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Was Ortsgemeinden brauchen, um erfolgreich Kirche zu bauen

Der Soziologe Andreas Kusch beklagt die Visionslosigkeit der Kirche. Er fordert mehr Mitsprache, Selbstbestimmung und Verantwortung für Ehrenamtliche.

Mich macht das ewige Gerede von Kirchenkrise depressiv. Die letzten 25 Jahre geht es mit wechselnden Vorzeichen permanent um Strukturdebatten. 25 Jahre wird schon diskutiert, geplant und umgesetzt, wie sich Kirche als Organisation durch Reduzierung von Personalstellen, Fusion von Gemeinden, eine geschickte Kombination von Teilaufträgen und dem Optimieren von Organisationsabläufen an die Kirchenaustrittswelle anpassen kann. Ein Kreislauf wiederkehrender Anpassungsschleifen – Ende offen.

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Seit mehr als 25 Jahren bin ich mit Unterbrechungen in meiner Kirchengemeinde zu Hause und erlebe die Kirchenkrise jeden Sonntag schmerzlich neu, wenn so manche meiner Freunde, Bekannten und die junge Generation über die Jahre hinweg abhängen.

Immer nur Rückbau, Umbau, Abbau

Aber was mich am meisten irritiert, ist die Visionslosigkeit in kirchlichen Strategiepapieren. In ihnen ist viel von empirisch gebotenem Rückbau, Umbau, Abbau die Rede. Vision von Kirche kommt maximal als rhetorisch brillant ausbalancierte Rede vom Auftrag der Kirche vor: Es wird alles und jedes erwähnt, was in der Kirche irgendwie läuft, alles integriert und irgendwie konsensfähig gemacht.

Der Preis dieser Visionslosigkeit spiegelt sich in der weit verbreiteten inneren Müdigkeit vieler Ehrenamtlicher – nicht erst seit Corona – wider. Es stimmt: „Ein Volk ohne Vision geht zugrunde“, so Dorothee Sölles Übersetzung von Sprüche 29,18.

Wohlgemerkt: Niemand kann ernsthaft leugnen, dass gravierende Einschnitte ins weltweit wohl einmalige kirchliche Versorgungs- und Finanzsystem erforderlich sind. Aber als Sozialwissenschaftler habe ich den Eindruck, dass den sozialwissenschaftlichen Krisen-Analysen und Horror-Prognosen eine quasi-göttliche Dignität zugesprochen wird.

Die empirischen Befunde werden so unter der Hand zur normativen Leitlinie kirchlichen Krisenmanagements. Dagegen möchte ich mit Schneider-Pflume sagen: „Wenn dem Krisenbewusstsein so zentrale Bedeutung zugemessen wird, muss aber (…) nach der theologischen Bedeutung und Bewertung der Krise gefragt werden.“

„Herr, was sind deine Pläne mit deiner Kirche?“

Denn: Nicht nur die gesamte Schöpfung ist von Gott umfangen, sondern auch die Kirchenkrise ist in ihm aufgehoben. Es gibt kein Außerhalb Gottes. Deshalb läge es für die Kirche angesichts der bedrückenden Empirie nahe, betend zu fragen: „Herr, was sind deine Pläne mit deiner Kirche?“ Vielleicht ergäben sich aus solch einem hörenden Managementansatz überraschende Impulse, Anregungen und Richtungsweisungen.

Die Rückbau-Logik der Strategiepapiere und Zukunftsprozesse ist dagegen wenig überraschend: Nach dem Rasenmäher-Prinzip müssen die Gemeinden vor Ort in aller Regelmäßigkeit mit den neuen gekürzten Personalschlüsseln und Budgets klarkommen. Das einzig Variierende: Die Messer des Rasenmähers werden in den einzelnen Landeskirchen je nach finanziellen Ressourcen unterschiedlich tief justiert.

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Ortsgemeinden verlieren individuelle Gestaltungsmöglichkeiten

Zudem werden die kirchlichen Mitarbeitenden zunehmend auf der Ebene des Kirchenkreises angesiedelt. Zwar arbeitet der Kirchengemeinderat noch mit einer Pfarrperson zusammen, aber die Ortsgemeinde wird zukünftig kaum noch Einfluss auf deren Einsatz und Tätigkeit haben. Mit der Delegation von Verwaltungsaufgaben und Personalentscheidungen geht die Entscheidungsmacht und Finanzierungsquelle an den Kirchenkreis über. Ortsgemeinden verlieren dadurch massiv ihre individuellen Gestaltungsmöglichkeiten.

