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Wenn die Babyboomer gehen: Gute Übergänge in Gemeinden gestalten

Wie können Jung und Alt gemeinsam die Gemeinden und christlichen Werke der Zukunft gestalten? Uli Eggers und Thomas Härry sprechen über die Herausforderungen des Leitens, Hierarchien und die Kunst des Abgebens.

Uli Eggers: Seitdem ich beruflich im Ruhestand bin und nur noch ehrenamtlich für verschiedene Projekte arbeite, habe ich einen verschärften Blick für Übergänge – auch im Bereich Ehrenamt in Gemeinde und Werken. Überall stehen sie an – fast überall sind sie ein Problem. Mit dem langsamen Herauswachsen der starken Babyboomer-Generation ist das ja eines der Themen, die uns alle in den nächsten Jahren so oder so stark beschäftigen wird – egal, wie alt ich bin, ich werde davon betroffen sein! Mir begegnen da in meinen verschiedenen Lebenszusammenhängen zurzeit sehr unterschiedliche Muster. Und: Es ruckelt! Wir haben da noch nicht so wirklich viel gelernt, wie man in Gemeinden, Werken, Firmen, Arbeitsbereichen, Teams … gute Übergänge hinkriegt, die nicht plötzlicher Bruch und große Diskontinuität, sondern kluges, lang vorbereitetes Übergeben in neue Hände und möglichst harmonisches Miteinander sind. Es ruckelt …

Einige Beispiele:

Typisch für die Babyboomer-Generation ist ja, dass viele Werke oder Gemeinden in den starken Jahren gewachsen sind (stark = finanziell und personell, relativ optimistisch und berechenbar in der warmen Luft der politischen Wende …) sind und jetzt Führungs-Positionen oder Leitungsmöglichkeiten anbieten, die eine große Schuhgröße hinterlassen. Wer mal 1990 sozusagen mit „Größe 38“ eingestiegen ist, hinterlässt bei Glück und Segen einen Bereich in „Größe 45“. Nur: Dafür gibt es gar keine geborenen und wenig gewordene Leitungsmenschen – die fangen oft auch erst wieder bei Größe 38 an. Was tun – wenn man sich nicht langfristig vorbereitet hat auf absehbare Wechsel? Wer findet sich jetzt?

Überall werden zurzeit gute Leute gesucht – aber die Situation hat sich total verändert: In meiner Spät-68er-Generation gab es manch einen, der ungeduldig mit den Hufen gescharrt hat und nur zu gern bereit war, mit seinen Ideen und alternativen Einsichten eine Arbeit zu übernehmen und in die Zukunft zu formen – manchmal wurden sie nur unter großen Mühen rangelassen und mussten sich mühsam das Vertrauen erwerben. Will sagen: Plätze sind frei, große Chancen sind vorhanden. Nur: Es fehlen oft die Leute dafür! Die Beobachtung gilt bei Ehrenamtlichen in Gemeinden genauso wie für Leitungspositionen in Werken oder Gremien. Frauen arbeiten durchweg, Männer entdecken (und das ist ja gut so!) immer mehr ihre Rolle in der Familie und achten auf ihre Work-Life-Balance. Aber wie geht es gemeinsam gut weiter? Wer übernimmt?

Andere zucken zurück, weil man lieber sein eigenes Ding machen will, statt sich mühsam durch Gremien zu kämpfen und mit kontroversen Stimmen umzugehen. Also hält man sich raus und sieht mit scharfem Blick, was da alles schiefläuft und wie es besser wäre. Nur einmischen tut man sich nicht – das gilt in vielen Ehrenämtern von Politik bis Kirche.

Wieder andere Gremien räumen jetzt mit Verve Plätze für die Jungen ein – Hauptsache jung oder Frau. Wer dann genau mit welcher Qualifikation gebraucht wird und geistlich was genau im Sinn hat, scheint manchmal gar nicht so wichtig – man hat es gerade eilig: Übergang mit Turbo-Power, bei dem eine gute Kontinuität und ein lang gehüteter geistlicher Schatz auch schon mal in Gefahr geraten kann.

