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Aufgewachsen in der DDR: Vom Gewohnheits-Atheisten zum Christen

Pfarrer André Demut wuchs in einer kirchenfernen Familie in Ostdeutschland auf. Hier erzählt er seine Geschichte – und erklärt, warum viele Menschen im Osten „die Schnauze voll von Veränderungen“ haben.

Herr Demut, Sie sind Beauftragter der Evangelischen Kirchen im Landtag und der Landesregierung in Thüringen. Ihr Arbeitsplatz ist das Augustinerkloster Erfurt. Hier nahm die Reformation Fahrt auf. Ist das für Sie noch ein Grund zum Staunen?

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André Demut: Hier nebenan in der Erfurter Augustinerkirche leitete Martin Luther am 2. Mai 1507 zum ersten Mal eine Abendmahlsfeier. Hier suchte er nach dem gnädigen Gott, hier erlebte er viele Anfechtungen. Ich habe von Luthers Theologie viel gelernt. Es berührt mich sehr, dass ich hier arbeiten darf.

Ihr Weg in die Kirche war so nicht vorgezeichnet …

Ich bin in einem kirchenfernen Gewohnheits-Atheismus aufgewachsen. Schon mein Großvater gehörte nicht zur Kirche. Für ihn, den Fabrikarbeiter, waren Pfarrer Verbündete der Ausbeuter. Meine Eltern und Großeltern gingen nicht einmal an Heiligabend in die Kirche. Dabei war meine Familie nicht systemnah, niemand bei uns war in der Partei. Kirche war einfach kein Thema, nirgends.

Wer ist Ihr Geburtshelfer zum Glauben geworden?

In Gößnitz gab es einen Pfarrer, der bot in der Jungen Gemeinde Bibelarbeiten an, der fuhr mit den Jugendlichen auf Freizeiten, spielte mit ihnen Volleyball. Schulfreunde von mir luden mich ein. „Komm mal mit, dass fetzt dort!“ Zudem habe ich schon immer viel gelesen. Als 13-Jähriger stieß ich auf Hermann Hesse. Beim Lesen seiner Bücher ahnte ich: Es könnte doch mehr geben, als man in Kilogramm und Sekunden ausdrücken kann. 1982 fand in meinem Heimatort eine missionarischen Jugendwoche mit dem Evangelisten Eberhard Laue vom Jungmännerwerk statt. Dort bei Fettbemme und Gespräch spürte ich: Die interessieren sich für mich als Mensch. Am letzten Abend gab es die Gelegenheit, am Ende des Jugendgottesdienstes nach vorne in den Altarraum zu treten und in einem Gebet sein Leben Jesus Christus anzuvertrauen.

„Einige aus meiner Generation fanden als Jugendliche oder junge Erwachsene in der DDR zum christlichen Glauben und wir verwurzelten uns darin gegen manche Widerstände.“

André Demut

Ihr Vater war von dieser Entscheidung nicht begeistert …

Ja, das gab richtig Stress. Er hatte Angst davor, dass ich mir damit meine DDR-Karriere versaue.

Inwiefern ist Ihr Glaubensweg ein typisch Ostdeutscher?

Einige aus dieser meiner Generation fanden als Jugendliche oder junge Erwachsene in der DDR zum christlichen Glauben und wir verwurzelten uns darin gegen manche Widerstände. Auch in der Schule oder in der Lehre gab es immer Widerstände, wenn jemand Christ wurde. Dies alles war in dieser Alterskohorte im Westen Deutschlands sicher nicht so.

Sie haben den Dienst mit der Waffe verweigert. Im Herbst 1989 wurden Sie zu den Bausoldaten eingezogen. Wie war das?