Solche visionslosen kirchenbürokratischen Top-Down-Ansätze führen an der Basis dazu, dass es immer schwerer wird, Kirchengemeinderäte für die Wahlen zu finden: viel Umsetzen bürokratischer Vorgaben, viel Organisieren, viel Übernahme an Arbeit von abspringenden Ehrenamtlichen – aber nur wenig Gestalten. Wer will schon unter dieser Perspektive am Leitungsgeschehen der Ortsgemeinde mitarbeiten?

Nur noch 63 Prozent der Ehrenamtlichen haben den Eindruck, ausreichende (!) Möglichkeit der Mitentscheidung und Mitsprache zu haben.

Gleichwohl ist die Anzahl der Ehrenamtlichen über 25 Jahre hinweg mehr oder weniger konstant geblieben. Davon können säkulare Organisationen nur träumen! Allerdings sinkt die Zufriedenheit mit den Gestaltungsmöglichkeiten in der Kirche. Nur noch 63 Prozent der Ehrenamtlichen haben den Eindruck, ausreichende (!) Möglichkeit der Mitentscheidung und Mitsprache zu haben (Seidelmann).

Das zeigt deutlich: Ja, die Kirchenmitglieder wollen sich engagieren. Aber: Nein, angesichts begrenzt erlebter Gestaltungsmöglichkeiten wollen sie sich immer weniger so engagieren, wie es die Kirchenbürokratie vorgibt.

Weg mit der Top-Down-Planung

Ich vermisse in den Krisenbewältigungsstrategien den Fokus auf die ganz normale Gemeinde, die Ehrenamtlichen, die Christinnen und Christen an der Basis, die die Kirche bilden. Zwar stellt die „Volkskirche“ den theologischen Denkrahmen dar, aber das Volk kommt nur als planerische Größe prognostizierter Kirchenaustritte und des erwartbaren Kirchensteueraufkommens vor. Statt „Wurzelgrund protestantischer Identität“ (Thomas) zu sein, wird die Ortsgemeinde zu einer theologischen Leerstelle. Top-Down-Planungen vertragen sich in der Tat nicht mit der Buntheit, Vielfalt und sozialen Komplexität evangelischen Gemeindelebens.

Eine für Ehrenamtliche provokative Zuspitzung erfährt dieser Denkansatz dann, wenn eine subtil-pauschale Gleichsetzung von Parochialgemeinde, Kerngemeinde und Milieuverengung stattfindet, um so die Top-Down-Reformvorhaben zu rechtfertigen. Die Ehrenamtlichen – viele von ihnen sind die Hochverbundenen – in Sonntagsreden und Hochglanzbroschüren zur Ehrenamtsförderung als „Schatz der Kirche“ hochgepriesen, werden so unter den Generalverdacht der theologischen, geistigen und gemeindegestalterischen Immobilität gestellt.

Mehr als 80 Prozent der neuen Ausdrucksformen von Kirche, die unter dem Label Fresh X laufen, sind aus Initiativen der Ortsgemeinde entstanden.

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Es gibt durchaus eine beklagenswerte Milieuverengung, aber diese ist mehr Ergebnis kirchensystemischer Fehlentwicklungen als Konsequenz des Einsatzes der rund eine Million Ehrenamtlichen, die in ihren Berufsfeldern tagtäglich ihre fachliche, menschliche, soziale und innovative Kompetenz unter Beweis stellen. Nicht umsonst rangiert die Weltwirtschaftsmacht Deutschland auf dem Bloomberg Innovationsindex langjährig unter den Top 5 der Welt.

Dazu passt, dass mehr als 80 Prozent der neuen Ausdrucksformen von Kirche, die unter dem Label Fresh X laufen, aus Initiativen der Ortsgemeinde entstanden sind (Müller). Und Pappert hat beobachtet: „Die allermeisten, die kirchliche Fresh X-Projekte verantworten, lassen sich den kirchlichen Kernmilieus zuordnen.“

Die zentrale Frage für die Zukunft der Kirche ist also: Wie können die vorhandenen gemeindegestalterischen Kompetenzen der Ehrenamtlichen, die innerhalb der kirchlichen Strukturen nur unzureichend abgerufen werden, in den Ortsgemeinden wieder vermehrt zur Geltung kommen?

Mitbestimmen motiviert zum Gestalten

Den ersten Hinweis liefern die fachlichen Diskurse in Pädagogik, Demokratieförderung, sozialer Arbeit oder Entwicklungszusammenarbeit. Hier ist Partizipation schon seit Jahrzehnten das zentrale Schlüsselwort, um Individuen bzw. Gruppen an Willensbildungs-, Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen zu beteiligen.

