Jan Frerichs ist überzeugt: Wir brauchen mehr „wilde Kirchen“. Gott ist überall erfahrbar – auch an vielfach gemiedenen Orten.
Es sind wilde Zeiten für die großen Kirchen. Ihnen laufen die Mitglieder davon. Brauchen wir da nicht eher eine zahme Kirche?
Kommt drauf an, was man unter „wild“ und „zahm“ versteht. Sagen wir mal so: Wenn die großen Kirchen versuchen, ihre Mitglieder unter Kontrolle zu bringen, weil das „Wilde“ grundsätzlich als etwas Bedrohliches und zu Überwindendes angesehen wird, dann weiß ich nicht, ob das irgendwen begeistert. Wenn das „Wilde“ einfach erstmal das ist, was aus sich selbst heraus lebt, aus der eigenen Würde, aus Autonomie und aus der eigenen Verantwortung, dann kann man natürlich einen Raum für Vertrauen und Freundschaft auf Augenhöhe entstehen lassen. Ich würde den Verantwortlichen in Kirche die Anleitung des Fuchses in der Geschichte vom kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry zur Lektüre empfehlen. Und „Evangelii Gaudium“ von Papst Franziskus, wo es ja auch um den Instinkt der Gläubigen geht.
Sie schreiben für die, die ihre spirituelle Heimat verloren haben. Hatten Sie diese jemals in der Kirche?
Oh ja. Und ich habe sie immer noch. Vielleicht muss ich sagen, dass ich Glück hatte. Das heißt, ich bin in der Kirche Menschen begegnet und habe Geschichten und Gedanken gelesen von Menschen, die mir ermöglicht haben, mich zu entwickeln und zu wachsen. Ich war Franziskaner und fühle mich immer noch zur franziskanischen Familie zugehörig. Ich bin meinen Brüdern und Schwestern dankbar für die Begleitung auf meinem Weg und ich fühle mich auch mitverantwortlich für das Erbe dieser Tradition.
Was müsste in einer Ortsgemeinde passieren, dass Menschen in ihr wieder Heimat finden? Oder geht dieses Heimatfinden schlicht an der Kirche vorbei? Braucht es sie gar nicht mehr?
Wir sollten aufhören, die Probleme der Institution zu lösen und aufhören, die Frage zu stellen, ob Menschen „zur Kirche gehen“ oder eben in der Kirche Heimat finden oder sonst irgendwas. Die Menschen SIND alle gemeinsam die Kirche, der „Leib Christi“, wie es Paulus im ersten Korintherbrief formuliert. Nicht die Leute gehen zur Kirche, die Kirche – als Institution – dient den Menschen. Und das muss der Ausgangspunkt für alle Überlegungen sein. Dann ist die Frage, was die Menschen brauchen und wie die Institution ihnen dienen kann.
Nach was für einer Erfahrung hungern und dürsten ihrer Überzeugung nach die Menschen?
Ich würde sagen: Bedingungslose Akzeptanz. Denn in unserer Kultur ist das sehr, sehr selten geworden. Ich würde sagen, so gut wie alle unsere sozialen Beziehungen bis in die Partnerschaft hinein sind geprägt von Bedingungen, Erwartungen, Bewertungen und so weiter.
Wir sollten aufhören, die Probleme der Institution zu lösen.
Jan Frerichs
Kirche könnte und sollte Erfahrungen der bedingungslosen Akzeptanz ermöglichen. In der Tradition sprechen wir von Barmherzigkeit, aber das wird leider weitgehend reduziert auf caritatives Engagement, was dann wieder Bewertungen mit sich bringt: Ich bin stark, du bist schwach. Ich helfe dir, du lässt dir helfen. Barmherzigkeit ist Ausdruck einer Bedingungslosigkeit, die Jesus an den Tag gelegt hat, wenn er mit den „Sündern“ verkehrt hat, die ja nicht hilflos waren, sondern abgesondert worden waren – Sünde kommt von „absondern“ –, weil sie bestimmte Bedingungen und Erwartungen nicht erfüllt haben. Kurzum: Jesus hat niemanden ausgeschlossen. Kirche könnte und sollte solche Orte schaffen.
Sie waren junger Franziskaner, studierten Theologie. Das Studium löste ihren „Kinderglauben auf wie ein Säurebad.“ Sie machten sich auf eine lange Pilgerreise. Hinter Bologna machten Sie in einem Kloster mitten im Grünen eine fundamentale Gotteserfahrung. Jetzt können sich nicht alle spirituell Suchenden zu Fuß nach Italien aufmachen. Wie kann ich die Wilde Kirche in meinem Alltag entdecken/leben?