Für einige Wochen wurden wir jeden Tag zur Arbeit in die Chemie-Industrie gebracht, nach Buna und nach Leuna. An den gefährlichsten Stellen dort mussten Strafgefangene oder Bausoldaten arbeiten. In Buna gab es Keller, in denen Quecksilber einfach so über den Fußboden lief, aus den völlig maroden Rohrleitungen auf dem gesamten Werksgelände entwichen überall undefinierbare Flüssigkeiten oder Gase. Gott sei Dank wurden wir Bausoldaten im Januar 1990 in Pflegeheime und Krankenhäuser versetzt.

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Was war prägend in dieser Zeit?

Die Wahrnehmung, dass die DDR ökonomisch am Ende war. Schon im Braunkohlentagebau war mir das aufgefallen. Viele unserer Eimerketten- oder Schaufelradbagger waren Baujahr 1935 oder 1942, die Typenschilder „Thyssen-Krupp“ hingen noch dran. Viele dieser Großgeräte aus tausend Tonnen Stahl waren mitten im Krieg gebaut worden – und uns fehlten 1985, nach vierzig Jahren Frieden, die Ersatzteile. Die DDR baute zwar leistungsfähige und moderne Bagger – doch die wurden zum großen Teil in Länder exportiert, die mit harter Währung zahlen konnten. Auch die hochwertige Kohle, die wir im Tagebau Schleenhain förderten, wurde zu Briketts verpresst, die devisenbringend exportiert wurden. Im Land zurück blieb nur die minderwertige Kohle mit viel Dreck drin und hohem Schwefelanteil. Ostdeutschland war damals für die west­liche Welt ein Teil dessen, was wir heute „globaler Süden“ nennen.

Wie sind Sie dann zum Theologiestudium gekommen?

1987 habe ich meine Frau kennengelernt und sie hat nach einiger Zeit, 1988 war das wohl, zu mir gesagt: „Du liest so viel. Du liest freiwillig theologische Fachbücher, weil dich das interessiert. Du engagierst dich in der Kirchengemeinde – wie wäre es, wenn du Theologie studierst?“ Sie hat mir außerdem signalisiert, dass sie bereit ist, mit in einem Pfarrhaus zu wohnen. Also – den entscheidenden Anstoß zum Theologiestudium verdanke ich meiner Frau Annett.

Dankbar für das Theologiestudium

In Ihrem evangelikal-pietistischen Jugendkreis gab es auch Stimmen, die das Theologiestudium an einer staatlichen theologischen Fakultät kritisch sahen …

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Ja, es bestand die Sorge, dass man den Glauben verliert, wenn man die Bibel historisch-kritisch liest, dass einem im Studium der fromme Kopf verdreht wird (lacht). Doch ich bin dankbar, dass ich mich auf das Theologiestudium eingelassen habe. Die kritischen Fragen, die einem im Studium begegnen, sind einfach die Fragen, die mir in der Welt des Jahres 2024 bei sehr vielen Menschen sowieso begegnen. Weshalb diesen Fragen aus dem Weg gehen in einem Studium, das mich auf die Arbeit für Menschen im 21. Jahrhundert als Seelsorger, Predigerin und Religionslehrer vorbereiten soll? Der Glaube an Gott bietet hier viel Orientierung – doch inmitten dieser kritischen Fragen und nicht an ihnen außen vorbei.

Sie waren knapp zwanzig Jahre Pfarrer im Altenburger Land, zuletzt sieben Jahre in Ronneburg. Erzählen Sie uns etwas über diesem Ort.

Ronneburg hatte 1720 bereits 3.000 Einwohner – was sehr viel war, im großen Leipzig lebten damals auch nur 30.000 Menschen. Wirtschaft, Kultur und Handel blühten in Ronneburg. Es gab im 18. Jahrhundert eine Kantorei in Ronneburg, die in der Lage war, Bach-Kantaten aufzuführen. Eine Kantate Bachs ist nur deshalb der Nachwelt überliefert, weil der damalige Ronneburger Kantor eine Abschrift anfertigte für solch eine Aufführung. Im April 1945 wurde ganz Thüringen durch US-amerikanische Truppen von der Nazi-Diktatur befreit, so auch Ronneburg. Der Ort hieß damals „Bad Ronneburg“, es gab Kur-Anlagen und Heilquellen mit radonhaltigem Wasser. Im Juli 1945 wurde Thüringen der sowjetischen Besatzungszone zugeordnet – die westlichen Besatzungsmächte wollten in Groß-Berlin auch Gebiete haben und das ursprünglich amerikanisch besetzte Thüringen wurde im Gegenzug den Russen zugeschlagen. Im August 1945 begann mit dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki das atomare Wettrüsten und sowjetische Erkundungstrupps fanden im Erz­gebirge und eben in Bad Ronneburg Uran.