Das Initiieren von partizipativen Prozessen wird als wesentlicher Baustein für das Gelingen von sozialen Veränderungs- und Innovationsprozessen gesehen (Dessoy). Wer googelt oder in der Internationalen Bibliographie für Theologie und Religionswissenschaft (Index Theologicus) nach den Stichworten Partizipation und sinnverwandten Worten sucht, findet hingegen für den deutschen evangelischen Bereich in den letzten Jahren wenig Substanzielles.

Die Experten für Gemeindeleben und -entwicklung sind in diesem Bottom-Up-Prozess nicht zuerst die kirchlichen Funktionsträger, sondern die Ehrenamtlichen.

Taucht die Forderung nach mehr Partizipation im Sinne eines „Priestertums aller Gläubigen“ in engagierten Reformrufen auf, verhallen sie weithin ohne Resonanz, obwohl eine partizipatorische Gemeindestruktur eigentlich dem Klima unserer demokratischen Gesellschaft entspricht (Zimmerling), in der alle zur Mitverantwortung, Mitsprache und zum Mittun aufgefordert sind. Kommt das Wort Partizipation innerkirchlich doch einmal vor, wird es auf die Jugend- bzw. Frauenquote in Gremien oder die Teilnahme an der Kirchengemeinderatswahl reduziert und zielt auf Stabilisierung des Status quo ab.

Das Konzept der Partizipation würde die kirchenhierarchische Top-Down-Logik auf den Kopf stellen. Kurz und provokant: Die Experten für Gemeindeleben und -entwicklung sind in diesem Bottom-Up-Prozess nicht zuerst die kirchlichen Funktionsträger, sondern die Ehrenamtlichen. Sie haben Lebens- und Berufsexpertise, sie kennen die soziale, religiöse und kulturelle Situation vor Ort.

Sie sind in Beziehungsnetzwerken mit den Menschen ihres Ortes verbunden. Sie sehen Nischen, wo und wie Kirche neu Gestalt annehmen kann. Denn letztlich sind es diese Beziehungsnetzwerke, in denen Glaube, Liebe und Hoffnung gelebt werden. Ihre Reichweite geht tief in die Gesellschaft hinein und sie entscheiden über die missionarischen Möglichkeiten der Kirche (Schlamm).

Empowerment befähigt zum Gestalten

Dort, wo sich neue partizipative Mitgestaltungshorizonte eröffnen, wird auch schnell deutlich: Es braucht Befähigung, Ermächtigung und Bevollmächtigung jedes einzelnen Christenmenschen – also Empowerment –, um Partizipation in den unterschiedlichsten Engagementfeldern leben zu können. Es geht um die Anerkennung und die Weiterentwicklung der Sprach-, Urteils- und Handlungsfähigkeit der ehrenamtlich Engagierten.

Sie merken dann: Ich bin nicht der kostengünstige Ersatz für eine Aufgabe, die eine hauptamtliche Person vor der Sparwelle erfüllt hat, sondern: Ich bin ein Geschöpf Gottes mit Gaben, Fähigkeiten und Kreativität. Die Ortsgemeinde hilft, dieses Potenzial zu entdecken, zu fördern und in den Kontext der Gemeindeentwicklung und des Reiches Gottes zu stellen. Ob dieses Empowerment gelingt, hängt in Anlehnung an Christoph Nötzel von fünf Fragen ab:

1. Lässt die Ortsgemeinde Initiative zu?

In jeder Ortsgemeinde gibt es Christenmenschen, die bestimmte Zielgruppen, Themen oder Gesellschaftsnöte im Blick und auf dem Herzen haben. Geben die kirchlichen Gremien und leitenden Verantwortlichen diesen Menschen die Erlaubnis, dass aus dem „Im-Blick-Haben“ tatkräftiges Engagement wird?

Erfahrungen aus England zeigen: Aus dieser Erlaubnis heraus können sich plötzlich ganz neue Gemeindeformen bilden. So wird die Ortsgemeinde Nährboden und Keimzelle für vielfältiges kirchliches Leben. Aus der einen klassischen Ortsgemeinde – der Parochialgemeinde – entstehen viele verschiedene Gemeinden am Ort mit unterschiedlichsten Formaten, die untereinander, regional und mit den funktionalen Diensten vernetzt sind.