Dabei: Christen leben doch im Bereich der Gemeinde ein gemeinsames Ding, in dem die Regeln Jesu herrschen. Da könnte vieles ganz anders sein. Könnte … Offene Frage: Müsste es nicht ein kluges – weil Sinn, Inhalt, Effektivität, Menschen und Ressourcen schonendes – Miteinander bei solchen Übergängen geben? Könnte nicht gerade die christliche Szene ein gutes Beispiel dafür setzen, wie es in den Generationen zu einem weisen Miteinander kommt, das unsere gemeinsamen Anliegen am besten in die Zukunft trägt?

Thomas, Du arbeitest ja viel mit Studenten – und bist Spezialist beim Thema Leitung. Was begegnet Dir da?

Thomas Härry: Du beschreibst einige Phänomene, die ineinandergreifen: die Herausforderung des Generationswechsels in einer gewachsenen Organisation. Die damit verbundene Schwierigkeit, dass neue Leiterinnen und Leiter bei der Übernahme einer Flughöhe gerecht werden sollten, die für ihre Vorgänger in den Anfangszeiten dieser Organisation noch nicht gegeben war. Dann der Wunsch vieler junger Gestalter und Gestalterinnen, etwas Eigenes zu bauen, dass mehr auf sie und ihre Träume zugeschnitten ist. Und schließlich das heute verstärkte Bedürfnis, die Ungleichheit der Geschlechter in Führungspositionen auszugleichen. Alle vier Themen sind es wert, ausführlich bedacht zu werden.

Aber du fragst nach meinen Erfahrungen und Beobachtungen mit jungen Studierenden. Da begegne ich drei Dingen:

Einige derer, die sich für eine Tätigkeit in einer Kirche ausbilden lassen, scheuen sich davor, zu führen. Gleich mehrere meiner Studierenden sagen mir: „Wie kann ich Menschen führen, die zwanzig, dreißig Jahre älter sind als ich? Werden sie mich jemals ernst nehmen, oder bin ich für sie das junge, unerfahrene Küken, das noch keine Ahnung vom wirklichen Leben hat?“ Ich höre daraus die Furcht, als junge Führungskraft nicht ernst genommen zu werden. Und die Angst, den vermutet hohen Erwartungen nicht gerecht werden zu können.

Dann gibt es diejenigen, denen solche Selbstzweifel fremd sind. Sie sind voller Tatendrang und wollen führen. Sie wollen allerdings vieles anders machen als ihre Vorgänger. Weniger hierarchisch, viel kollegialer, auf Augenhöhe, partizipativ, teamorientiert. Sie empfinden, dass Einzelne zu lange zu viel zu sagen hatten. Es stört sie, dass da einer eine Vision hatte, der nun alle zu folgen haben. Sie wollen prozesshafter führen. Sprich: Sie haben ein anderes Führungsverständnis als ihre Vorgänger. Sie wollen einen Kulturwechsel, stoßen damit aber oft auf Widerstand und taube Ohren. Man hat es ja immer anders gemacht und hatte Erfolg damit. Das führt bei dieser Gruppe von jungen Leitenden dann oft dazu, dass sie lieber auf der grünen Wiese etwas Neues machen, als in bestehenden Strukturen dauernd auf Granit zu stoßen.

Zwischen diesen beiden Polen befindet sich eine deutliche Mehrheit von Nachwuchsleiterinnen und -leitern, die noch nicht so recht wissen, wo ihr Platz ist. Einige von ihnen möchten einfach gute Theologen sein, ohne viel leiten zu müssen (was früher oder später nicht mehr funktioniert). Andere möchten sich sozial engagieren, sich für Arme und Ausgegrenzte starkmachen, am liebsten mit einer breiten Basis von Gleichgesinnten. Ohne große Strukturen, ohne viel Leitungskram (was auf die Dauer auch nicht geht). Hier läuft in den frühen Berufsjahren vieles ins Leere. Einige schaffen dann doch den Sprung und lernen, wie man gut führt. Andere wechseln den Job, konzentrieren sich auf die Familie oder machen ihr Hobby zum Beruf – meist im Bereich irgendeiner Dienstleistung.