Bis 1990 wurden in Ronneburg und im Erz­gebirge 216.000 Tonnen Uran aus der Erde geholt – für die sowjetischen Atomkraftwerke und Atomsprengköpfe. Gleichzeitig arbeiteten dort ca. 45.000 Menschen. Die DDR trug die Kosten für diese gigantische Bergbau-Unternehmung – und jeden Monat wurde ein Güterzug voller „yellow cake“ – ein Uran-Zwischenprodukt – in die Sowjetunion transportiert als Kriegsbeute. Bis 1990.

Sie haben dort Teil gehabt an einem „Wunder biblischen Ausmaßes“. Was verbirgt sich dahinter?

Am 31.12. 1990 wurde die Uranförderung eingestellt, tausende Menschen auf einen Schlag entlassen. Bisher haben die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union 7,2 Milliarden Euro in die Sanierung der Uranbergbaugebiete investiert. Die 1990 aufgestellte Finanzierungsprognose hält bis heute – schon das ist ein Wunder (lacht). Schlammteiche voller giftiger Substanzen aus der chemischen Trennung von Uran und taubem Gestein wurden versiegelt, ein ehemaliger Tagebau verfüllt, Mutterboden darüber gebracht – die „Neue Landschaft Ronneburg“ entstand. 2007 fand die Bundesgartenschau in Ronneburg und Gera statt. Ich begann im Advent 2006 als Pfarrer in Ronneburg zu arbeiten, im April 2007 wurde die BUGA eröffnet – ein toller Start in meine neue Pfarrstelle. „Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien.“ (Jes 35, 1) Immer, wenn ich dort in der Neuen Landschaft in Ronneburg stehe, bekomme ich Gänsehaut. Das IST ein Wunder biblischen Ausmaßes.

Seit 2021 sind Sie Vertreter der Evangelischen Kirchen bei Landtag und Landesregierung im Freistaat Thüringen. Was tun Sie da genau?

Unser Grundgesetz garantiert gläubigen Menschen und Religionsgemeinschaften wichtige Grundrechte. Es gibt Religionsunterricht an öffentlichen Schulen als ordentliches Unterrichtsfach, es gibt Seelsorge in staatlichen Einrichtungen, in Gefängnissen oder in Krankenhäusern, Gottesdienste können im öffentlichen Raum stattfinden. Seit 1919, seit der Weimarer Republik, sind der Staat und die Religionsgemeinschaften quasi geschieden – doch diese bis dahin miteinander verheirateten Partner kooperieren pragmatisch zum Wohle des Gemeinwesens. Ich vertrete unsere kirchlichen Interessen, ich trage in schriftlichen oder mündlichen Anhörungen im Parlament die evangelisch-kirchlichen Stellungnahmen vor, ich bin „Türöffner“ für Gespräche auf den Arbeitsebenen der Ministerien mit unseren Landeskirchenämtern und ich stimme mich eng mit dem Katholischen Beauftragten bei Landtag und Landesregierung in Thüringen ab. Für mich besonders bewegend: Immer in der Plenarwoche, am Donnerstagmorgen, feiern mein katholischer Kollege und ich eine Andacht im „Raum der Stille“ im Thüringer Landtag. Und als Geistlicher bin ich für Menschen in Legislative und Exekutive, die häufig unter großem Druck stehen, auch als Seelsorger ansprechbar.