2. Macht die Ortsgemeinde die Ehrenamtlichen stark?

Ich bin mit Hans-Martin Gutmann davon überzeugt, dass es die Aufgabe der nächsten Jahre und Jahrzehnte sein wird, den Ehrenamtlichen Arbeitsbereiche und Macht in der Kirche zu übergeben. Pfarrpersonen werden als kommunikative Allrounder und theologische Fachleute ihre berufliche Identität darin finden, diese Menschen zu unterstützen und zu begleiten.

Ein solches Verständnis bedeutet, dass die Hauptamtlichen zunehmend weniger eigene Ideen entwickeln müssen, Gruppen und Kreise nicht selbst initiieren und leiten werden, sondern Ehrenamtliche bei der Gestaltung und Leitung der Gruppen unterstützen. Sie leisten dann vielmehr Hilfe beim Aufbau einer Gruppe oder eines Kreises und vermitteln die Kompetenzen, diese zu leiten oder eine Betreuungsaufgabe wahrzunehmen (Pohl-Patalong).

Das zugrundeliegende Gemeindeentwicklungsprinzip heißt: die Hauptamtlichen für die Ehrenamtlichen, die Ehrenamtlichen für die Gemeinde.

3. Sind die Leitungsverantwortlichen bereit, Vertrauen in die Ehrenamtlichen zu investieren?

Ohne Vertrauen der Leitenden gibt es keine Experimente. Denn Experimente haben – trotz gründlicher Planung – einen offenen Ausgang. Sie entziehen sich damit teilweise dem durchaus verständlichen Wunsch der Leitenden nach Überblick, tragen sie doch Verantwortung für das ganze Gemeindeleben.

4. Sind die Hauptamtlichen bereit, Gestaltungswillen zuzulassen und Gestaltungskompetenz an Ehrenamtliche zu delegieren?

Wo Gestaltungsmacht nicht abgegeben wird, kann nichts Neues wachsen. Silke Obenauer nennt dieses Phänomen in Anlehnung an Isolde Karle das Problem der Machtsummenkonstanz: In dem Maße, in dem Ehrenamtlichen mehr Mitsprache und Mitgestaltung zugestanden wird, kommt es zu einem Bedeutungsverlust der Hauptamtlichen, insbesondere der Pfarrpersonen. Hier stellt sich die Frage, ob das Verhältnis von Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen als Konkurrenz gesehen oder als „arbeitsteilige Wechselseitigkeit“ (Petry) gelebt wird.

5. Ist die Motivationsklärung und -förderung ein anhaltendes Thema?

Empowerment steht und fällt mit der Motivation der Ehrenamtlichen. Was ist ihr Verständnis von Engagement? Wofür wollen sie sich einsetzen? Was treibt sie an? Welche Rolle spielt der Glaube? Was ist ihr Bild von Gemeinde, Kirche und Reich Gottes? In welcher Haltung geschieht Zusammenarbeit?

Dies sind hochspirituelle Fragen. Immerhin wünschen sich rund ein Fünftel der Ehrenamtlichen (Horstmann) und 50 Prozent der Kirchengemeinderäte (Härter) ein „spirituelles Empowerment“.

Daneben muss auch das „theologische Empowerment“ verstärkt ins Blickfeld kommen. Wenn etwa eine engagierte Kirchengemeinderätin einen Fortbildungskurs „Abendmahl“ ihrer Landeskirche besucht, feierlich ein Zertifikat überreicht bekommt und dann gemäß Kirchenrecht doch nicht „selbstständig“ (!) in ihrem Engagementbereich Abendmahl feiern darf – ist das einfach nicht mehr Ausdruck eines selbstverantworteten Glaubens im 3. Jahrtausend!

Es ist ein Hoffnungsfunke, wenn sich das Impulspapier „Kirche der Freiheit“ für vermehrte Predigten von Lektorinnen und Prädikanten ausspricht oder die Evangelische Kirche im Rheinland 2030 als Zielvorstellung jährlich 30 Menschen unter 30 Jahren zum Predigtdienst fit machen will. In der katholischen Kirche laufen Pilotprojekte, in denen Ehrenamtliche eine Messe im Krankenhaus abhalten oder Trauer- und Begräbnisdienste durchführen. Hoffentlich wird bald aus solchen Experimenten eine Selbstverständlichkeit.

Ownership trägt Verantwortung für Gestaltung

Gut angelegte Partizipations- und Empowermentprozesse führen dazu, dass Ehrenamtliche sich mit ihrem Engagement und der Ortsgemeinde verstärkt identifizieren und verantwortlich sehen (Ownership). Dies ist in einer Zeit nachlassender Kirchenbindungskraft ein nicht zu vernachlässigender Aspekt.