Gott kann ich überall erfahren und sogar in mir selbst. Wir leben IN Gott, alles existiert IN Gott und aus Gott heraus – das ist vielleicht das Wichtigste, was wir von den schöpfungsorientierten Traditionen lernen können. Ich brauche also NICHT tausende Kilometer zu laufen oder zu fahren, um einen brennenden Dornbusch zu finden. Wichtig ist nur, dass ich mich auf die Wildnis einlasse, also jene Bereiche des Lebens, die wir nicht so ohne weiteres kontrollieren und oft lieber meiden. Der beste Weg zur Erfahrung Gottes liegt darin, KEINE Erfahrung auszuschließen. Jede Erfahrung, die ich mache – ob sie mir positiv oder negativ erscheint – kann eine Tür zu Gott sein. Freude UND Leid. Tod UND Auferstehung. Das Geheimnis ist das UND.
Was meinen Sie, wenn Sie sagen „Wir müssen die Seele entkolonialisieren“?
Kolonialisierung ist ja erstmal ein politischer und historischer Begriff. Da geht es um Machtverhältnisse und Kontrolle über fremde Gebiete und ihre Bevölkerung. Ich möchte das als Sinnbild nehmen für Prozesse, die auch in uns geschehen. Wir alle entwickeln Muster der Selbstkontrolle, die unsere Persönlichkeit prägen. Wenn wir uns aber dauerhaft und vollständig identifizieren mit dieser Persönlichkeit und den Normen, die sie ausmachen, und in der Folge bestimmte unerwünschte Seiten von uns oder Impulse in uns unterdrücken, dann beginnt das, was ich hier mit innerer Kolonialisierung meine. Und dann können wir sicher sein, dass das Folgen hat.
Ich kann die Entkolonialisierung zum Beispiel im Hinblick auf Ausbeutung durchdeklinieren: Wo beute ich mich selbst aus zugunsten irgendeiner Norm, die mich beherrscht? Oder: Unterdrückte Emotionen wie Wut oder Trauer brechen sich dann auf anderen Wegen Bahn. Jeder kennt das eigentlich. Und schließlich werden wir das, was wir in uns selbst ausbeuten oder unterdrücken, auch an anderen ausbeuten oder ablehnen und das ist letztlich ein Nährboden für Ungerechtigkeit, Gewalt, Rassismus, Sexismus und jegliche andere Form von Diskriminierung. Insofern bedeutet Entkolonialisierung der Seele, dass wir bei uns damit beginnen, alles zu integrieren – und das heißt nichts anderes, als zu lieben. So betrachtet wäre die Entkolonialisierung der Seele ein wichtiger Schritt, wenn es um persönliche Reife geht und die Grundlage für eine Gesellschaft, in der niemand ausgeschlossen, unterdrückt oder diskriminiert wird. Und mit Jesus würde ich sagen: So entsteht Raum für das „Reich Gottes“.
Jesus hat niemanden ausgeschlossen. Kirche könnte und sollte solche Orte schaffen.
Jan Frerichs
Einerseits ermutigen Sie zur Beschäftigung mit der Bibel, anderseits heben Sie hervor, dass wir trotz „allen Studierens“ Zuschauer bleiben, weil wir nicht an die Quelle, den Ursprung kommen. Wie können wir die Bibel dann anders oder richtiger lesen?
Wir müssen einfach lernen, Studium und Erfahrung zu unterscheiden und nicht zu verwechseln. Studium ist Reflexion und Analyse von Erfahrungen. Im besten Fall der eigenen, größtenteils aber Beschäftigung mit den Erfahrungen anderer, was natürlich sehr fruchtbar sein kann für das Verständnis der eigenen Erfahrungen. Wenn ich also die Bibel als Zuschauer lese, hat das nichts mehr mit eigenen Erfahrungen zu tun. Deshalb beschreibe ich im Buch „Wilde Kirche“ eine Methode, die dem ähnelt, was anderswo Bibliolog genannt wird. Solche Formen ermöglichen, selbst eine Erfahrung IN einem Text zu machen – zwischen den Zeilen, wenn man so will. Und das kann dann der Ausgangspunkt sein für das Studium oder auch Erkenntnis aus dem Studium vertiefen.
