Sängerin Yuval Raphael hat das Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 überlebt. Aus dieser Erfahrung ist ein Lied entstanden, das sie in dieser Woche als Israels Beitrag beim Eurovision Song Contest singen wird.
HINWEIS: Dieser Artikel enthält Darstellungen physischer Gewalt.
Von Brigitte B. Nussbächer
Ich wähle das Licht Ich habe nichts zu verlieren,
Und selbst, wenn du Lebewohl sagst
bleibst du in mir,
hebst mich empor, trägst mich ins Licht.
Ein neuer Tag wird anbrechen.
Die Dunkelheit wird verblassen,
all der Schmerz wird vergehen …
Was es Yuval kostet, diese Zeilen zu singen, ist kaum zu erahnen. Es klingt wie ein melancholisches Liebeslied und strahlt doch so viel Hoffnung aus. Kein Wort verrät etwas von der Geschichte der Sängerin, kein Wort lässt erahnen, dass vielleicht mehr als der Bruch einer persönlichen Beziehung gemeint ist. Die unspezifischen Worte gaben der ESC-Jury keinen Anlass, das Lied wegen politischer Inhalte abzulehnen.
Und doch verbirgt sich hinter den Zeilen eine schier unglaubliche Überlebensgeschichte. Denn Yuval hat das furchtbare Massaker der Hamas, vom 7. Oktober 2023, dass den Namen „Al Aksa Flut“ trug, überlebt. Dadurch bekommen die folgenden Worte eine tiefere Bedeutung:
Das Leben wird weitergehen.
Jeder weint – weine nicht allein.
Wir werden bleiben, selbst wenn du dich verabschiedest.
Viele Wasser können die Liebe nicht auslöschen.
Auch die Fluten können sie nicht ertränken.
Die Worte stehen für den Willen der Israelis, auch diesmal wieder aus den Trümmern aufzustehen, zu bleiben und das Land ihrer Väter auch nach diesem Schicksalsschlag wieder aufzubauen. Sie stehen für den Willen Yuvals, ihrem Leben besondere Tiefe zu geben, gerade weil sie dem Tod an jenem Tag ins Auge gesehen hat. Weil sie miterleben musste, wie die Menschen um sie herum zu Hunderten ermordet wurden – und sie dennoch überlebt hat an jenem Morgen auf dem Musikfestival.
Terror beim Festival der Liebe
Das „Supernova Sukkot Gathering“ wurde vor 20 Jahren in Brasilien gegründet. Im Oktober 2023 fand es erstmals in Israel statt. Die Open-Air-Veranstaltung begann am Vorabend des jüdischen „Festes Simchat Tora“. Es sollte eine Feier von „Freunden, Liebe und unendlicher Freiheit“ sein, das kunstvoll dekorierte Gelände wie eine magische Welt wirken. Der Veranstaltungsort liegt fünf Kilometer vom Grenzzaun zum Gazastreifen entfernt und wurde nur von privaten Sicherheitskräften und Polizisten geschützt. Doch darüber machte sich niemand Gedanken – bis im Morgengrauen um 6:39 Uhr plötzlich die Musik abbrach und Alarmstufe Rot ausgerufen wurde.
Tausende Raketen gingen auf Israel nieder. Hamas-Terroristen mit Gleitschirmen, Pick-up-Trucks und Motorrädern durchbrachen die improvisierte Verteidigungslinie und drangen auf das Festivalgelände ein. Die Besucherinnen und Besucher versuchten, sich unter Büschen, in Müllcontainern und Toilettenanlagen zu verstecken oder zu ihren PKW zu fliehen. Was danach folgte, war apokalyptisch: Geiselnahmen und Plünderungen, Vergewaltigungen und Mord. Überall verbrannte Autos und Leichen auf der Straße.
Straße des Todes
Zahlreiche Flüchtende versuchten, die umliegenden Siedlungen zu erreichen. Doch auch auf den Landstraßen waren die Terroristen unterwegs. Route 232 ist die Straße in den Süden, die die israelischen Ortschaften an der Grenze zu Gaza verbindet. Eigentlich eine malerische Strecke: Sanddünen, die daran erinnern, dass wir uns hier in der Negev Wüste befinden und grüne Felder wechseln sich links und rechts ab. Der Horizont ist weit, der Blick schweift ungehindert in die Ferne. Eine Landschaft zum Genießen – bis zum 7. Oktober.
An diesem Tag wurde Route 232 zu einer Straße des Terrors, auf der Hunderte vergeblich versuchten, vor der Hamas zu fliehen. Auch Yuval und ihre Freunde hatten nach dem Angriff diese Option gewählt. Doch sie kamen nicht weit. Die Straße war völlig verstopft, manche PKW wendeten. Sie hielten ein Auto an, das in die andere Richtung fuhr und fragten, was los sei. Es hieß, dass die nächste Kreuzung von Terroristen besetzt sei, die auf alle schossen, die sich näherten. Sowohl Feiernde vom Nova-Festival, die versuchten sich in die umliegenden Ortschaften zu retten, als auch Bewohner der heimgesuchten Kibbuzim, die auf der Flucht waren, wurden brutal niedergemetzelt. Mehr als 110 Menschen wurden hier ermordet. Ihre Leichen säumten den Straßenrand.