Wer verantwortlich, motiviert und aktiv Gemeinde und Reich Gottes mitbaut, steckt andere an. Nicht umsonst werden die meisten Ehrenamtlichen durch persönliche Kontakte und Ansprache gewonnen. Und auch Kirchendistanzierte merken, dass kirchliches Engagement mehr ist als Vereinsmeierei.

Ownership kann allerdings nur dann gelingen, wenn die Ehrenamtlichen Zugang zu den nötigen Ressourcen haben. Der Empowerment-Pionier Julian Rappaport brachte es für die Gemeinwesenarbeit auf die Formel: „Rechte zu haben, aber keine Ressourcen und keine Hilfestellung dafür zur Verfügung gestellt bekommen, ist ein grausamer Scherz.“

In Bezug auf die Finanzierung des Engagements in einer Ortsgemeinde ergibt sich daraus automatisch die Frage: Warum erfolgt der Modus der Verteilung von Finanzen und Personal in der Kirche weitestgehend nach einem Pro-Kopf-Schlüssel und nicht nach tatsächlichem Engagement der Ehrenamtlichen?

„Rechte zu haben, aber keine Ressourcen und keine Hilfestellung dafür zur Verfügung gestellt bekommen, ist ein grausamer Scherz.“

Julian Rappaport

Der Schweizer Kirchenratspräsident Lukas Kundert rät, mit dem Dogma der Pro-Kopf-Finanzen radikal zu brechen. Denn es handelt sich bei diesem Dogma um eine Fessel, die Engagement und Innovationen nicht belohnt, sondern alle Kraft auf das Verwalten des Status quo fokussiert. Er schlägt vor, neben einer garantierten Grundversorgung für alle Ortsgemeinden stärker darauf zu achten, welches spezifische Engagement eine Ortsgemeinde aufbringt.

Mein Vorschlag: Eine 50:50-Aufteilung der Zuweisungen würde nicht nur die finanzielle Absicherung des Partizipations-Empowerment- und Ownership-Prozesses sicherstellen, sondern auch zu verstärkter Drittmittelakquise führen. Denn wo Basisinitiativen stark sind, gelingt es trotz Finanzknappheit, Drittmittel heranzuziehen (Coenen-Marx).

Bottom-Up-Prozess führt zu neuen Ideen

Es wurde deutlich: Partizipation, Empowerment und Ownership als Bottom-Up-Prozess bringen unterschiedliche Sichtweisen, neue Ideen und kreative Lösungen hervor. Und sie führen auch durch das hohe Engagement der Ehrenamtlichen an kommunikativen Entwicklungs- und Entscheidungsprozessen zu einer akzeptanzfähigen und nachhaltigen Umsetzung sozio-religiöser Innovationen.

In diesem Sinne hat das Ehrenamt eine große Chance, die Milieuverengung der Kirche aufzubrechen. Wenn Kirche aus ihrer Binnenorientierung ausbrechen möchte, kann sie beim Ehrenamt anfangen. Denn dort gibt es ein großes Potenzial an Menschen, die sich engagieren würden, wenn man sie ließe, wenn man ihnen Freiraum für ihre Gaben, Freiraum für ihren Weg zum Glauben und genug Rahmen, Struktur und Unterstützung für ihr Engagement gäbe (Hofmann).

Es sind die Christinnen und Christen vor Ort, die Gemeinde neu finden werden.

Für die Gestaltung des Rückbaus ergäbe sich die Konsequenz, dass die Ortsgemeinde mit ihren Ehrenamtlichen – unter dem Aspekt von Partizipation, Empowerment und Ownership – wieder neu zum Dreh- und Angelpunkt aller Strukturüberlegungen wird. Statt sich als Opfer kirchlicher Spar- und Umschichtungsmaßnahmen zugunsten der mittleren Kirchenebene zu erleben, würden sie Zutrauen, Ermutigung und Ausrüstung erfahren, die Umbrüche vor Ort selbst zu gestalten und zu verantworten.

Ich träume von einer lokal-partizipativen Kirchenentwicklung, in der der Ortsgemeinde – im Netzwerk mit vielen anderen Initiativen – immer mehr zugetraut wird, selbst zu planen, zu entscheiden, zu verantworten und zu leben, wie Kirche Gestalt annimmt. Es sind die Christinnen und Christen vor Ort, die Gemeinde neu finden werden (Junkermann).

