Was wäre, wenn unsere Kirchengemeinden so aussähen wie die Gruppe der zwölf Jünger? Jesus wollte bewusst keine homogene Gruppe und hat damit auf den einfachen Weg verzichtet.
Von Ulrich Wendel
Man wird ja einmal träumen dürfen. Wie wäre meine ideale Gemeinde beschaffen? Mit welchen Menschen wäre ich gern in meiner Wunsch-Kirche zusammen? Mir persönlich würde es gefallen, wenn alle freundlich und sympathisch wären und Konflikte still und besonnen lösen könnten. Wenn alle ihre Bibeln in den Gottesdienst mitbrächten und Freude an tiefbohrenden Textauslegungen hätten. Wenn man ab und zu einen Paul-Gerhardt-Choral sänge, die Musik aber meist schön swingen würde. Wenn alle dafür wären, dass der Kirchenraum ruhig und aufgeräumt gestaltet wäre. Wenn eine Vorliebe für Momente der Stille im Gottesdienst herrschte, aber ansonsten auch viele Teilnehmer außer dem Pastor zu Wort kommen könnten. Und …
Aber vielleicht wäre es ja langweilig, wenn das in meiner idealen Gemeinde alle so sehen würden? Die Gruppe der zwölf Jünger Jesu ist für mich ein Urbild der Gemeinde. Wenn ich mir diese Leute anschaue: Langweilig war es da bestimmt nicht. Ich frage mich eher, ob Jesus hier nicht ein extremes Risiko eingegangen ist, indem er gerade diese zwölf Männer zusammenstellte. Die Gegensätze, die diese Männer mitbringen, würden heute wahrscheinlich jede Kirche zerreißen.
Kulturelle Kontraste
Die kulturellen Kontraste sind da vielleicht noch gar nicht das größte Problem. Aber immerhin – auch sie können Spannungen produzieren. Das geht bei den Namen der Jünger los. Viele der Jünger tragen traditionelle hebräische oder aramäische Namen: Jakobus (Jakob), Johannes, Simon, Bartholomäus (vielleicht identisch mit Nathanael – auch ein hebräischer Name), Judas. Daneben stehen aber auch griechische Namen wie Andreas und Philippus. Nicht immer ist dabei auf eine entsprechende Prägung zu schließen. Denn Simon und Andreas sind Brüder und ihr Elternhaus war zweifellos kulturell homogen. Aber es ist nicht auszuschließen, dass zum Beispiel Philippus einen griechischen Namen trug, weil seine Eltern diesen kulturellen Akzent setzen wollten und Sympathien für ein hellenistisch geprägtes Judentum zeigten. Die Herkunft der zwölf Jünger war weitgehend einheitlich – aber nur fast. Die meisten stammten, wie Jesus selbst, aus Galiläa. Judas Iskarioth allerdings dürfte seine Heimat im südlich gelegenen Judäa gehabt haben. Sein Name kann mit „Mann aus Kerijoth“ übersetzt werden – Kerijoth war eine judäische Stadt (Josua 15,25). Und das kann schon Zündstoff in die Gruppe getragen haben. „Das echte Judesein eines Galiläers war einem Jerusalemer nie ganz geheuer“, schreibt der Bibelausleger Adolf Pohl, und das galt wohl nicht nur für Bewohner der Hauptstadt. Wenn diese Herkunftsbeschreibung für Judas stimmt und wenn der einen schlechten Tag gehabt hatte, kann man sich die Sticheleien untereinander vorstellen. Öl ins Feuer hat vielleicht auch Simon Kananäus gegossen. Sein Beiname bedeutet „Eiferer“. Diese Gruppierung kämpfte innerhalb des Volkes für die Reinheit des Tempels und berief sich dabei auf den alttestamentlichen Pinhas, der auch schon mal zur Waffe gegriffen hatte, um die Reinheit des Volkes Gottes wiederherzustellen (4. Mose 25,6-9). Vermutlich hatte Simon andere Ziele und vor allem andere Methoden, nachdem er zu Jesus gefunden hatte, aber eine Prägung brachte er dennoch mit. Der Zündstoff im Jüngerkreis wäre noch größer, wenn die traditionelle Sicht zuträfe, dass Simon zur Partei der Zeloten gehört habe. Dann wäre er früher eine Art Terrorist gewesen. Allerdings ist diese gewaltbereite Untergrundgruppe noch nicht zur Zeit Jesu nachweisbar.