Heute ist die Route 232 mehr oder weniger verlassen. In die zerstörten Kibbuzim ist das Leben noch nicht wieder zurückgekehrt. Sie ist zu einer Gedenkstraße geworden – viele gelbe Fahnen erinnern hier an die immer noch in Gaza festgehaltenen Geiseln.
Eine Gedenkstätte entsteht
Auf dem Gelände neben dem Kibbuz Re’im, wo das Festival stattfand, ist eine Gedenkstätte entstanden. Es gibt keinen anderen Ort, an dem das Morden in diesem Ausmaß stattfand, kein anderer Ort, wo die Menschen so wehrlos waren. Für jeden, der hier ermordet wurde, wurde eine Gedenktafel errichtet und ein Baum gepflanzt – als Zeichen des Fortbestehens des Lebens. Wenn man hier steht, vor sich all die Tafeln mit den Bildern der ermordete jungen Menschen, die so hoffnungsvoll der Zukunft entgegensahen, dann bekommt man eine leise Ahnung davon, was für ein Verbrechen hier begangen wurde. Doch es ist nur eine Ahnung. Nie werden wir, die wir nicht dabei waren, das Ausmaß der Gräueltaten, die hier begangen wurden, begreifen.
Heute strahlt über dem großen, stillen Platz die Sonne. Besucher gehen leise von Bild zu Bild. Manchen laufen die Tränen über die Wangen. Rundherum sind Stühle aufgestellt, die Angehörigen können herkommen, um hier ihren verstorbenen Liebsten nahe zu sein.
Aus dem Schmerz ins Rampenlicht
Auch Yuval hatte auf dem Musikfestival getanzt. Nachdem sie erfahren hatte, dass die Fluchtwege besetzt waren, flüchtete sie mit vielen anderen in einen öffentlichen Luftschutzbunker am Straßenrand, der jedoch von den Terroristen entdeckt und mit Handgranaten angegriffen wurde. Die Schüsse und Explosionen töteten fast alle. Yuval überlebte nur, weil sie sich unter den Leichen anderer versteckte und unbewegt ausharrte – viele Stunden lang.
Wie lebt man nach so einer Erfahrung weiter? Wie geht man damit um? Yuval nahm therapeutische Hilfe in Anspruch, um mit der grausamen Erinnerung leben zu lernen. Sie will nicht nur „irgendwie“ weitermachen, sondern hat die innere Kraft gewonnen, ins Rampenlicht zu treten. Dass sie darüber berichtet, was am 7. Oktober geschah, ist ihre Art zu kämpfen. In der Situation damals war sie hilflos – aber jetzt versucht sie mit ihren Worten und Botschaften dafür zu sorgen, dass so etwas niemals wieder geschieht. Darüber zu sprechen, gibt ihr Kraft. Ihr Leben, ihr Überleben, soll eine Botschaft der Hoffnung sein. Und so vertritt sie rund anderthalb Jahre nach dem Massaker Israel am 15. und 17. Mai beim Eurovision Song Contest in der Schweiz. Was für eine Resilienz!
Auch wenn es noch nicht vorbei ist, auch wenn immer noch über 50 Geiseln in Gaza festgehalten werden und der Krieg daher immer noch andauert, singt Yuval davon, dass ein neuer Tag anbricht, der Beginn einer neuen Zukunft. Menschen wie sie sind diejenigen, die dazu beitragen, dass Israel nach jeder Katastrophe wieder aus der Asche aufsteht. „Am Israel Chai“ – „Israel lebt“.
Ein neuer Tag wird anbrechen, das Leben wird weitergehen! …
Die Dunkelheit wird verblassen, all der Schmerz wird vergehen
Und wir werden bleiben, auch wenn du dich verabschiedest.
Yuval Raphael
UPDATE:
Yuval Raphael belegte beim ESC in Basel den 2. Platz. Nach dem Jury-Voten lag sie mit 60 Punkten noch auf Platz 15, doch durch den Sieg beim Zuschauervoting kam sie weit nach vorne. Während ihres Auftritts hatten Sicherheitskräfte in der Halle einen Farbbeutelangriff auf die Sängerin verhindert. Bereits vor dem Wettbewerb hatten rund 500 teils vermummte Demonstranten unangemeldet versucht, durch die Baseler Innenstadt zu ziehen. Polizeikräfte verhinderten dies.
Nach dem Auftritt sagte Yuval Raphael: „Alles was ich wollte, war mein Land stolz zu machen und ihm eine Sekunde des Friedens zu schenken. Doch ein wirklicher Sieg ist erst dann errungen, wenn alle unsere Geiseln wieder zu Hause sind!„
Brigitte Nussbächer und ihr Mann Harald Bottesch sind regelmäßig in Israel und unterstützen Familien, die von dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 betroffen waren. Auf ihrer Webseite Arc to Israel („Brücke nach Israel“) möchten sie den Menschen das Land Israel und seine Bewohner näherbringen.
Redaktioneller Hinweis: Dies ist eine gekürzte Fassung des Artikels „Yuvals Lied vom neuen Tag“. Den kompletten Artikel von Brigitte Nussbächer können Sie auf der Webseite Arc to Israel lesen.
Hier geht es zum Eurovision Song Contest.