Keine Allgemeinrezepte für Gemeindebau

Denn es gibt keine allgemeingültigen Programme zum Gemeindebau und -aufbau, keine Allgemeinrezepte. Vielmehr geht es darum, den jetzt und hier jeweiligen Weg der Gemeinde wahrzunehmen und dabei theologische Einsichten in der konkreten Situation fruchtbar werden zu lassen.

Dazu braucht es einen offenen spirituellen Suchprozess (Kusch). Hier werden die „kleinen und großen Visionen“ (Zulehner) einer milieusensiblen, Gott und Menschen liebenden Gemeinde geboren. „Im Blick auf diese Vision ist ja genau jene Perspektive eröffnet, die es erlaubt, die Umbrüche und Abbrüche der gegenwärtigen Situation zu sichten und ausfindig zu machen, welchen Weg Gott mit seiner Kirche gehen will“ (Hennecke). Dieser geistliche Weg lebt durch die Zusage von Gottes Gegenwart und Reden: „Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!“ (Offenbarung 2,7)

Andreas Kusch war viele Jahre Dozent für empirische Sozialforschung, transformative Entwicklungszusammenarbeit und christliche Spiritualität an verschiedenen Hochschulen. Das vollständige Literaturverzeichnis ist unter info@magazin3E.net erhältlich.


Ausgabe 3/22

Dieser Artikel ist im Kirchenmagazin 3E erschienen. 3E ist Teil des SCM Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.

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6 Kommentare

  1. Ein wesentlicher Aspekt, um die Ehrenamtlichen einzubeziehen, ist die persönliche Präsenz der Hauptamtlichen. Verstehen sie Gemeinde als „ihre Gemeinde“ oder als Arbeitsplatz? Kein noch so kluges Konzept kann ersetzen, was in Beziehungen sichtbar wird und sich entwickelt.

  2. Ständige Reformation ist erforderlich

    Andreas Kusch hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Es sind tatsächlich die Ehrenamtlichen, hier also auch die Menschen aus den gemeindlichen Kirchenvorständen/Kirchengemeinderäten, welche normalerweise die Evangelische Kirche vor Ort inhaltlich und organisatorisch gestalten. Da wo man mit der Rasenmähermethode vor allem in katholischen Bereich Riesengemeinden produziert, fehlt es völlig an einer guten Vision. Hier ist der Priestermangel ein Grund für Strukturreformen, wobei das eigentliche Probleme regelrecht verdrängt wird. Auch auf evangelischem Terrain geht es mit der Zusammenlegung von Gemeinden auf einen ähnlich problematischen Weg. Gründe sind wohl neben finanziellen Überlegungen, also weniger Pfarrer/innen, auch der alle Kirchen betreffende (sogenannte) Traditionsabbruch: Weniger Menschen werden kirchlich erreicht, alle Angebote wie Gruppen, Kreise, Veranstaltungen und Gottesdienste nehmen an Anzahl und Teilnahmebereitschaft ab. Dann fehlen nicht zuletzt auch die Ehrenamtliche. Beliebt ist die Lösungsmethode, mit Nachbargemeinden Kooperationen zu organisieren nicht nur bei der inhaltlichen Gemeindearbeit, sondern auch beim theologischen Personal. Pfarrer/innen sind für mehrere Gemeinden zuständig, weil sie kompensieren, dass Pfarrstellen wegfallen. Ich bin mir sicher, dass dieses Konzept zwar als Notbehelf wirksam wird, aber nicht auf Dauer kirchliche Stabilität garantiert.

    Viele Zeitgenossen haben offensichtlich noch nie ein Soziogramm erstellt. Dies ist bestehende soziale Beziehungen darzustellen, in dem Personen man auf einer gedachten Ebene mit Linien verbindet. So ähnlich ist die wirkliche Realität auch zwischen Gemeinden, denn manche verbindet nichts oder wenig. Wenn man dann beispielsweise ein Gemeindefeste für zwei Gemeinden feiert, kommen nicht mehr Menschen. Gottesdienste werden nicht besser frequentiert, weil man sie – bisher meist noch zu besonderen Anlässen – aus zwei Gemeinden einlädt. Schmerzhaft habe ich selbst erlebt, wie in einem kleinen zur Gemeinde gehörenden Dorf die sonntäglich 3 bis 6 Gottesdienstteilnehmer als zu wenig einstufte. Also bot den ausschließlich älteren Menschen die kostenlose Taxifahrt zur wenigen km entfernten Kirche an. Niemand war bereit, dem Angebot zu folgen.

