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Über Verletzungen ins Gespräch kommen

„Ich mach es falsch, so gut ich kann“, hat Reinhard Mey getextet. Im Rückblick und im Zuhören erkennen Eltern falsche Entscheidungen und Reaktionen gegenüber ihren Kindern. Juliane Just ermutigt Eltern dazu, anzusehen, welche Schmerzen sie ihren Kindern zugefügt haben, und die Verantwortung dafür zu übernehmen.

Heute haben wir mal wieder den Film „Alles steht Kopf“ gesehen. In sehr anschaulicher Weise wird das emotionale Innenleben eines Kindes erzählt, das durch einen Umzug aus der Umgebung gerissen wird und dessen ganze Welt, die bisher lustig und schön war, innerhalb weniger Tage komplett zusammenbricht. Oder zumindest fast, denn am Ende schafft ausgerechnet der Charakter „Kummer“ es, dass die kleine Riley wieder Freude am Leben hat. Das geschieht allerdings erst, als das Mädchen sich bei ihren Eltern Trost und Rückhalt holen kann.

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Elterliche Liebe kann vieles an innerem Kinderschmerz heilen – diese wunderbare Botschaft schicke ich hiermit vorneweg! Wenn wir merken, dass etwas im Busch ist, und es schaffen, dass unser Kind mit uns darüber spricht und wir ihm oder ihr die liebevolle Zuwendung geben können, die es braucht, dann ist das genau das, was Gott zur inneren Heilung von Kinderseelen vorbereitet hat. Elterliches Gebet, liebevolle Begleitung, Trost, Ermunterung, Umarmungen und Zuspruch lassen vieles verblassen, was sonst zu einer schmerzenden Narbe hätte werden können. Denn gerade diese kleinen, wiederkehrenden Erfahrungen sind es, die prägen – allerdings im Guten wie im Schlechten.

Erziehungsfolgen

Eine neue Studie der Universität in Montreal, Kanada, hat Kinder zwischen zwei und neun Jahren begleitet und die Erziehungsstile der Eltern erfasst. Parallel dazu wurde gemessen, wie ängstlich die Kinder sind. Zwischen 12 und 16 Jahren wurden außerdem die Gehirne der Kinder im MRT gescannt, um Unterschiede in den Gehirnstrukturen festzustellen. Das Ergebnis ist erschreckend: Eine sogenannte strenge Erziehung, die mit lautem Schimpfen, physischen Strafen, aber auch den sogenannten Auszeiten (im Sinne von unbegleitetem „Wegsperren“ des Kindes, auch bekannt unter: „Wenn du wieder lieb bist, kannst du wiederkommen“) einhergeht, führte bei den untersuchten Teenagern zu ähnlichen Strukturänderungen im Gehirn wie schwerer Missbrauch oder Vernachlässigung. Der präfrontale Cortex und die Amygdala waren kleiner als bei Kindern, die ohne diese Art von Erziehung aufgewachsen sind. Doch ausgerechnet diese beiden Hirnareale sind für die emotionale Regulierung und für das Auftreten von Angststörungen und Depressionen zuständig.

Wow! Mir stehen sofort alle möglichen Gelegenheiten vor Augen, wo ich die Beherrschung verloren und laut mit meinen Kindern geschimpft habe. Einmal hat eine meiner Töchter sogar einen kräftigen Klaps auf den Popo bekommen. Warum? Weil ich mich mit der damals Zweieinhalbjährigen in einen Machtkampf darüber habe verwickeln lassen, ob sie ihre Strumpfhose allein anzieht oder ich das für sie mache. Total bekloppt aus heutiger Sicht, aber es ist geschehen. Mir geht diese Szene heute noch immer mal wieder durch den Kopf.

Zuhören!

An manchen Abenden passiert es, dass ich mit ein paar Teenagern am Esstisch sitzen bleibe, ganz entspannt. Dann kommt manchmal meine heimliche Superkraft zum Einsatz – ich verschwinde quasi aus dem Bild und die großen Kinder unterhalten sich über ihre Kindheitserinnerungen. Und plötzlich höre ich, welche Situationen ihnen furchtbar unangenehm waren, was sie schrecklich fanden, was sie heute noch verfolgt. In meinem semi-unsichtbaren Zustand muss ich darauf nicht reagieren. An manchen Dingen kann ich auch gar nichts ändern. Meine Großen haben vor vielen Jahren innerhalb eines Vierteljahres zwei Hausbrände erlebt. Das war Mist, darüber sind wir uns einig. Auch Dinge wie Enttäuschungen in der Schule oder in Freundschaften kann ich mit viel Empathie aufnehmen. Richtig übel aber sind die Vorkommnisse, an denen ich etwas hätte ändern können oder die ich sogar ausdrücklich zu verantworten hatte. An dieser Stelle beginnt die echte Aufarbeitung unserer Eltern-Kind-Beziehung.

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„Aber das ist doch schon lange her, die Kinder müssen da mal drüber wegkommen“, höre ich schon die ersten Gegenstimmen. „Wir wurden doch auch so erzogen und es hat uns nichts geschadet!“ Nun, vielleicht ist das wirklich ein „Luxusproblem“, das wir uns nur in der heutigen Zeit leisten können. Meine Kinder müssen nicht abgehärtet werden, um im preußischen Drill bestehen zu können. Wahrscheinlich werden sie auch nicht mehr stundenlang täglich an einem Fließband stehen und klaglos monotone Handgriffe wiederholen müssen. In unserer heutigen Zeit haben wir das Privileg, schon so lange ohne eine wirklich lebensbedrohende Krise gelebt zu haben (und damit meine ich Kriege und Hungerkatastrophen – unsere Version des Corona-Lockdowns ist zwar für uns auch belastend, aber für die allermeisten Menschen eben nicht lebensgefährlich), dass wir die Chance haben, uns um unsere Seelen und die Seelen unserer Kinder zu kümmern – so wie nie zuvor. Und solche Studien wie die oben aufgeführte zeigen mir deutlich, dass das auch nötig ist!

