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Willow Creek: „Kirche mit Beulen und Kanten“

Die komplette Führungsriege der Willow-Creek-Gemeinde in Chicago ist zurückgetreten. Gründe dafür sind die Missbrauchsvorwürfe gegen ihren Gründer Bill Hybels sowie das mangelhafte Krisenmanagement.

Ein Gastkommentar von Marcus Tesch

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Als ich im Laufe des Jahres erstmals von den Anschuldigungen gegen Bill Hybels las, war meine spontane Reaktion: Nicht der auch noch! Die Beschuldigungen klangen noch vage, für deutsche Verhältnisse fast harmlos. Aber sie erhielten Gewicht dadurch, dass Menschen aus dem engsten Umkreis von Hybels sich zum Fürsprecher und Anwalt der betroffenen Frauen machten – so etwa der auch in Deutschland gut bekannte Theologe John Ortberg gemeinsam mit seiner Frau Nancy.

Inzwischen scheinen sich die Beschuldigungen erhärtet zu haben. Nach „überlangen Umarmungen“ und Einladungen aufs Hotelzimmer kommen nun schwerwiegendere Vorwürfe hinzu, die auch sexuelle Handlungen gegen den Willen der betroffnen Frauen beinhalten. Der Leitung von Willow Creek ist zum Verhängnis geworden, dass die Beschuldigungen gegen Hybels nicht mit der Transparenz und Distanz behandelt wurden, die zu einer echten Überprüfung gehört hätten. Mittlerweile sind sowohl die beiden leitenden Pastoren, Heather Larson und Steve Carter, als auch die Gemeindeältesten zurückgetreten.

Willow steht für hohe Professionalität

Willow Creek verfolge ich mehr oder weniger intensiv seit über 20 Jahren. In meiner Ausbil-dung zum Gemeindepfarrer spielten an der einen oder anderen Stelle auch Gedanken von dort eine Rolle. Dabei waren es vor allem die „Gottesdienste für Suchende“ („Seeker Services“), die nach meiner Wahrnehmung einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Ich kenne kaum eine Gemeinde, die nicht bewusst oder unbewusst ein „zweites Gottesdienstprogramm“ fährt, um Menschen anzusprechen, die, um im Jargon zu bleiben, „kirchendistanziert“ sind. Doch auch im Rahmen von Jüngerschaftsschulungen oder bei der Überlegung zu christlicher Leiterschaft tauchten immer wieder Ideen aus der Willow-Bewegung oder direkt von Bill Hybels auf. Dafür musste man nicht einmal an einem der Leiterschaftskongresse teilnehmen.

So stand und steht Willow Creek für mich bislang immer für eine innovative Form der Kirche mit dem Anspruch, Gottesdienst und Kirche so zu gestalten, dass die Schwellen für Außenstehende niedrig sind. Fast parallel dazu habe ich immer gemerkt, dass damit ein hoher Grad an Perfektion verbunden war. „Gottesdienste für Suchende“ sollten nicht nur durch Niederschwelligkeit, sondern auch durch hohe Professionalität überzeugen. Willow Creek – das stand und steht immer auch für hohe Ansprüche, die sich nach meiner Wahrnehmung nicht immer erfüllen lassen. Und wenn sie nicht erfüllt sind, vielleicht auch ein Gefühl von Versagen und Zweitklassigkeit bei denen hinterlassen, die an ihnen gescheitert sind.

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Ich habe das, wofür Willow Creek steht, darum auch immer mit einer kleinen Portion Skepsis betrachtet. Mit dieser Skepsis stand ich sicher nicht allein. Die „realen“ Menschen in den Gemeinden ticken eben nicht immer genau so, wie es in Gemeindeaufbauprogrammen vorausgesetzt wird – Nichtsdestoweniger habe ich wie viele andere Pastoren auch wertvolle Impulse für meine Arbeit in der Gemeinde und nicht zuletzt für meinen persönlichen Glauben durch Willow erhalten.

Es gibt keine perfekte Kirche

Besteht nun Anlass zur Schadenfreude, dass das große Vorzeigeprojekt „Willow Creek“ gerade am Thema der guten geistlichen und biblischen Leiterschaft zu scheitern droht? Ein Thema, wofür die Willow-Bewegung immer gestanden hat? Kommt es gerade beim Anspruch an die eigene Perfektion im Umgang mit der aktuellen Krise zum Bruch? Besteht Grund zur Genugtuung, dass auch beim großen Vorbild an einigen Stellen der Lack abblättert?

Ich sehe sie schon vor mir, jene, die nun aufstehen und laut sagen: Das war doch klar, dass es so kommen musste. Egal, ob sie dies vor dem Hintergrund einer volkskirchlich und liberalen Haltung tun oder aus dem Blickwinkel einer konservativen Richtung. Klar ist: Missbrauch und sexuelle Übergriffe kommen in allen Gemeinden, Gemeindeformen und Kirchen vor, ebenso wie das Verschweigen, Vertuschen und die Ausgrenzung der Opfer. Die Kirche und die Gemeinde, die frei ist von Sünden solcher Art ist, müsste erst noch gefunden werden.

Nestbeschmutzerinnen?