    Die geistliche Ebene von Kirche bleibt oft völlig außen vor, obwohl die Handelnden das Beste im Sinn haben mögen. Da zitiere ich gerne, was der Autor hierzu meint: „Herr, was sind deine Pläne mit deiner Kirche?“ Denn: Nicht nur die gesamte Schöpfung ist von Gott umfangen, sondern auch die Kirchenkrise ist in ihm aufgehoben. Es gibt kein Außerhalb Gottes. Deshalb läge es für die Kirche angesichts der bedrückenden Empirie nahe, betend zu fragen: „Herr, was sind deine Pläne mit deiner Kirche?“ Da kann ich mich nur anschließen. Sowohl die Personal- und Geldprobleme und zudem die Problematik des Traditionsabbruches würden sich relativieren, wenn wir als Kirche aus einer reinen Komm-Struktur eine Geh-Hin-Struktur machen. Kirche an den Rändern der Gesellschaft. In den sozialen Brennpunkten. An den Hecken und Zäunen der Welt. Also vor allem auch Gottesdienste, Kirchliche Feiern, Veranstaltungen, Taufen und vieles mehr nicht nur in den Heiligen Hallen, sondern dort wo die Menschen sind. Dann wird aus einer finanziell armen Kirche eine in Gnaden arme Kirche. Die dann Salz und Licht der Erde wird. Nah bei den Menschen. Eine ständige Reformation der Kirche ist notwendig, wenn sich damit gewissermaßen spiegelbildlich ergibt, dass auch wir als einzelne Gläubige jeden Tag aus der Vergebung leben sowie Gott, den Nächsten und uns selbst lieben. Wenn das geht, dann ist mir jede Strukturreform die Sinn macht gut

  3. Wenn man den „Ehrenamtlichen“ Mitsprache, Selbstbestimmung und Verantwortung geben würde, dann wären sie ja den Hauptamtlichen gleichgestellt. Das würde ja das ganze System untergraben. Und das will dich doch keiner – zumindest von den Hauptamtlichen …

    • Das Ehrenamt gewinnt nicht an Bedeutung durch sein Engagement, sondern es macht die Kirche als Trägerin von Pflichten immer sichtbarer. Diese gewinnt ihre Trägerschaft durch den Staat, der ihre Würde anerkennt, indem sich daraus eine Politik entwickelt, die einen gemeinsamen Nenner teilt und seinen Ertrag erwirtschaftet. Träte die Würde des Menschen als Vater und Mutter gleichzeitig aus dem Leben hervor, dann trüge die Geburt von Jesus ihren Teil dazu bei. An seiner Geburt nimmt jeder Mensch Anteil, der ihren Wert für sich gewinnt. Der Wert aus der Geburt ändert sich dadurch zwar nicht, jedoch ist diese Geburt dem Wandel der Mitmenschen geschuldet, die von Jesus bereits geboren sind und so die Würde der Kirche mithilfe des Staates aufrechterhalten können. Nicht umsonst steht diese Würde in unserer deutschen Verfassung vor dem Grundrecht der Person, der sie sich ganz bewusst unterwirft, um ihrer Macht im Umgang mit seinem Zeitwert gerecht werden zu können.

      Anders formuliert, hat der Mensch sein Potenzial als Mitmensch noch lange nicht erschöpft. Deshalb lebe ich in der Hoffnung, dass dieses Potenzial nicht an Menschen verloren geht, die ihren Mitmenschen einfach ignorieren und damit eigentlich nur ihr eigenes Recht auf Leben beschneiden. Nicht für jeden Menschen muss die Kirche eine Rolle spielen, doch im staatlichen Ermessen gilt ihre Würde als unüberwindbare Forderung für seine endgültige Verfassung. Kirche lässt sich wohl nur schwer beziffern, deshalb gründet meine Kirche auf die Heiligkeit der Familie, aus der Jesus hervorging, denn ohne ihn gäbe es keine Geburt, die ihre Einheit in deren Endgültigkeit erfahrbar machen könnte.

      Stehe ich als Kirche in der Nachfolge Christi, in der Nachfolge seiner Mitmenschen oder aber in der Gegenwart, die sich aus meiner eigenen Geburt durch all deren Taufen ergibt, die in mir ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugen?