Wo und wie kann „Wilde Kirche“ in einem normalen Alltag stattfinden, Gestalt gewinnen, zur Quelle werden?
Überall und jederzeit, „wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst“, wie es in Deuteronomium 6,7 heißt. Oder eben „wo zwei oder drei“ versammelt sind – laut Matthäus 18,20. Ich will damit sagen: Wir müssen diese Kirche nicht erst stattfinden lassen, sie findet die ganze Zeit statt, die Frage ist, was wir brauchen, um das wahrzunehmen.
Sie sagen, dass man eine „Wilde Kirche“ nicht „gründen“ kann. Wie geht’s dann?
Wilde Kirche findet immer statt zwischen den Zeilen. Es wäre hilfreich und wichtig, zwischen den Zeilen lesen zu lernen. Und natürlich kann es hilfreich sein, dafür Räume zu schaffen. Eine Gruppe beispielsweise, die sich trifft, um miteinander im Kreis zu sitzen und sich über die eigenen Erfahrungen oder eben die Bibel auszutauschen. Das klingt nicht besonders spektakulär und neu und das ist genau der Punkt: Es braucht überhaupt nichts Neues.
Wilde Kirche findet immer statt zwischen den Zeilen.
Jan Frerichs
Sehen Sie eine Möglichkeit, die Wilde Kirche mit der traditionellen Kirche zusammenzubringen?
Wenn mit „traditioneller Kirche“ die Institution gemeint ist, dann wäre ihre genuine Aufgabe, solche Räume zu schaffen, in denen Wilde Kirche erfahrbar wird. Freilich stellt sich dann weniger die Frage, ob jemand in die Kirche (aus Stein) geht, sondern wo Gott erfahrbar ist. Und dann kommt die wilde Natur als Option vielleicht neu in den Blick. Aber auch andere „wilde“ Orte – ich denke an Armenviertel, Altenheime oder andere gesellschaftlich vielfach gemiedene Orte. Nur eben nicht, um dort irgendwem zu helfen, sondern um dort Gott zu finden. Und dann gibt es ja auch aus kirchlicher Sicht gemiedene Orte, die so gesehen „wild“ sind, weil sie jenseits von Glaubensbekenntnissen, Dogmen und Mitgliedschaft existieren. In der franziskanischen Tradition gibt es das schöne Motto: Unser Kloster ist die Welt. Das ist für mich ein Wegweiser.
Die „Wilde Kirche“ wurde für Sie zu einer geistlichen Quelle. Was haben Sie dort gefunden, was Sie vorher in allen anderen Quellen nicht hatten?
Sie kennen vielleicht die Geschichte von C.G. Jung über die Quelle lebendigen Wassers, das sprudelt. Und dann bauen Menschen eine Einfassung, damit man besser an das Wasser herankommt und später überdachen sie die Einfassung, bauen einen Zaun, nehmen Eintritt. Und als das lebendige Wasser schon längst nicht mehr sprudelt, merkt das überhaupt niemand, sondern die Gelehrten sitzen vor dem Quellhaus und diskutieren über das Wesen des Wassers. Kurzum: Ich habe lange das „Quellhaus“, die menschliche Einfassung, das Gefäß – eben Kirche als Institution – mit dem lebendigen Wasser verwechselt oder irrtümlich gleichgesetzt. Weil ich es nicht besser wusste. Die Wilde Kirche zu entdecken, hat für mich bedeutet, erstmals von dem Wasser zu kosten, um das es eigentlich geht.
Herzlichen Dank für das Interview!
Die Fragen stellte Rüdiger Jope.
Jan Frerichs ist Gründer und Leiter der „Franziskanischen Lebensschule“. Als Theologe begleitet er Menschen in geistlichen Auszeiten und Übergangsriten. Der frühere ZDF-Redakteur lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Bingen am Rhein. Sein Buch „Wilde Kirche – wie wir uns unsere spirituelle Heimat zurückholen“ ist 2023 in der Patmos Verlagsgruppe erschienen. Homepage: www.barfuss-und-wild.de

Dieses Gespräch ist im kirchlichen Ideenmagazin 3E erschienen. 3E ist wie Jesus.de ein Angebot des SCM Bundes-Verlags.
Es fehlt schlichtweg die Liebe zu Gott und zum Nächsten.