Als seinerzeit die ersten Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche aufgedeckt wurden, da stellte sich bei mir sofort der Gedanke ein: „Wenn ein Glied leidet, dann leiden alle Glieder mit.“ Für mich sieht es im konkreten Fall von Willow Creek kaum anders aus. Und das nicht nur, weil es jemandem von außen immer schwerer zu vermitteln ist, worin die Unterschiede zwischen den einzelnen Kirchen bestehen. Als Christinnen und Christen stehen wir gemeinsam in der Verantwortung vor Gott und vor den Menschen. Niemand hat Anlass dazu, auf seine eigene, vermeintlich reine Weste zu zeigen. Sie ist es nämlich nicht.

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Mancher mag es schwer ertragen können, dass das persönliche Vorbild Bill Hybels diesen Vorwürfen ausgesetzt ist und geht deshalb in eine Verteidigungshaltung über. „Das kann doch alles gar nicht stimmen…!“ Hier geht es aber nicht in allererster Linie um die Person Bill Hybels, sondern um die betroffenen Frauen. Denn auch wenn es so etwas wie eine Unschuldsvermutung gibt, muss den Berichten dieser Frauen zunächst einmal geglaubt werden. Sie sind diejenigen, die auf Grund der geschilderten Vorfälle lange Zeit aus Scham und aus Sorge, man würde ihnen sowieso nicht glauben, geschwiegen haben. Sie sind in einer solchen Situation fast immer in der schwächeren Position und tragen deshalb nicht nur die Verletzungen durch die geschehenen Taten an sich, sondern auch das Stigma, sie seien „Nestbeschmutzerinnen“ oder sogar Lügerinnen. Dadurch verdoppelt sich die Last auf ihrer Seele. Wer aus Sorge, einer Kirche, Organisation oder einer Person würde dadurch Schaden zugefügt, Beschuldigungen abstreitet, der macht sich ebenfalls schuldig an den betroffenen Personen.

Nur Christus war ohne Sünde

Keine Person der Kirchengeschichte war jemals frei von Schuld. Kein Martin Luther, der fürchterliche Hetzschriften gegen Juden verfasste. Kein Johannes Calvin, der die Todesstrafe gegen vermeintliche Ketzer unterstützte. Kein Bernhard von Clairvaux, der tiefe geistliche Texte verfasste, aber gleichzeitig zu den Kreuzzügen aufrief. Keiner von uns. Wir kennen unsere dunklen Punkte meist selbst am besten. Jede Persönlichkeit, jeder Christ, ist und bleibt in dieser Welt auch Sünder. Jeder und jede von uns kann fallen. Der Einzige, der ohne Sünde war, ist Jesus Christus. Das sollten wir nie vergessen.

Wir leben in einer Kirche mit Beulen und Kanten. Jemand sagte einmal: „Jede Kirche ist höchstens so lange perfekt, bis du dazu kommst.“ Auch Willow Creek ist eine Kirche mit Beulen und Kanten, was jetzt in erschreckender Form sichtbar wird. Es ist eine Gemeinde wie unsere eigene Gemeinde und Kirche hier vor Ort. In Zeiten des Erfolgs kann man so etwas schon mal vergessen und im eigenen Glanz nur die runzligen Stellen bei den anderen entdecken und für die eigenen unempfindlich werden. Papst Franziskus hat es einmal so auf den Punkt gebracht: „Mir ist eine ,verbeulte’ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, lieber als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und Bequemlichkeit … krank ist.“

Unser Glaube hängt eben nicht an der perfekten Gemeindeform. Er hängt an Jesus Christus. Das war schon immer so. Darum konnte Paulus voller Selbstbewusstsein und voller Vertrauen schreiben:

„Erinnert euch, liebe Brüder, dass nur wenige von euch in den Augen der Welt weise oder mächtig oder angesehen waren, als Gott euch berief. Gott hat das auserwählt, was in den Augen der Welt gering ist, um so diejenigen zu beschämen, die sich selbst für weise halten. Er hat das Schwache erwählt, um das Starke zu erniedrigen. Er hat das erwählt, was von der Welt verachtet und gering geschätzt wird, und es eingesetzt, um das zunichte zu machen, was in der Welt wichtig ist, damit kein Mensch sich je vor Gott rühmen kann.“

(1. Korinther 1,26-29, Neues Leben Bibel)

Ich wünsche mir, dass die Leitung von Willow Creek den Mut aufbringt, die Schritte einzuleiten, die für eine radikale Aufklärung jetzt nötig sind. Ich wünsche mir, dass Bill Hybels den Mut hat, seine Schuld einzugestehen, wie er es meines Erachtens immer wieder als biblisch verkündet hat – sofern er denn schuldig geworden ist, wofür leider einiges spricht. Vor allem wünsche ich mir aber für die betroffenen Frauen, dass sie Gehör finden und dass sie trotz des Schadens, der ihnen widerfahren ist, ein lebensfrohes und erfülltes Leben führen können. Und von uns, auch von mir selbst, wünsche ich mir, dass wir uns frei machen von der Vorstellung, wir könnten mit den richtigen Haltungen, Entscheidungen und Programmen eine Kirche oder Gemeinde bauen, die fehlerfrei ist, und aus diesem Irrglauben heraus das, was wir bei uns vor Ort vorfinden, auf Grund seiner vermeintlichen Schwächen verachten oder ablehnen: eine Kirche mit Beulen und Kanten.

Marcus Tesch ist Pfarrer der rheinischen Kirche
in der evangelischen Kirchengemeinde Wissen

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