    • Ohne Ehrenamt wäre Kirche tot

      Ulrich schreibt: „Wenn man den „Ehrenamtlichen“ Mitsprache, Selbstbestimmung und Verantwortung geben würde, dann wären sie ja den Hauptamtlichen gleichgestellt. Das würde ja das ganze System untergraben. Und das will dich doch keiner – zumindest von den Hauptamtlichen“! Ob und inwieweit dies für die Katholische Kirche zutrifft, würde ich eher bezweifeln. Zumindest gibt es da schon eine starke Gegenbewegung (auch gegen eine zu steile Hierarchie, die nicht jesusgemäß ist). Denn das Kirchenvolk besteht nicht aus dummen Schafen und es dürfte auch christlicher Konsens sein, dass Christinnen und Christen geschwisterlich miteinander umgehen. Auf der Ebene unserer Zeit und gesellschaftlichen Entwicklung gehören dazu auch demokratische Regeln in der Kirche. Gremien gibt es auch bei den Katholen. Für meine Evangelische Kirche wäre es geradezu absurd zu behaupten, die Hauptamtlichen würden eine Gleichstellung der Ehrenamtlichen ablehnen. Erstens stimmt dies so nicht, weil ohne die Ehrenamtlichen die Kirche so gut wie tot wäre. (Wobei ich auch die unterste Entscheidungsebene auch zu der Ehrenamtlichenkeit rechne, da die Gewählten in den Vorstand einer Ortsgemeinde kein Gehalt bekommen und keine Kosten abrechnen). Zweitens muss man zwischen Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen nicht qualitativ, aber aufgabenbezogen unterscheiden. Die Mitglieder eines Kirchenvorstandes sind in den Ev. Landeskirchen – bis auf den hauptamtlichen Pfarrer – quasi Ehrenamtliche ohne Bezahlung, aber faktisch (mit dem hauptamtlichen Theologen) kollektive Leitung der Gemeinde. Der/die Pfarrer/in stehen in einem kollegialem Verhältnis zu den Kirchenvorsteher/innen und können sich gegenseitig nicht befehlen. Hier hat man gewissermaßen schon seit langem zwei Funktionen – wie Ehrenamtlichkeit bei gewählten Personen – und Hauptamtlichkeit bei den Theologen, miteinander verknüpft. Es ist also alles – wie immer im Leben – doch etwas komplizierter. In vielen kirchlichen Gremien bestimmen Laien nicht nur mit, sondern bilden manchmal auch die Mehrheit. Die Anwendung von basisdemokratischem Leitungsstil halte ich im Staat und auch in der Kirche nicht für sinnvoll, wofür es mindestens mehrere akzeptable Gründe gibt. Kooperation unter Christen in ihren Gemeinschaften und Kirchen ist aber sehr erforderlich. Sie muss dazu nirgends vorgeschrieben und geregelt sein.

      • Ist nicht Basisdemokratie das, was Gott hervorruft, indem er die repräsentative Demokratie durch ein Gedächtnis ersetzt, auf das jeder Mensch zugreifen kann? Damit repräsentieren alle Menschen das Volk, das demokratisch regiert von den Bürgern lebt, die sich für Gott einsetzen. Hierarchie entwickelt sich in ihrer Komplexität durch Gott, der in seiner ganz persönlichen Berufung dem Staat zu seinem Recht verhilft.

        Was wäre der Staat ohne den Widerstand der Kirche und was wäre die Katholische Kirche, ohne Vater? Woran könnte sich ihr Herz erfüllen und mit wem würde sie es teilen, gäbe es da nicht die ewige Braut und ihren Bräutigam?

        Ich glaube, durch die Katholische Kirche findet der Mensch einen neuen Weg zu Gott, der ihn als Vater mit ihr gemeinsam geht und im Geiste, schon immer mit ihr gegangen ist. Deshalb ist es so wichtig, an diese Kirche in ihrer Heiligkeit durch die Taufe zu glauben, denn ohne ihre Taufe bliebe wertlos und leer, was sich aus reiner Liebe zu Gott dem Wandel unterwirft, der sich an ihr vollzieht.

        Auferstehung ohne die Heiligkeit der Taufe vom Herz des Herrn, käme einer Geburt gleich, die den Vater entmündigt und damit ihre ganze Fülle nie erreicht. Ich hoffe, dieser Satz ist verständlich, denn er bildet den Kern meines Bekenntnisses zur Katholischen Kirche, die sich auf den Vater beruft, der die Mutter repräsentiert, um deren Herz am Altar des Herrn geworben wird. Maria, Königin, Prophetin, aber letztendlich Mutter mit Leib und Seele, deren Herz sich an Jesus erfüllt und zu dem Gedächtnis führt, das vom Vater offenbart wird.

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