Jesus sagte: „Wer mich nicht liebt, der hält meine Gebote nicht.“
Kirche muss auch eingefahrene Gleise verlassen
Zirat: „Kirche könnte und sollte Erfahrungen der bedingungslosen Akzeptanz ermöglichen. In der Tradition sprechen wir von Barmherzigkeit, aber das wird leider weitgehend reduziert auf caritatives Engagement, was dann wieder Bewertungen mit sich bringt: Ich bin stark, du bist schwach. Ich helfe dir, du lässt dir helfen. Barmherzigkeit ist Ausdruck einer Bedingungslosigkeit, die Jesus an den Tag gelegt hat, wenn er mit den „Sündern“ verkehrt hat, die ja nicht hilflos waren, sondern abgesondert worden waren – Sünde kommt von „absondern“ –, weil sie bestimmte Bedingungen und Erwartungen nicht erfüllt haben. Kurzum: Jesus hat niemanden ausgeschlossen. Kirche könnte und sollte solche Orte schaffen“!
Auch in diesem Sinne begeistert sich Jan Frerichs: „Wir brauchen mehr „wilde Kirchen. Gott ist überall erfahrbar – auch an vielfach gemiedenen Orten“! Was hier eher formuliert werden müsste, dass Kirche und letztlich wir einzelnen Christinnen und Christen als Netzwerk, die gewohnten Gleise verlassen. Es gibt die schöne traurige Geschichte eines Soziologen, der erzählt, wie gerne die Straßenbahn ihre Richtung ändern würde. Aber sie muss in den Schienen bleiben und es ist immer alles vollständig festgelegt. Dabei wollte doch Jesus eine Revolution auch der Liebe und eben diese bedingungslose Annahme aller Menschen. Es geht also darum, die ewigen Gleise des Immergleichen zu verlassen. Das kann man nur gut und geschützt in einer guten Gemeinschaft. Mich faszinierte schon vor Jahrzehnten, als ein Hamburger Bischof mit seinem Team an Heiligabend die Damen vom ältesten Gewerbe der Welt auf der Reeperbahn besuchte und mit ihnen ganz unspektakulär das wirkliche Fest der Liebe feierte. Bleibt nur zu hoffen, dass daraus, auch wenn dies niemand mehr interessiert, eine Tradition wurde. Nicht um größere Aufmerksamkeit zu erlangen, sondern um etwas selbstverständliches zu tun. Eben weil Jesus die Begrenzungen der damaligen Gesellschaft einriss, mit damaligen Sündern und Zöllnern gegessen hat und damit auch den Unreinen, mit denen die Frommen und Hochanständigen ihre Angst verbanden, deren angebliche Schlechtigkeit könnte sie anstecken. Eine wilde Kirche ist immer offen für alle Menschen. Es ist jede/r willkommen. Niemand wird wegen seiner sexuellen Orientierung, seiner Rasse, seines Glaubens, der Hautfarbe oder einer politischen Meinung ausgeschlossen. In einer solchen Kirche trägt einer des anderen Last, gerne und freiwillig, aber man lebt auch gegenseitig in der Vergebung. Vielleicht sind die Kirchen der Zukunft, wie es sich schon Jesuiten aus den 1970er Jahren sich vorstellten, die vielen kleinen ökumenischen Gruppen, in denen Menschen exemplarisch ihren Glauben gemeinsam leben (und gegebenenfalls auch ihr Leben und das Leben mit armen Menschen teilen). Kirche stirbt nicht mit unserer Kirchensteuer. Kirche lebt, weil die Dynamik des Heiligen Geistes nicht den Naturgesetzen oder den Gesetzen von Angebot und Nachfrage unterliegt. Die Liebe Gottes, und eigentlich auch die Liebe der Christinnen und Christen, sind keine Verträge auf Gegenseitigkeit. Auch wenn es vielleicht immer die Kirche/n als Institution geben wird, so sollte ihre Hierarchie möglichst flach sein und eine Ethik des Dienens herrschen: „Einer trage des anderen Last“. Dann ist die Liebe die Größte unter Glaube und Hoffnung. Eine solche Kirche findet es belebend für sich und andere, an den Hecken und Zäunen der Welt zu arbeiten und nicht nur den Heiligen Hallen der Christenheit.
Ohje, der Satz alleine ist schon Gotteslästerung in Augen vieler Amtskirchen: „Nicht die Leute gehen zur Kirche, die Kirche – als Institution – dient den Menschen.“
EinFragender: Ich bin evangelisch, aber auch ökumenisch und kürz sagte dies auch ziemlich wortwörtlich Papst Franziskus: „Die Kirche dient dem Menschen“!