Die kommunistische Sowjetführung wollte der Welt einst "den letzten Popen" im Fernsehen vorführen, erst vor 25 Jahren endete die Gängelung der Kirchen im größten Land der Erde. Inzwischen sind sich Staat und Orthodoxie wieder sehr nahe gekommen.
Die Warteschlange zieht sich von der nach dem Anarchisten Pjotr Kropotkin benannten Metro-Station zum Moskwa-Fluss hinunter, auf einer Seite der Uferstraße immer weiter weg, auf der anderen wieder zurück. Einen Kilometer lang ist sie schon früh am Morgen. Männer, Frauen mit Kopftüchern und Kinder, die zur Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale geströmt sind, warten stundenlang, einzig, um einen kurzen Blick auf eine der heiligsten Reliquien der christlich-orthodoxen Welt werfen, das für einige Tage aus Griechenland eingeflogene Kreuz des Apostels Andreas.
"Das hier ist das wahre Russland", sagt Konstantin Blaschenow vom städtischen Organisationskomitee mit zufriedenem Blick auf den Besucheransturm, den er in geregelten Bahnen halten muss. Die Christ-Erlöser-Kathedrale mit ihren gewaltigen goldenen Kuppeln, von Stalin in die Luft gesprengt und nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder aufgebaut, ist zum Symbol schlechthin für die beispiellose Wiederauferstehung der russisch-orthodoxen Kirche nach sieben Jahrzehnten kommunistischer Unterdrückung und für die neue Nähe zwischen irdischer Staatsmacht und himmlischen Mächten geworden.
Noch in den 1980er Jahren hatten sowjetische Christen ihre Kinder heimlich taufen lassen, weil sie keine Unannehmlichkeiten am Arbeitsplatz riskieren wollten. Der damalige KP-Generalsekretär Michail Gorbatschow leitete 1988 – im Jahr drei der Perestroika-Ära – die Wende ein, als in der UdSSR die Feiern zum 1000. Jahrestag der Christianisierung des alten Russlands anstanden.
Ein Vierteljahrhundert später profitieren auch die anderen sogenannten traditionellen Religionen, neben der Orthodoxie auch Islam, Judentum und Buddhismus, von einst undenkbaren Freiheiten. "Der Staat mischt sich überhaupt nicht mehr in unsere Angelegenheiten ein", sagt Russlands Oberrabbiner Adolf Schajewitsch. Jüdische Schulen, koschere Restaurants, all das sei in Städten wie Moskau kein Problem mehr. Staatlichen Antisemitismus wie zu kommunistischen Zeiten gebe es nicht mehr.
Im Sinne der Religionsgemeinschaften war auch die jüngste Verschärfung des Anti-Blasphemie-Gesetzes durch die Staatsduma, eine Reaktion auf die kirchenfeindlichen Aktionen der Punktruppe "Pussy Riot" und der Oben-ohne-Aktivistinnen von "Femen", die mit Motorsägen orthodoxe Kreuze zerlegt hatten. "Solche Menschen haben kein Gehirn", wettert Jaroslaw Nilow, Vorsitzender des zuständigen Parlamentsausschusses von der Partei des populistischen Haudraufs Wladimir Schirinowski. "Das sind die Nachfolgen unseres bolschewistischen Regimes."
Die staatliche Hilfe beim Wiederaufbau des religiösen Lebens und Schützenhilfe der Gesetzgeber sind in Russland nicht umsonst, wie selbst Kirchenvertreter einräumen. Hochrangige Würdenträger revanchieren sich mit öffentlichen Sympathiebekundungen zugunsten der Staatsführung und der Beamten-Partei "Einiges Russland". Als landesweit unzufriedene Bürger gegen die Fälschungen der Duma-Wahlergebnisse auf die Straßen gingen, rief Patriarch Kyrill die Demonstranten zur Raison.
Insbesondere abseits der Hauptstadt wird dieser Trend auch innerhalb der Kirche zwiespältig betrachtet – zumal es bei einigen zentralen Problemen in den Staats-Kirchen-Beziehungen wie der Anerkennung kirchlicher Hochschuldiplome oder der Rückgabe einiger bedeutender Gotteshäuser kaum Fortschritte gibt. "Die meisten Gläubigen und Priester wollen eine Distanz zwischen Staat und Kirche bewahren", versichert der junge Petersburger Priester Alexej Woltschkow. Der Alltag auch der russischen Orthodoxie bestehe aus Seelsorge und Gottesdienst – und nicht, wie im Westen zuweilen suggeriert, aus prächtigen Großveranstaltungen in mit Staatshilfe gebauten Kathedralen.
(Quelle: epd)