Negativ erlebt

Ich gehe jetzt mal davon aus, dass wir das gemeinsame Anliegen haben, mit unseren großen Kindern auch über das ins Gespräch zu kommen, was sie verletzt hat, wo sie das Gefühl hatten, Schaden erlitten zu haben – und zwar aufgrund von Aussagen oder Handlungen von uns, ihren Eltern.

Vieles davon kann ich mir wahrscheinlich nur noch mühsam ins Gedächtnis rufen. Oder es sind Entscheidungen, die ich mit voller Überzeugung getroffen habe und vielleicht sogar wieder so treffen würde. Aber mein Kind hat diese Entscheidungen als negativ erlebt.
Ich frage mich: Würde ich meine Tochter wieder zusammen mit ihren positiven Sozialkontakten und der kompetenten, wohlwollenden Lehrerin in die nächste Klassenstufe springen lassen? Wenn sie dafür vor der Klassenzicke und der Lehrerin verschont bleibt, die ihr das ganze erste Schuljahr in der Flexklasse schon zu schaffen gemacht haben, ist die Antwort auch heute wieder ein klares Ja. Es war auch leicht, die Entscheidung für die weiterführende Schule ab der 5. Klasse zu treffen (in Berlin und Brandenburg geht die Grundschule bis zur 6. Klasse, insofern war der Wechsel zwei Jahre früher als normal). Die Aufnahmeprüfung lief locker, mehrere Kinder ihrer Klasse wechselten ebenso, kein Ding.

Aber aus Gesprächen hörte ich heraus, dass nur drei Jahre Grundschulerfahrung für sie zu wenig gewesen sind. Sie fühlt sich, als hätte sie einen Teil ihrer Kindheit verpasst. Da musste ich schlucken, denn natürlich hatte ich nach bestem Wissen und Gewissen (und auch mit ihrem damaligen Einverständnis) gehandelt, hatte gute Gründe und den größeren Überblick. Kurz war ich versucht, ihr genau das entgegenzuhalten, meine Entscheidung zu rechtfertigen, vielleicht zu erklären. Ziemlich sicher hätte das aber das Ende eines offenen Gesprächs bedeutet, bevor es richtig angefangen hat.

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Dem Schmerz Raum geben

Den Schmerz des Kindes auszuhalten und anzuerkennen, scheint mir der erste und wichtigste Schritt auf dem Weg der Aufarbeitung. Wenn unsere Beziehung auch nur halbwegs intakt ist, dann weiß mein Kind, dass ich nie vorhatte, es zu verletzen oder ihm zu schaden. Und trotzdem ist es geschehen. Dies jetzt nicht vom Tisch zu wischen, sondern stehen zu lassen, ist so wichtig! Erst, wenn der Schmerz angesehen werden kann, kann er auch verarbeitet werden. Vielleicht schweigend, manchmal auch gemeinsam weinend – wenn wir dem Schmerz seinen Raum lassen und ihn dann gemeinsam zu Gott bringen können, ist an dieser Stelle Heilung möglich. Das ist ein wunderbares Werkzeug, dass Gott uns mitgegeben hat. Ich möchte euch sehr ermutigen, es auszuprobieren!

Für den Fall, dass mein Kind ein klares Fehlverhalten von mir aufdeckt, muss die gemeinsame Aufarbeitung einen Schritt weitergehen. Der Schmerz muss nicht nur angesehen werden, sondern es ist auch wichtig, dass ich mich als Verursacherin dafür verantwortlich zeige. Es reicht nicht, den Schmerz vor Gott zu bringen, sondern ich muss – wo auch immer möglich – mein Kind um Vergebung bitten. Das kann eine bittere Pille sein. Ich möchte betonen, dass es mir nicht darum geht, den Eltern eine generelle Schuld zuzuschieben oder sich he- rumschubsen und ausnutzen zu lassen. Aber für meine Fehler muss ich die Verantwortung übernehmen. Das kann eine solche Eigendynamik und Entlastung in einer Beziehung bewirken, dass eine verkrampfte Beziehung plötzlich wieder auftaut. Generell rede ich hier auch nicht von den großen, fiesen Traumatisierungen, sondern eben von dem, was im Alltag passiert – die Gewohnheiten, die immer wieder in dieselbe Kerbe hauen, das Umfeld, die Tatsache, dass ich selbst eben auch „nur“ ein Mensch bin.

Ich bin meinen Kindern gegenüber immer wieder schuldig geworden. Manches habe ich ziemlich schnell gemerkt und wir konnten es ausräumen. Manches merke ich jetzt erst, wenn ich ihnen zuhöre. Und ich werde mit Sicherheit noch mehr von ihnen zu hören bekommen, wenn ich das zulasse. Genau in dieser Verletzlichkeit kann und will Gott wirken. 

Juliane Just lebt mit ihrer großen Patchworkfamilie in der Nähe von Berlin. Sie ist Kreisbeauftragte für die Arbeit mit Kindern im Kirchenkreis Neukölln, unterrichtet Religion und macht musikalische Früherziehung. Als Juliane Jacobsen schreibt sie Kinderbücher.


Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift FamilyNEXT erschienen. FamilyNEXT wird vom SCM Bundes-Verlag herausgegeben, zu dem auch Jesus.de gehört.

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