Auch konfessionslose Politiker schätzen die Kirche

Was sind die Erwartungen der Politik an Sie? Wie blickt man dort auf eine Kirche, die immer weniger Menschen erreicht?

Ob wir wirklich immer weniger Menschen erreichen, weiß ich gar nicht. Wir haben immer weniger Mitglieder, damit schwinden unsere Ressourcen aus den Kirchensteuern. Wir haben immer weniger Pfarrerinnen, Kantoren und Gemeindepädagogen, weil der demografisch bedingte Nachwuchsmangel natürlich auch uns betrifft. Doch zugleich öffnen sich immer mehr Kirchengemeinden den Sozialräumen, in denen sie leben – unabhängig, ob die Menschen Kirchenmitglied sind oder nicht. Bei der jüngsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung – bei der auch konfessionslose Menschen befragt wurden – antwortete die Hälfte (!) aller Befragten, dass sie in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal bewusst Kontakt zu einer Kirchengemeinde hatten, zu einer kirchlichen Beratungsstelle, einer kirchlichen Schule, einem konfessionellen Kindergarten, einem Seelsorgeangebot. Und das wird auch in der Politik deutlich so wahrgenommen und wertgeschätzt. Auch konfessionslose Poli­tiker spiegeln mir in der Regel, wie froh sie sind, dass die Kirchen so viel Konstruktives und Lebensdienliches in die Gesellschaft einbringen.

Gilt das für alle Parteien?

Nein! Die einzige Ausnahme hierbei bilden die Politiker der AfD, die wegen ihrer „Deutschland-zuerst“-Grundhaltung bestimmte Kon­sequenzen aus dem Evangelium rundweg ablehnen. Das politische Geschäftsmodell der sogenannten „Alternative für Deutschland“ besteht ja vor allem aus dem Schüren von Ängsten und Ressentiments gegen notwendige Transformationen und gegen alles Fremde – da bieten sich wenig programmatische Schnittflächen zum christlichen Menschen- und Gesellschaftsbild, das ja sehr stark von Glaube, Hoffnung und Liebe getragen wird.

Als gebürtiger DDR-Bürger sind Sie „Ostversteher“. Erklären Sie doch bitte mal einem Westdeutschen die hohen Zustimmungsraten für die AfD in Ihrer Umgebung.

Der Gründungsimpuls der AfD im Jahr 2013 lautete im Grunde: „Ich will meine alte Bundesrepublik zurück – mit D-Mark, mit überschaubaren ‚Bonner Verhältnissen‘, ohne die vielen Ausländer, ohne den ganzen Klimawandel-Gaga, mit Männern, die einer Frau auch mal an den Hintern fassen dürfen, ohne dass es gleich Aufregung gibt. Dass diese AfD in Ostdeutschland besonders viele Resonanzen erzeugt, betrübt mich außerordentlich. Wir Ostdeutschen haben nach 1990 eine grandiose Transformationsleistung erbracht. Ohne zu Murren und ohne zu Jammern haben die allermeisten von uns die Veränderung aller Lebensverhältnisse – Wirtschaft, Arbeitsplätze, Gesetzlichkeiten, soziale Sicherheiten, Bildungssystem, Gesundheitswesen, Berufsabschlüsse, kulturelle Selbstverständlichkeiten angenommen, durchgearbeitet und gestaltet.

„Wundert ihr euch wirklich im Westen, dass es im Osten nach reichlich dreißig Jahren Dauer-Transformation eine besonders hohe Transformations-Müdigkeit gibt?“

André Demut

Wohingegen sich in der alten Bundesrepublik nichts änderte!

(leidenschaftlich) Genau! Da änderte sich am 3. Oktober 1990 erst mal nur die Wetterkarte – in der ehemaligen DDR änderte sich alles. Der Lahn-Dillkreis ging auf die Barrikaden, als er das „L“ im Autokennzeichen an Leipzig abgeben musste. Wundert ihr euch wirklich im Westen, dass es im Osten nach reichlich dreißig Jahren Dauer-Transformation eine besonders hohe Transformations-Müdigkeit gibt? Und dass Ostdeutsche vermutlich deshalb besonders empfänglich sind für eine Partei, die behauptet, sie könne uns in die „gute alte Zeit“ zurückführen, wenn sie nur an die Regierung käme?

