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Gemeinde: Beziehungsstatus – es ist kompliziert

Eine Hass-Liebeserklärung an die Kirche.

„Was redest du da? Die Harry Potter Bücher sind viel besser als die Filme! Sag mir, welche Szene, und ich kann dir genau erklären, wie sie sich vom Original unterscheidet.“ Seit einer Stunde bereits sitze ich hier mit Malte (Name geändert) und diskutiere über Themen, die weit außerhalb meiner Welt liegen. Malte ist Teil von „Unterwegs“, einer Studentengruppe, in der ich mitarbeite: In einem Café in der Stadt können Studenten vorbeikommen zum Lernen, Kaffee trinken, auf den Sofas schlafen, quatschen … und die praktische Liebe Gottes erfahren. Die Menschen, die hier durch die Tür kommen, sind echte Charaktere. Englisch-Enthusiasten, Manga-Fanatiker, vegane Aktivisten, überzeugte Atheisten. Mit ihnen ins Gespräch zu kommen und ihnen Gott vorzuleben, fordert mich unheimlich heraus, über meinen Glauben und das nachzudenken, was ich bisher über Gott weiß. Sie und viele andere sind wie Nadeln in meiner Geschichte, die langsam die „christliche Blase“ meines Lebens und Glaubens zerstechen.

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Abgekapselt

Diese Blase ist über viele Jahre gewachsen und zu einer sicheren Wohlfühlzone geworden. Ich habe Gott als liebenden Vater und treuen Freund kennengelernt, weil meine Eltern mir den Glauben praktisch vorgelebt haben. Wir sind mehrmals umgezogen, haben eine Zeit lang im Ausland gelebt. Ich habe die verschiedenen Stationen eines frommen Kindes durchlaufen – von Sonntagsschule über Jungschar bis Jugendkreis –, habe auf vielen Bühnen gestanden, Lobpreis geleitet oder gepredigt. Ich bin bei allen Aktionen dabei gewesen. Statt mich in eine wilde Pubertät zu stürzen, habe ich die meiste Zeit in der Gemeinde verbracht. Für jede Situation hatte ich einen Bibelvers parat. Viele Menschen haben mich gefördert und mir viel zugetraut, wofür ich ihnen bis heute sehr dankbar bin. Ich habe Gemeinde als eine wunderbare Erfindung kennengelernt, um Gottes Charakter in dieser Welt sichtbar zu machen. Sie kann natürlich auch schnell zum Verhängnis werden: eine Blase, in der ich mich wohlfühle und mit gutem Gewissen die böse Welt da draußen verurteilen kann. Und in den letzten Jahren hat diese Blase ein paar Risse bekommen.

Absturz

Ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich in den letzten Jahren im Gottesdienst war. Ich – die Mitarbeiterin, Lobpreisleiterin, Glaubensvorbild, Ermutigerin, Geberin – habe aufgehört, das fromme Spiel mitzuspielen. Es gibt zu viele Sonntage, an denen ich mich mit leeren Händen und leerem Herz zum Gottesdienst gezwungen habe und wütend wieder gegangen bin. Ich bin ernüchtert darüber, wie schnell man plötzlich alleine dasteht. Das letzte Studienjahr ist unerwartet anstrengend für mich, und ich ziehe mich aus vielen Aufgaben zurück. Mir fehlt die Kraft, in Freundschaften zu investieren. Ich brauche Menschen, die in mich investieren, doch so viele Freunde bleiben stumm. Für viele bin ich uninteressant, wenn ich nicht mehr gebe, sondern nur sein kann. Mein Bild von mir selbst und Freundschaft ist erschüttert. Ich bin frustriert darüber, dass vieles an der Oberfläche bleibt, obwohl wir uns als „Familie“ bezeichnen. Das bedeutet doch, Feste zu feiern, aber auch Stürme gemeinsam auszuhalten. Als sich das Leben von seiner dunklen Seite zeigt, beginne ich, an dem zu zweifeln, was ich über mich, Gott und andere Menschen weiß. Scheinbare Glaubensüberzeugungen klingen plötzlich wie hohle Phrasen. Wenn ich versuche, diese Fragen mit anderen Christen zu teilen, bekomme ich oft nur ein „ich bete für dich“ oder „vertrau einfach auf Gott“ als schnelle Antwort. Wer lässt sich schon gerne auf unangenehme Fragen ein, die an deinem bisherigen Fundament rütteln?

