Marlehn Thieme ist Bankdirektorin, Juristin und EKD-Ratsmitglied. Rüdiger Jope, Redakteur der Zeitschrift "3E echt. evangelisch. engagiert.", sprach mit ihr über die Vergleichbarkeit von Kirche und Unternehmen, das Papier "Kirche der Freiheit" und die künftige Rolle von Pfarrern und Ehrenamtlichen in der Gemeinde.
Frau Thieme, welche Bank ist Ihnen lieber. Die Kirchenbank oder die Deutsche Bank?
[lacht] Ich schätze beide Banken. Auf der Kirchenbank kann die Seele zur Ruhe kommen. Dort kann man sich besinnen und orientieren. Die Deutsche Bank ist mein Arbeitgeber. In diesem global tätigen Unternehmen konnte ich meine gottgegebenen Fähigkeiten weiter entwickeln. Große Freude hat mir dort die innovative und sehr teamorientierte Zusammenarbeit mit meinen Kollegen und Kolleginnen gemacht.
Kann man eine Kirche wie ein Unternehmen voranbringen?
Diese negative Herangehensweise teile ich nicht. Sie unterstellt: Unternehmen sind etwas Schlechtes. Viele Unternehmen unternehmen etwas für andere Menschen. Sie erbringen Dienstleistungen, sie erstellen Produkte und müssen jeden Tag sehen, dass sie diese loswerden.
Ist das bei der Kirche anders?
Das, was Kirche machen kann, muss keiner abnehmen. Den Glauben kann man nicht produzieren, aber man kann das Bestmögliche tun, damit er relevant bleibt und Menschen zum Glauben ermutigt werden. Die Liebe Gottes zu den Menschen ist ein ausgezeichnetes und unverzichtbares "Produkt", was unsere Gesellschaft bitter nötig hat. Von daher können wir als Kirche von Unternehmen viel lernen. Im Übrigen sind wir ja im Bereich der Kindergärten, Schulen, Altenheime und Krankenhäuser längst als Unternehmen tätig.
Sie kennen sich aus mit Bilanzen. Wie sieht Ihre persönliche Bilanz sieben Jahre nach der Verabschiedung des Papiers "Kirche der Freiheit" aus, an dem Sie mitgewirkt haben?
Manchmal zweifle ich, ob ich es mir schönrede. Aber ich bin überzeugt, dass dieser heftige Diskurs viele dazu gebracht hat darüber nachzudenken, was sie in ihrem Umfeld besser machen können. Gewisse Themen sind heute Normalität. Man konnte danach zum Beispiel viel konstruktiver über Kirchenfusionen reden. Das Papier hat Ohrenklappen, Scheuklappen und Augenklappen weggerissen und deutlich gemacht: "Wir können es tun – wir sollten es nur wollen". Über Glaubenskurse wird heute nicht mehr diskutiert. Sie werden in vielen Gemeinden einfach angeboten.
Sie ermutigen zum Aufbruch?
Unbedingt! Wenn ich jetzt ein Unternehmer wäre oder der Kapitän eines großen Schiffes, dann sähe ich doch nicht gemütlich zu, wie mein Unternehmen bedeutungslos wird. Das kann doch nicht sein. Die christliche Botschaft ist eine ganz tolle Sache für unsere Gesellschaft und wir müssen etwas tun, damit die Relevanz nicht geringer wird.
Gibt es was, wo sie sagen, dass es heute die Kernaufgabe der Kirche ist? Etwas, das sie unbedingt machen sollte.
Also ich glaube, dass sie Menschen vermitteln sollte, was Glauben heute heißen kann. Das ist das Schwierigste. Matthias Claudius dichtete "der Mond ist nur halb zu sehen und ist dennoch rund und schön." Heute wissen wir weniger denn je, weil wir mehr wissen, was wir nicht wissen. Und in dieser wissenslosen Gesellschaft müssen wir über Glaubenserfahrungen reden. Mein Eindruck ist: Kinder, Erwachsene und Alte sehnen sich nach geistlichen Erfahrungsräumen, nach Orientierung und geistlichen Heimatorten.
Erleben Sie in Ihrer Führungsposition auch Suchende oder ist das Evangelium nur etwas für die "Schwachen".
Ich glaube, dass die Bedürftigkeit der Menschen ganz oben in unserer gesellschaftlichen Hierarchie genau so groß ist wie ganz unten. Gerade die Einflussreichen wissen oftmals um ihre Bedürftigkeit und sind offen für die Begegnung mit Gott.
Sie wünschen sich unter anderem eine Qualitätsentwicklung im Blick auf Gottesdienste und Kasualien. Was meinen Sie damit?