„Die Schnauze voll von Veränderungen“

Spüre ich da ein bisschen Frustration?

(Nachdenkliche Pause) Offen gesagt: Ich bin frustriert darüber, dass ihr euch wundert – mir zeigt das nur, dass es im Westen wenig Gespür dafür gibt, wie groß die Transformationsleistung war, welche die Ostdeutschen in den letzten drei Jahrzenten erbracht haben. Meine These dazu ist: Weil die politische Auseinandersetzung mit der AfD hauptsächlich wegen ihrer Nähe zum Rechtsextremismus geführt wird, geraten die anderen Motive ihrer Wählerinnen und Wähler aus dem Blick. Die Leute haben schlicht die Schnauze voll von den Veränderungen! Diese Transformationsmüdigkeit spiegelt sich in dem Wunsch nach einer restriktiveren Migrationspolitik, der Skepsis gegenüber den Prognosen zum Klimawandel, der Sehnsucht nach einfachen Antworten. Ich halte alle diese Motive für fragwürdig, unterkomplex und rückwärts gewandt. Doch was daran ist eigentlich „rechtsextrem“?

Wie könnte ein Mittelweg zwischen „Trotz-Reaktion“ oder dem Schwingen der „Nazi-Keule“ aussehen?

Demokratie ist ein atmendes System. Menschen erfahren Selbstwirksamkeit, spüren, dass ihre Stimme etwas austrägt. Doch bei den Motivlagen für die Wahlentscheidungen gibt es nicht nur edle Gründe. Rückwärtsgewandte Ressentiments und undifferenzierte Wut „aufs Establishment“ wurden bis vor zehn oder fünfzehn Jahren vor allem von den LINKEN in Wählerstimmen umgemünzt. Jetzt, da die LINKEN in den Augen vieler Menschen selbst „Establishment“ sind, ist das eben nun die AfD. Das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ kombiniert Migra­tionsskepsis plus Russland-Anbiederung minus Faschismus-Stallgeruch – eine Mischung, die offensichtlich viele Menschen, die früher LINKE oder AfD gewählt haben, besonders anspricht. Das zündet im Westen weniger, weil dort die Erinnerung daran fehlt, wie sich 600.000 sowjetische Soldaten als Besatzungsmacht im eigenen Land anfühlen. So viele waren es in der DDR. Das lange ostdeutsche Gedächtnis sagt hier: „Den russischen Bären lieber nicht zu sehr reizen! Die meinen es ernst.“

Gibt es Ihrer Überzeugung nach deutsch-deutsche Differenzen?

Der Westen muss sich ehrlich machen. Ostdeutschland war kein stillgestelltes Land und ist nicht erst 1990 wieder in der Zivilisation angekommen. Auch hier haben Menschen reflektiert gehandelt. Unterhalb der staatlich sichtbaren Oberfläche gab es im privaten Kontext oder in den Kirchen viele Vorstellungen von selber-Denken-können, von Menschenrechten und von der Notwendigkeit gesellschaftlicher Reformen. Wir hatten keine Demokratie, doch durch Literatur oder durch das Westfernsehen haben sich viele Menschen partizipatorische Ideen aktiv aneignen können.

„In der säkularisierten Gesellschaft ist der Glaube an Gott ausgefallen. Je stärker dieser Umstand eintritt, umso stärker werden viele Fragen apokalyptisch aufgeladen. Plötzlich wird aus allem ein Glaubenskrieg.“

André Demut

Was könnten Kirchen gegen die Polarisierung unternehmen?