Diese Bandbreite empfinde ich als Begleiter und Trainer der jungen Generation als eine echte Herausforderung: Wie mache ich Mut, zu leiten? Wie stärke ich das Selbstvertrauen der Zögerlichen? Wie ermutige ich junge Aufwärtsstrebende, sich mit Geduld in ein bestehendes Gefüge hineinzubegeben, auch wenn die dortigen Leiter anders ticken als sie selbst? Wie können sie auf gute Weise ihre Sicht einbringen und auf gute Veränderung hinarbeiten? Ich fürchte: In einer Zeit, in der ich heute meine Klamotten bestelle, die schon morgen geliefert werden, fehlt vielen der lange Atem, den ein solcher Weg erfordert. Und doch gibt es immer auch jene, die es richtig gut machen und ihren Weg finden. Sie werden aber vielleicht erst mit 40 so richtig führungsfit und bereit sein, die ganz große Verantwortungslast auf sich zu nehmen. Was auch völlig okay ist, Hauptsache, sie wachsen dorthin und tun’s dann auch.

Nochmal eine andere Geschichte läuft dort ab, wo langjährige Leiter (praktisch alles Männer) pensioniert werden und die Leitung in jüngere Hände übergeht. Hier stelle ich ernüchtert fest: Praktisch keiner (oder kennst du einen?) dieser Übergänge verläuft ohne kleinere oder größere Erschütterungen. Die größten Konfliktherde entstehen bei den bisherigen Leitenden, für die der Prozess des Abgebens sehr schwer ist und die oft impulsiv und auf wenig konstruktive Weise ihren Nachfolgern dazwischenfunken. Ihre Nachfolger kommen dann zu mir und sind oft so ratlos und verzweifelt, dass sie mit dem Gedanken spielen, die Flinte ins Korn zu werfen. Der zweite Konfliktherd entsteht an der Basis. Wenn ich als Gemeindemitglied über Jahre von diesem einen Leiter geführt, gefördert und geliebt wurde, dann ist sein Weggang mit viel Trennungsschmerz und Trauer verbunden. Dieser entlädt sich dann oft im Widerstand gegen den Nachfolger oder die Nachfolgerin – was diese wiederum verunsichert. Ich sehe hier aber auch viel Positives: Ja, es ruckelt und rumpelt, aber wenn die Dinge bekannt werden können, dann kann es gelingen. Ich sehe an einigen Orte, dass es sich nach ein, zwei Jahren beruhigt. Das macht mir Mut.

Was ich aber selten sehe, ist, dass ein langjähriger Leiter da bleibt, sich weiter (aber in einer ganz anderen Rolle) hineingibt und eine neue Generation in Freiheit und auf neue Art und Weise nach vorne gestalten kann. Weshalb das so ist? Da müssten wir nun einen Psychologen beiziehen. Ich kann nur aus eigener Erfahrung sagen: Damals, als ich nach 11 Jahren meine Aufgabe als Leitender Pastor niederlegte, war mir klar: „Du musst hier raus. Du kannst dich nicht stillhalten. Du bist zu verwachsen mit der Aufgabe, den Menschen, der Rolle.“ Ich konnte diese Verflechtung nur lösen, indem ich mich ganz rausnahm. Ich musste mir neue Aufgaben suchen. Erst sieben Jahre später kam ich zurück. Heute bringe ich mich hier ehrenamtlich ein. Hätte es anders gehen sollen? Vielleicht. In meinem Fall sah ich es als den besten Weg, meinem Nachfolger ganz Platz zu machen, auch wenn mir das unheimlich schwer fiel.

