In der lauten Großstadt Essen steht mitten in der Innenstadt die St. Johann Kirche. Warum gehen Menschen dorthin? Ein Besuch zwischen alten Kirchenbänken, Ölgemälden und Kameras gibt darauf Antworten.
Von Tim Bergen
Heute besuche ich die St. Johann Kirche in Essen. Ich will in Erfahrung bringen, was diese Kirche für Menschen besonders macht. Das große Gebäude befindet sich mitten in der Innenstadt. Sie ist auch nachmittags geöffnet. Was tun Menschen dort um diese Zeit? Viele Passanten gehen daran vorbei – nur sehr wenige lösen sich aus dem Strom der Menschen und gehen in Richtung Kirche. Genau das tue ich und stehe plötzlich allein auf dem Domplatz.
Die massive Holztür ist schwer. Ein kleiner Vorraum dämpft die Geräusche der Verkaufsmeile und eine weitere, schwere Holztür führt in den Kirchensaal. Ein Teil des Gebäudes wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und danach wieder aufgebaut, es wirkt trotzdem aus der Zeit gefallen. Rote Säulen tragen die Kirche. Es riecht dort etwas modrig und es ist kalt. Kahles Mauerwerk. Alte, dunkle Bänke füllen den Raum und an den gewölbten, hohen Decken hängen moderne Lampen. Kerzen leuchten auf dem Altar. Daneben hängen hinter einem Gitter zwei große Ölgemälde. Zwischen den Heiligen an der Wand befindet sich eine Kamera.
Was am meisten auffällt, ist die Stille. Draußen war es laut – mit dem Schließen der Tür ist es so still, dass jedes Räuspern zu hören ist. Selbst das Knarren der Kirchenbank hallt durch den Raum. Es sitzen zwei Menschen in dem Saal. Da ist eine ältere Frau, die ein Kopftuch trägt. Sie faltet ihre Hände und betet anscheinend. Neben ihr liegen kleinere Bücher. In der letzten Reihe sitzt ein älterer Herr, der eingeschlafen und leicht zur Seite geneigt ist. Die Stille füllt den ganzen Raum aus – sie ist nicht unangenehm wie in einem Wartezimmer. Keine peinliche Stille. Es ist mehr etwas Feierliches. Ein älterer Mann kommt in den Saal, zündet eine Kerze an und geht in die Beichte. Der Beichtstuhl ist geschlossen, weil die Beichte nicht mehr dort abgenommen wird, sondern in einem Büro nebenan. Öffnungszeiten stehen auch noch dran.
„Ich habe für mein Meerschweinchen gebetet.“
Jeder Mensch hier bringt eine Geschichte mit. So auch ein kleines Mädchen, dass mit ihrer Mutter den Saal betritt. Sie setzten sich in eine der Bänke und schweigen. Beide schauen Richtung Altar. Nach etwa 10 Minuten nickt das Mädchen der Mutter zu und die beiden verlassen den Saal. Weil ich mich nicht traue, sie in der Kirche anzusprechen, folge ich ihnen schnellen Schrittes. Vorsichtig frage ich sie, warum sie in der Kirche waren. „Ich habe für mein Meerschweinchen gebetet. Das ist gestorben, sagt das kleine Mädchen. „Außerdem finde ich es in der Kirche sehr schön.“ Die Mutter und ihre Tochter verschwinden in der Menschenmasse und ich gehe zurück in die Kirche. Der schlafende Mann und die betende Frau sitzen noch auf ihrem Platz. Auch ihre Geschichte interessiert mich, aber es fühlt sich falsch an, hier eine Unterhaltung zu beginnen und die Stille zu durchbrechen. Eine etwa 40-jährige Frau betritt den Saal, bekreuzigt sich, berührt die Heiligenfiguren und zündet ebenfalls eine Kerze an. Dann geht sie in die Beichte. Es bleibt weiterhin still. Mir fällt auf, dass ich die Zeit ganz außer Acht gelassen habe. Ich sitze schon fast eine Stunde hier. Das Zeitgefühl ist hier anders. Der Mann in der letzten Reihe hat sich inzwischen auf die Bank gelegt und sucht noch die passende Position, um zu schlafen. Die ältere Frau liest inzwischen ein Buch, kniet dann aber wieder und seufzt. Nach kurzer Zeit steht sie auf und steuert auf den Ausgang zu. Das gleiche Spiel: Ich verlasse ebenfalls die Kirche und spreche sie draußen an.