Wir sollten Gesprächsräume und Gesprächsformate anbieten, in denen gerne kontroverse, aber faire, konstruktive und versöhnliche Diskussionen geführt werden. Uns bringen nicht die anonymen digitalen Auseinandersetzungen zueinander, sondern die Begegnungen bei einer Tasse Kaffee und Fettbemme. Zudem sind wir als Christen von einer Hoffnung getragen. In der säkularisierten Gesellschaft ist der Glaube an Gott ausgefallen. Je stärker dieser Umstand eintritt, umso stärker werden viele Fragen apokalyptisch aufgeladen. Plötzlich wird aus allem ein Glaubenskrieg.

Wie kann der Beitrag der Nachfolger Jesu aussehen, damit Ost- und Westdeutschland mehr voneinander verstehen?

Redet mit- und besucht einander! Beim Katholikentag 2024 in Erfurt sagten Besucher: Wie schön ist es hier. Wir waren noch nie hier! Warum nicht die West-Ost-Kontakte zwischen Kirchengemeinden als Partnerschaften auf Augenhöhe hegen und pflegen? Wer mal in Meerane oder Ronneburg war, redet anders über den Osten und seine Menschen.

Kirche wird zur Minderheitenkirche, auch im Westen. Wie kommt der Glaube hier im Osten zu den Menschen?

Religionsunterricht wird hier in Thüringen von jedem vierten Schüler besucht. Ein Drittel dieser Jugendlichen ist gar nicht getauft, doch der Lehrer ist cool oder die Freundin geht da hin – also gehe ich auch hin. In den Kitas ist den Eltern völlig klar, wenn die Pfarrerin, der Pfarrer eine Geschichte erzählen, ein Lied singen, ist das ein christlicher Inhalt. Auch wochentags verlässlich geöffnete Kirchen sprechen von Gott, ohne das dort gerade gepredigt wird. Wir arbeiten sehr dran, dass wir uns als Kirche in die Sozialräume begeben, die Kirchentüren zum Beispiel öffnen für Lesungen oder auch für weltliche Trauerfeiern. Unsere Ausstrahlung in die Gesellschaft hinein ist viel größer, als wir es selbst oft wahrnehmen. Diese Dynamik kommt primär von Gott, der zu uns gekommen ist in Jesus Christus, sich zu uns hin geöffnet hat. Das ist eine große Vorleistung! Von dieser Dynamik und Vorleistung getragen können wir uns für die Menschen in unseren Dörfern und Städten öffnen.

Die Größe der Gnade!

Diese Gedanken von Karl Barth machen Sie hoffnungsvoll im Blick auf die Zukunft der Kirche?

Ja. Barth hat mal gesagt, dass wichtigste theologische Wort ist „Ja“. In diesem Zuspruch, in diesem Ja in Christus (2. Korinther 1,20) steckt durchaus viel Schärfe, zu Dingen „Nein“ zu sagen, zu Menschenverachtung, zu Hetze oder zum Schüren von Ressentiments gegen Fremde. Und doch steckt in diesem „Ja“ ein überschießender Zuspruch: „Die Gnade ist immer noch viel größer!“ (Römer 5, 20).

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Rüdiger Jope. Er ist Redakteur des Kirchenmagazins 3E und Männermagazins MOVO.


Dies ist ein gekürzter Auszug eines Interviews, das im kirchlichen Ideenmagazin 3E erschienen ist. 3E ist wie Jesus.de ein Angebot des SCM Bundes-Verlags.

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2 Kommentare

  1. Das wird allmählich zwanghaft: egal,um was es geht, es muss das sattsam bekannte AFD Bashing stattfinden .Offenbar wird den Pfarrern vorgeschrieben, dass sie sich immer negativ zur AFD äußern. Es ist letztlich wie eine historische Schallplatte, die einen Kratzer hat und sich immer wiederholt. Langweilig.

    • oder es hat damit zu tun, dass eine rechtspopulistische bis rechtsextreme Position der christlichen Position so stark entgegen steht, dass man um solche Aussagen gar nicht drum herum kommt.

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