Uli Eggers: Das sind eine Fülle von Varianten, die für mich aber immer einige Grundmuster atmen: Zum einen gibt es kaum gut gebaute und stark reflektierte Wege in Führung hinein. Klar, es gibt Ausbildungen – oft noch sehr theoretisch an Bildungsidealen orientiert. Und klar, es gibt Fachbereiche, in denen Menschen eingesetzt werden. Aber wenn es dann um wachsenden Einfluss, größere Aufgaben, Aufstieg in einer Hierarchie, mehr Verantwortung geht, dann werden viele da doch nur hineingeworfen. Sie empfehlen sich durch Können und Engagement – und wachsen dann. Aber oft nicht auf guten Wegen – alleingelassen, schlecht beraten, vor große Hindernisse gestellt. Warum gelingt keine bessere Verbindung von Fachbereich und wachsender Leitungskompetenz und Persönlichkeit? Warum bauen Gemeinden oder Firmen nicht mehr Wege auf, wo – neben der fachlichen Kompetenz – Führungsfähigkeit, Charakter, Integrität, Aufstiegswissen vermittelt wird? Neben der Frage, dass das oft noch zu wenig im Blick ist, sehe ich einen großen Grund: Die Leitenden – wo auch immer – sind so überlastet, dass sie zwar dringend auf gute neue Talente hoffen, aber weder Zeit haben, sie zu sichten, zu begleiten oder gezielt zu fördern. So habe ich es im Beruf erlebt – Führungs-Förderung geschieht bestenfalls nebenbei, ist zusätzliches Engagement oder Weitsicht. Aber es gibt wenig eingebaute Programme – auch da wieder: Das gilt für Gemeinde genauso wie Betrieb. Und ich verstehe das total – Führung ist oft grenzwertig fordernd. Da fällt das nicht unmittelbar Notwendige zu wenig in den Blick. Die Menschen funktionieren ja – bleiben genug Probleme jenseits der Personalebene zu lösen. Aber die Zeit rast – und auf einmal brauchst Du Nachfolger. Oder Menschen mit einem neuen Blick, die neue Produkte, neue Zielgruppen, neue Persönlichkeitstypen als Gottesdienstbesucher oder Kunde verstehen müssen. Und wenn du sie dann schnell finden willst, sind sie nicht da …

Ich gebrauche gern ein Bild, das ich mal im Gemeinde-Zusammenhang verstanden habe: Es gibt Pastoren, die sorgen jeweils für den nächsten Sonntag. Dass da alles richtig gut läuft, die Predigt sitzt, die Zutaten, das Umfeld. Und am Montag starten sie für den nächsten Sonntag – und instrumentalisieren auch ihre Mitarbeitenden für dieses Schema: Ich brauche noch schnell jemand für dies oder das – kurzfristig. Und es gibt andere, die Sorgen für das übernächste Jahr – haben den Langfrist-Blick, machen sich Gedanken um eine Zukunfts-Strategie. Und schneiden sich diese Zeit aus der Woche heraus, weil sie wissen, dass sie sonst nur an dieser „Nächsten-Sonntag-versorgen-und-Leute-dafür-finden-Nadel“ hängen. Und ich kann beide Muster gut verstehen – manchmal kommst Du (egal ob Gemeinde, Verein, Betrieb) kaum aus dem Überlebensmuster heraus – diese Woche schaffen! Aber es rächt sich, weil du dich damit verurteilst, nie den Ausbruch zu schaffen. Wer gute Zukunfts-Menschen finden will, der muss da ausbrechen, Muster finden, Förder-Teams aufbauen, mit Leuten auf einen Kongress (Willow Leitungskongresse oder Programme wie K5 finde ich da gut …) fahren, ein Begleitungsteam für Zukunftsleute um sich herum aufbauen – Übergänge denken, Potentiale langfristig säen und pflanzen und pflegen. In diesem Prozess kann man dann auch Leitung und gute Übergänge vorbereiten.

