Embryo als Individuum bzw. als Person anzusehen ist. Hier zeigen sich deutliche Übereinstimmungen zwischen römisch-katholischer Lehrmeinung und evangelischen Überzeugungen, dass das Leben von Anfang an zu schützen ist.
Der Artikel ist zuerst in der Zeitschrift ChristseinHeute erschienen und ist der Auftakt einer Reihe von Artikeln, die sich in der aktuellen Ausgabe mit dem Thema „Recht auf Leben“ beschäftigen.