Wir sind visuell verwöhnt durch das Fernsehen. Das kann man schön finden oder nicht. Aber wenn dann keine schönen Blumen auf dem Altar stehen, die Atmosphäre irgendwie lieblos arrangiert scheint und kalt daherkommt, bleiben die Kirchen leer. Wir brauchen heile und einladende Räume. Viele Seelen sind geschunden durch den Druck des Arbeitslebens, Gebrochenheit der Familie oder dem Scheitern an den eigenen Ansprüchen. Dann sollten sie einmal in der Woche doch auch das Gefühl haben, sie werden verwöhnt durch einen schönen Anblick, durch eine gepflegte Atmosphäre, durch schöne Musik, durch einen heiteren, nachdenklichen oder auch traurigen Gottesdienst, durch eine in sich stimmige Predigt und sorgsam vorbereitete Liturgie. Wenn der Gottesdienst nur schnell-schnell durchgezogen wird und ich als Mensch nicht vorkomme, vor oder nach dem Gottesdienst keiner auf mich zukommt, dann verschenken wir ein unglaublich kostbares Gut.
Auf die Hauptamtlichen prasseln heute viele Erwartungen ein…
Das ist richtig. Wir müssen unsere Pfarrer vor überhöhten Ansprüchen schützen. Und es gilt strategisch die richtigen Schritte zu tun. Sie sollten nicht einfach das tun, was irgendwo am Rande liegt und schon immer so gemacht wurde, sondern sie müssen die größten Hebel suchen. Pfarrerarbeit ist Führungsaufgabe. Es gilt andere eigenverantwortlich an der Gemeindegestaltungsaufgabe zu beteiligen.
Das ist aber schwierig.
Die Ehrenamtlichen stehen oft unter großem Druck im Beruf, wollen sich um ihre Familie kümmern. Da muss man sehr tolerant und einfühlsam sein. Aber, um Enttäuschungen gegenseitiger Erwartungen zu vermeiden, muss man miteinander reden. Auch der Kirchenvorstand mit dem Pastor: Was wollen wir wirklich machen? Was ist uns wirklich wichtig? Wie organisieren wir einen möglichst verletzungsfreien Kommunikationsfluss zwischen dem Pastor und der Gemeinde oder einzelnen Gemeindemitgliedern und überfrachten uns auch nicht mit Erwartungen. Da sitzt ein Mensch, der ist Theologe. Und der soll jetzt eine Diakoniestation, möglichst zwei Kindergärten und ein Altenheim bedienen. Am Besten soll er auch noch jeden, der über 65 ist, an seinem Geburtstag besuchen. Er soll einen theologisch und seelsorgerlich anspruchsvollen Gottesdienst halten, einen Glaubenskurs, eine Konfifreizeit, einen Gemeindeausflug, ein Gästegottesdienst, einen Schulanfangsgottesdienst…durchführen. Da ist der Terminkalender schnell voll. Ein Pfarrer oder eine Pfarrerin allein kann dieses Unternehmen nicht schultern. Darum ist es umso wichtiger, dass man die Ansprüche und die Aufgaben und auch das, was man nicht schaffen kann, miteinander bespricht.
Welche Rolle messen Sie da den Ehrenamtlichen zu?
Denen gehört eine wichtige Rolle in der Zukunft. Die Kirchensteuerentwicklung wird dahin führen, dass viele Gemeinden ohne Pastoren auskommen müssen. Hier müssen wir Ehrenamtlern vermehrt Gestaltungsspielräume geben.
Sie sind jetzt 56. Was macht Sie dankbar im Rückblick auf Ihren bisherigen Lebensweg?
Ich habe bisher ein behütetes und wunderbares Leben gehabt. Mit großer Dankbarkeit sage ich: Ich habe wirklich Gottes Führung und Fügung gespürt und erlebt. Das heißt nicht, dass es keine Probleme oder Schwierigkeiten gab, die mich auch manchmal gebeutelt haben. Ich bin glücklich mit einem wunderbaren Mann und zwei tollen Kindern. Ich habe eine wunderbare Aufgabe. Was will ich eigentlich mehr?
Gibt es einen Bibelvers, der Sie schon länger begleitet?
Da gibt es mehrere. Ein wichtiger Satz, der meine Ehe begleitet, ist aus 2. Timotheus 1,7: "Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit."
Wie tanken Sie geistlich auf?
Ich lasse mich morgens durch die Losung, Gebet und Morgensegen inspirieren. Das netteste ist, wenn es ein Liedtext ist und mir die Musik dann den ganzen Tag im Ohr nachklingt.
Danke für das Gespräch!
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Das komplette Interview mit Marlehn Thieme können Sie in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "3E" nachlesen. "3E" wird vom SCM Bundes-Verlag herausgegeben, zu dem auch Jesus.de gehört.
(Quelle: Magazin 3E – echt. evangelisch. engagiert.)