Und in Sachen Ausstieg aus einer Leitungsposition kann ich als jetzt ehemaliger SCM-Geschäftsführer und Verleger sicher mitreden. Ich habe nach einer Suchbewegung gute Strukturen gefunden. Hilfreich für das konsequente Raushalten ist ja auch meine Ferne von unseren Verlagsorten – hier oben im Norden gerätst du nicht zufällig zurück in das alte Spiel der Verlage im Westen oder Süden. Aber klar helfe ich gern oder gebe Tipps – aber wo ich mich einbringe, arbeite ich auf Einladung und jenseits alter Strukturen. Alles andere ist gefährlich, besonders für gelernte Alpha-Tiere, die zu allem eine Meinung haben, aber dank fehlenden Updates gar nicht mehr den vollen Durchblick haben können. Gut, dass du aus deiner alten Gemeinde gegangen bist – sowas ist ja auch ein schmerzlicher Schritt! Vermutlich auch ein Muster: Übergänge umfassen Schmerzen – entweder wähle ich sie klug und rechtzeitig, oder ich rutsche in sie hinein …

Thomas Härry: Ja, das Rausgehen war für mich mit Schmerzen verbunden. Ich vergesse nie den Tag, etwa eine Woche nach meiner Verabschiedung, als ich in Deutschland in einem Hotel unvermittelt von so starken Trauergefühlen überwältigt wurde, dass ich eine halbe Stunde nur noch weinte. Ich merkte: Das ist nicht bloß ein Loslassen, es ist ein Sterben. Und Sterben wollte ich nicht. Und doch war es nötig und letztlich befreiend.

Doch zurück zu deinen Erfahrungen. Du beschreibst das enorme Dilemma der im Alltagstreiben gebundenen Führungskraft, der es kaum möglich ist, junge Führungskräfte zu fördern. Der Wille ist da, aber es fehlt schlicht der Freiraum dazu. Und so merkt man oft erst spät, dass dies ja auch noch eine Aufgabe gewesen wäre, der man sich hätte widmen sollen. Wenn man es auch selber nicht geschafft hat, so kann man es dennoch anderen raten – so nach dem Motto: „Wenn ich noch einmal von vorne beginnen könnte, dann würde ich zwei, drei Dinge anders machen, nämlich….“ Und so kann eine Antwort darauf lauten: „Ich würde nach Wegen suchen, wie wir Nachwuchsführungskräfte früh fördern und einbinden können.“ Du sagst richtig, dass dies im übervollen Alltag eines Leiters in einer großen Organisation fast nicht zu realisieren ist. Doch muss er das selbst tun? Könnte er diese Aufgabe nicht an eine Person delegieren, der man den Auftrag und den Freiraum dazu gibt?

Es ist wie bei den Mitarbeitergesprächen, von denen ich meine, sie sollten zweimal jährlich stattfinden. Nun hat eine Leitungsperson schlicht nicht die Zeit, zweimal jährlich mit 50 Mitarbeitenden ein Standortgespräch zu führen. Aber sie kann dafür sorgen, dass es andere tun. Bereichsleiter zum Beispiel. Sie sind auch näher dran an den Leuten. Auch die Leiterausbildung muss nicht direkt durch den Kopf der Organisation geschehen. Dieser aber kann anregen, dass es sie gibt – durch jemand, der den Kopf dafür freihat. Denn am Ende ist das wohl der beste Weg: Die Übergabe von Verantwortung an Menschen, die mit der Organisation vertraut und sich darin entwickeln konnten.