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Gemeinde als Performance

Ich bin erstaunt über die Undurchlässigkeit dieser Blase, in der viele von uns leben. Ich lerne Menschen von „da draußen“ kennen; Menschen wie Malte bei „Unterwegs“, die weit außerhalb meiner Welt leben und mir dennoch mehr Liebe, Interesse, Hilfsbereitschaft und Offenheit entgegenbringen als so manch andere, die sich „Christen“ nennen. Welches Recht habe ich eigentlich, sie nach meinen „christlichen“ Maßstäben zu beurteilen – und oft auch zu verurteilen? Ich bin verärgert darüber, dass der perfekte Rahmen oft wichtiger ist als die Menschen, die durch unsere Tür kommen. Noch ein Meeting, noch ein tolleres Event. Im Gottesdienst geht es um Entertainment mit einer aufwändigen Lichtshow, Worshipkonzert und einer „Message“ in hipper Sprache von einem Hipsterpastor, der von einem iPad abliest. Jeder ist herzlich willkommen – solange er das perfektionistische Spiel mitspielt. Gemeinde wird für mich immer mehr zu einer Performance, die ich nicht mehr mitmachen möchte. Also gehe ich. Ich stürze in ein Loch, als ich merke, wie sehr mich Kirche und Gemeinde geprägt haben. Mich plagt das Gewissen, weil ich mich nicht mehr wie ein „guter Christ“ verhalte, der Bibel liest, regelmäßig betet und sich in der Gemeinde einbringt. Gleichzeitig hinterfrage ich genau diese Rituale: Sind sie zu meinem Gott geworden? Kenne ich Gott denn eigentlich oder folge ich bloßen Formen, die ins Nichts führen? Wenn ich tief in mich hineinhöre, habe ich Angst, dass ich mich selbst verliere und am Ende mit leeren Händen dastehe.

Die Blase ist geplatzt

Verliere ich jetzt meinen Glauben? In dieser Zeit überrascht Gott selbst mich an Orten und in Situationen, wo ich ihn bisher nicht erwartet hätte. In den gewöhnlichen Geschichten des Alltags taucht er auf und zeigt mir, dass er größer, tiefer und unerwarteter ist als alles, was ich bisher von ihm wusste. An einem kalten Februarmorgen fahre ich mit der Bahn zur Arbeit. Es ist noch dunkel und die meisten Mitfahrer schlafen. Während der Zug durch die Dunkelheit schleicht, geht im Neckartal die Sonne auf. Erste Lichtstrahlen brechen durch den Nebel und erhellen die Nacht. Bäume und der Fluss werden sichtbar, in der Ferne ragt ein Schloss auf, Dunst steigt von den Feldern empor. Ich sitze sprachlos da und kann einfach nur zusehen. Alles ist so friedlich, ich bin wach und darf diesen Morgen erleben. Es ist ein Geschenk des Himmels. Plötzlich höre ich Gott in mir flüstern: Das bin ich. Ich bin hier. Ich begegne dir, auch und gerade, wenn du es nicht erwartest. Und so trete ich aus dieser scheinbar sicheren Blase heraus und wage die ersten Schritte aufs offene Meer. Ich fühle Freiheit, dass ich nichts tun muss, aber ausprobieren darf. Ich finde Ruhe in der Erkenntnis, dass ich nicht auf alle Fragen eine Antwort haben muss und am Ende jemand anderes Richter sein wird. Wie bei einer Zwiebel ziehe ich Schichten meines Glaubens ab und lasse falsche Überzeugungen los. Ich fasse Mut und erzähle von meinen Fragen und Zweifeln. Auf dieser Reise treffe ich andere Frokis (fromme Kinder), die so sehr mit ihrem Glauben kämpfen und dennoch einen so großen Hunger nach Spiritualität und Dazugehören haben. Ich lerne, Menschen und ihre Geschichten zu schätzen, egal wie sehr sie sich von meiner eigenen unterscheiden. Unerwartete, neue Begegnungen mit Gott wecken in mir wieder den Wunsch, Gott mit anderen zu suchen, zu entdecken und zu feiern. Und so wage ich es und gehe zurück, zurück in die Kirche. Mein Gottesdienst ist die Gemeinschaft mit Freunden, die durch schwere Zeiten gehen. Es fallen keine großen Worte. Wir schweigen, wir weinen, wir kämpfen. Wir warten, bis ein stiller Friede in unseren Herzen einzieht. Mein Gebet ist oft nur ein „Herr, erbarme dich“, wenn mir angesichts des Lebens und seinen Herausforderungen die Worte fehlen. Ich lerne, ehrlich mit Gott zu sein, auch wenn dabei keine schönen Worte herauskommen. Meine Liturgie ist teilweise überraschend, teilweise altbekannt. Ich finde Gott in wohlvertrauten Bibelversen, alten Kirchenmelodien oder Liedern aus dem Radio wieder. Ich höre seine Stimme in den Worten anderer oder tief in meinem Herzen. Mein Lobpreis sind wunderbare Abende mit gutem Essen und Gemeinschaft, wenn wir uns am Tisch austauschen, was Gott in unserem Leben tut, so klein es auch sein mag. Mein Glaube heißt, das Leben als Ganzes zu umarmen, mit allen hellen Momenten und dunklen Schatten. Meine Gemeinde ist dort, wo mir Gott begegnet. Im Café, in der Bahn, bei der Arbeit, in der Stille. In den Geschichten des Alltags, in denen Menschen ihre leeren Hände ausstrecken und von Gott reich beschenkt werden. Hier draußen ist er bereits am Werk – und genau dort möchte ich ihn finden.

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Von Katha von Dessien


Als Third Culture Kid hat Katha von Dessien schon einiges von dieser Welt gesehen. Am meisten beeindruckt haben sie dabei Menschen, die sie zum Nachdenken über Gott, sich selbst und andere herausgefordert haben. Sie lebt und arbeitet in Stuttgart, wo sie gerne Menschen einlädt und ihren Geschichten zuhört. Darüber schreibt sie regelmäßig auf www.thisiskatha.com. Ihr erstes Buch „Fliege ins Leben, lande bei Gott“ ist im September 2017 im Verlag der Francke-Buchhandlung erschienen

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