„Ich kann auch zu Hause beten, aber hier ist Jesus mitten im Raum“
Sie dreht sich verwundert um. Von ihrer Stirn tropft noch das Weihwasser. Warum waren Sie heute in der Kirche? Wir kommen schnell ins Gespräch und sie versucht mir Lehren der katholischen Kirche zu erklären. Ganz oft nennt sie den Begriff Eucharistie. Ich frage sie, wie alt sie ist. Sie lächelt und bittet mich, ihr Alter zu schätzten. Ich tippe auf 60 Jahre. „Ja, das ist richtig“, sagt sie und lacht dabei. Ihr Name ist Christiana. Sie scheint ein fröhlicher Mensch zu sein. Christiana besucht die Kirche täglich. „Für mich ist es etwas ganz Besonderes hier zu beten“, erklärt sie mir ganz selbstbewusst und mit lauter Stimme. „Durch die Eucharistie ist Jesus hier in diesem Raum und hier hört er mich direkt. Jesus ist hier.“ Ich verstehe nicht ganz genau, was sie damit meint und wir gehen gemeinsam in die Kirche. Sie zeigt auf einen kleinen Kasten, der auf dem Altar steht. Sie flüstert mir ein paar Worte zu, die ich aber nicht verstehe. Wir verlassen wieder den Saal. Draußen erklärt sie, dass der Kasten für die heilige Messe eine wichtige Rolle spielt und dass Jesus deshalb in der Kirche anwesend sei. „Ich kann auch zu Hause beten, aber hier ist Jesus mitten im Raum. Das ist ein heiliger Ort für mich,“ sagt Christiana.
Wir unterhalten uns ungefähr eine Stunde lang. Am Ende komme ich noch auf die Beichte zu sprechen. Bei dem Wort „Beichte“ leuchten ihre Augen. „Die Beichte ist etwas Wunderschönes. Da verpassen Sie etwas!“ Wir verabschieden uns und ich betrete noch einmal in die Kirche. Weiterhin liegt die feierliche Stille wie ein Tuch auf dem ganzen Raum. Dort sitzen jetzt mehr Menschen und der ältere Herr schläft noch immer.
Tim Bergen ist Volontär des Männermagazins MOVO und des Nachrichtenportals jesus.de.
Leider haben sich die evangelischen und katholischen Gene auseinander entwickelt
Der Artikel hat mich sehr berührt, aber er schließt an meine sehr durchdringenden Erfahrungen in Taize an. Obwohl ich in meinem Leben nur zwei mal jeweils dort eine Woche betete und diskutierte, war es vom Gefühl her ein halbes Leben. So empfinde ich Räume der Stille immer schon als für den Geist und die Seele sehr wohltuend. Vielleicht irrt da aber mein Gefühl, wenn ich unsere evangelischen Kirchenräume geradezu oft als kahl und kalt empfinde, die wenig vom Gefühl des Raumes her die Stille herbeirufen, in denen man sich wohlfühlt – und die vorallem an Wochentagen auch geöffnet sind. Etwa die Stiftskirche in Kaiserslautern hat einen Hüter:innen-Dienst und ist als evangelische Gotteshaus wochentags geöffnet. Die protestantischen Gene scheinen es im allgemeinen schwerer zu haben, auch evangelische Gotteshäuser permanenter die öffnen, für welche vorbeigehen, die einige Minuten Stille suchen und die in dieser Atmosphäre sich der Liebe und dem Gespräch mit Gott dann öffnen können. Wir brauchen mehr Räume der Stille, auch in unseren Kirchen, brennende Kerzen, vielleicht auch Musik dazu und den Willen, unsere Seele auch im Alltag pausieren zu lassen, damit sie den Atem Gottes verspürt. Segnungen und Salbungen sind liturgisch-gottesdienstliche Handlungen, die auch im evangelischen Raum wieder wahrgenommen werden. Denn den Heiligen Geist darf man spüren, aller falschen Annahme entgegen ist er nicht unsichtbar und unbemerkbar. Aber er ist kein automatsicher Guss von oben, weil er uns nur weiterträgt und stärkt, wenn wir ihm auch unsere Füße leihen.
Nur ganz am Rande, weil es erwähnt wurde, als Beichte: Keinesfalls haben wir Evangelische die Beichte nicht gehabt. Sie ist aber irgendwann am Ende des ausgehenden 19. Jahrhunderts schlicht aus der Mode gekommen – selten gibt es aber (dann aus denkmalerischen Gründen) auch in Ev. Kirchen noch Beichtstühle. Sicherlich sind Phsychologen und Therapeuten gute Zuhörer:innen, aber dass der Pfarrer oder die Pfarrerin mir als MitchristInnen die Zusage der Vergebung weitergibt, wäre ein Mehrwert. Oder sich aussprechen zu können, in einem ganz entspannten Gespräch, wäre eigentlich ein geistlicher Zusatzgewinn. Aber ich befürchte, da haben sich die katholischen und evangelischen Gene auseinander entwickelt – oder jemand muss mal wieder einen neuen Anfang mit mehr Innerlichkeit und Gesprächskultur auflegen. Denn die Gesprächskultur ist heute im Zeitalter der knappen und gut missdeutbaren Sätzen, sowie der KI und der virtuellen Netzwelt, eine unbedingte Zugabe zur guten menschlichen Existenz. Denn der Leib Christi ist ja doch die auch körperlich anwesende Gemeinde und wer mir auch nur auf der Straße begegnet, ist der Stempelabdruck der Liebe Gottes.