Aber ja, das ist ein Ideal und es garantiert auch nicht alles. Aber es ist dennoch das, was Jesus mit der Investition in seine Jünger modelliert hat. Auch Paulus durch sein Investment in Menschen wie Silas, Timotheus, Titus, Aquila und Priscilla und viele mehr. Oder Mose im Alten Testament mit Josua, Elia mit Elisa, Jeremia mit Baruch. Bei uns in der Schweiz beginnen größere Gemeinden zunehmend mit eigenen Weiterbildungsprogrammen, verbunden mit einer auf Laien ausgerichteten biblisch-theologischen Grundbildung. Manche bezeichnen ihr Angebot als „College“ oder „Academy“. Das ist sicher etwas vollmundigt. Aber es ist gut, dass es solche gemeindeinternen Programme gibt. Sie sind aus der Not entstanden, dass in einer Gemeinde oft der Führungsnachwuchs fehlt. Gleichzeitig finde ich es wichtig, dass diejenigen, die daran teilnehmen, neben solchen Inhouse-Trainings auch (theologische und führungsbezogene) Impulse von außen bekommen. Wenn sie Neues, auch ungewohntes kennenlernen, das sie wiederum in ihre Organisation einbringen können.

Ich höre oft den Satz, eine Herausforderung in der Leiterausbildung bestehe darin, dass junge Leitende so ganz anders funktionieren würden als früher? Wie siehst du das: Ist das so oder wird da unnötig problematisiert?

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Uli Eggers: Das ist ja ein häufig benanntes Thema, das Rätseln über die Andersartigkeit Jüngerer – auch der Generation X,Y,Z. Da ist mit Sicherheit als Tendenz viel dran und erfordert ein Umlernen. Zugleich verschwimmen die Umrisse dieser Generationsprofile mit Sicherheit und wechseln auch immer rascher. Als Groß-Richtung stimmt vermutlich, dass Jüngere auf größere Work-Life-Balance achten, dass sie nicht mehr so bedingungslos auf Karriere, auf das eine Pferd setzen. Zugleich wird das ja aber immer gebrochen durch die jeweilige Persönlichkeit und ihre Biografie – und durch die großen archaischen Themen, die für alle Generationen gleich sind. Wie heißt es so schön bei Henri Nouwen: „To know and be known, love and be loved, celebrate and be celebrated, serve and be served …“ usw. Kennen und gekannt werden, lieben und geliebt werden, feiern und gefeiert, dienen und gedient werden. Will sagen: Die großen Grundbedürfnisse des Lebens, die in allen Zusammenhängen gelten – gerade auch im Bereich der Arbeit und eines guten Miteinanders. Aber klar: Es wäre klug, da genau hinzusehen und zu durchdenken, mit wem ich es gerade zu tun habe. Ich vermute, dass Du da im Bereich der Ausbildung sehr viel mehr konkretes Wissen hast und die Unterschiede besser wahrnimmst – gerade auch, was das dringend notwendige gute Leitungsumfeld für Frauen umfasst …

Thomas Härry: Ja, ich nehme an mehreren Stellen Veränderungen wahr. Wenn ich meine Studierenden mit solchen vergleiche, die bei uns vor zwanzig Jahren studiert haben, dann haben viele heutige Jugendliche eine deutlich bessere Auftrittskompetenz. Ich erlebe 22-jährige beim Predigten und bin platt vor Bewunderung, wie souverän sie vor Leuten stehen. Als ich so alt war, hat man mir meine Unsicherheit vermutlich von weitem angesehen. Ich klebte an meinen Notizen. Ich merke, dass gerade durch die sozialen Medien junge Leute sich leichter tun, sich ins Rampenlicht zu stellen. Weiter fällt mir auf, wie junge Leute innerhalb von Stunden auf höchst beeindruckende Weise ein Thema kreativ umsetzen in Bild, Theater, Poetryslam, Film. In Projekten und in Team leisten viele Großartiges. Auf der anderen Seite kämpfen viele junge Menschen mit Überforderungsgefühlen, mit den Folgen von ADHS, mit Pornographie. In den theologischen Fächern kann ich heute nur noch rudimentäre Bibelkenntnis voraussetzen. Die wichtigste Glaubensprägung erfahren viele junge Menschen durch mehr oder weniger seichte Lobpreissongs.

Was Frauen in Führungsrollen betrifft: Da wir für die Landeskirche ausbilden, ist das in meinem Kontext weniger ein Thema, weil dort Frauen praktisch alle Führungsaufgaben offenstehen. Das ist erfreulich, denn ich erlebe genauso viele führungsbegabte Frauen wie Männer. Anders ist es noch in manchen Freikirchen, wobei sich auch dort die Dinge mehr und mehr öffnen. Das ist erfreulich. Mein Gesamteindruck: Die nachwachsende Jugend hat dem Reich Gottes enorm viel zu geben, wenn es uns Älteren gelingt, sie einzubinden. Gleichzeitig brauchen sie geduldige Wegbegleiter, die sie fördern und ihnen Vorbild sind. Doch solche sind rar. Viele Leitende, die junge Leute anstellen, erwarten, dass diese auf Knopfdruck funktionieren, selbständig arbeiten und ihr Leistung bringen. Das ist einerseits richtig. Wer sie dabei aber sich selbst überlässt, muss sich nicht wundern, wenn begabte junge Leiterinnen und Leiter rasch wieder aussteigen und sich ein Arbeitsumfeld suchen, wo auf Zusammenarbeit, Begleitung und Förderung geachtet wird.

Uli Eggers: Mein Wunsch da wäre ein erhöhtes Wissen und ein „sehenderes Daraufzugehen“, Übergänge gut zu gestalten. Biblisch gesehen – auch im Blick auf Gemeinde – gilt doch das Ideal des Miteinanders der Generationen. Wir haben einander viel zu geben! Und es ist sehr gut, dass es keine starren Hierarchie- oder Altersgrenzen mehr gibt im Blick auf nachwachsende Leute oder Zugänge zu Positionen. Persönlichkeit, Charakter und Kompetenz sollten da entscheiden, nicht Alter. Im Bereich des Ehrenamtes und der Gemeinde aber wäre es super wichtig, ein echtes Generationen-Miteinander zu leben. Bewusst nicht, indem Alte wichtige Führungspositionen blockieren oder aus Sorge um kundigen Nachwuchs nicht abgeben. Aber schon auch so, dass sie nicht einfach mit einer Altersgrenze automatisch aus dem Spiel genommen werden, sondern im Rahmen von Kompetenz und Persönlichkeit und eigener Leidenschaft weiter Teil des Konzerts bleiben. Darin kann der Raum von Gemeinde Vorbildcharakter für die Gesellschaft abbilden und Schneisen schlagen.

Es ist ja beeindruckend, wie positiv und stark etwa die Stimme und Rolle Gordon MacDonalds aufgenommen wurde, mit seinen Büchern, Artikeln oder Beiträgen auf Willow-Creek-Kongressen oder Dünenhof-Tagungen – mit 80 oder mehr Jahren. Wir brauchen diese Stimmen reifer Lebensweisheit und unabhängigen Mutes zur Wahrheit, weil Menschen nicht mehr eingebunden sind in funktionale Strukturen. Wirkliche Nachdenklichkeit und rücksichtlose Klarheit kannst Du manchmal auch erst jenseits deiner Funktion entwickeln. Wie anregend und stark sind etwa immer wieder die Gedanken eines Fulbert Steffensky in seinem hohen Alter – wir müssen diese Stimmen im Konzert lassen! Aber eben: Wir spielen Konzert! Jede Stimme zählt und hat Eigenes zu sagen. Im Miteinander entfaltet sich dann Schönheit und die Freude eines guten Miteinanders, bei der jeder so viel trägt und einträgt, wie er kann. Gegenseitiger Respekt, Vertrauen und Erwartung sind da sicher ein Schlüssel … Man hat ja früher gern gesagt, es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen – die Vielzahl der Stimmen und Kompetenzen und Lebensgefühle. Ich glaube, das gilt auch für Gemeinden und in gewissem Umfang eben auch für Firmen und funktionale Bereiche: Im respektvollen Miteinander liegt eine große Chance …


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