„Es sitzen Kassierer und Zahlungspflichtige in dieser Jesus-Gruppe an einem Tisch. Sie müssen miteinander auskommen.“
Soziale Spannungen
Nach Jerusalem führen auch die Verbindungen eines weiteren Jüngers. Er wird namentlich nicht genannt, aber das Johannesevangelium weiß, dass er mit dem Hohen Priester bekannt war (18,15). Interessante Beziehungskanäle! Auf der anderen Seite waren etliche der Jünger einfache Fischer. Ihr Milieu war bestimmt nicht das der gepflegten hauptstädtischen High Society.
Die Fischer unter sich hatten viel gemeinsam. Eben auch die Herkunft aus Galiläa – einer Gegend, die mehr als andere zur Opposition gegen die römische Herrschaft geneigt war. Der Galiläer Judas (nicht identisch mit dem Jünger von Jesus) ist ein Beispiel dafür (Apostelgeschichte 5,37). Doch auf der anderen Seite steht da der Zöllner Matthäus. „Vielleicht wurden an der Zollstation vor allem die hohen Abgaben der Fischer für ihren Fang eingezogen“, schreibt der Theologe Rainer Riesner. Also sitzen Kassierer und Zahlungspflichtige in dieser Jesus-Gruppe an einem Tisch. Sie müssen miteinander auskommen. Und die Galiläer müssen ertragen, dass der Zöllner das römische System eher stabilisiert als kritisiert hat.
Vetternwirtschaft?
Zu den sozialen Spannungen gehören auch verwandtschaftliche Beziehungen. Wie kompliziert solche Beziehungen das Gemeindeleben machen können, weiß jeder, der in einer kleinen Gemeinde ist, die von wenigen „Clans“ dominiert wird. Als Jesus seine Apostel auswählte, suchte er auch zwei Brüderpaare aus: Petrus und Andreas sowie Johannes und Jakobus. Ob dadurch besondere Achsen im Jüngerkreis entstanden sind? Ein besonders schnelles Einverständnis zwischen den Geschwistern, ein rasches Augenzwinkern und die Verabredung steht? Oder ob die anderen Jünger solche – im wörtlichen Sinne – Verbrüderungen zumindest befürchtet haben, selbst wenn diese vier das gar nicht praktizierten? Und es könnte sogar noch „schlimmer“ gewesen sein. Es gibt in der Bibel Hinweise darauf, dass die Verwandtschaftsbeziehungen sich erstreckten – bis hin zu Jesus selbst! Das ergibt einen Blick auf die Frauen, die zuletzt bei Jesus unter dem Kreuz standen. Vergleicht man die Berichte der vier Evangelien miteinander, so scheint es sich bei Salome, der Mutter von Johannes und Jakobus und der Schwester von Jesus’ Mutter, um ein und dieselbe Person zu handeln. Salome wäre demnach die Tante von Jesus gewesen – und Johannes und Jakobus, die Söhne des Zebedäus, Jesus’ Cousins! Trifft das aber zu, dann wäre es menschlich nur allzu verständlich, dass andere Jünger hier argwöhnisch werden konnten. Wieso wurden diese beiden Brüder in die Jesus-Gruppe aufgenommen? Doch sicher nur, weil sie Jesus eben näher standen – als seine Verwandten! Vetternwirtschaft ganz wortgetreu – so könnte der Verdacht lauten.
Elitebildung?
Den Wunsch, dazuzugehören, hat jeder Mensch. Und umgekehrt auch die Angst davor, ausgeschlossen zu sein. Die Art, wie Jesus mit seiner Zwölfergruppe umging, war gut geeignet, solche Ängste zu nähren. Denn Jesus hat sein Leben nicht mit allen zwölf gleich intensiv geteilt. Drei Männer gehörten zu einem inneren Kreis, den Jesus in Situationen mitnahm, in denen die anderen neun außen vor bleiben mussten. Die drei „Erwählten“ waren Petrus, Johannes und Jakobus (ja, genau, die Vettern). Ist es Zufall, dass Jesus nur diesen Dreien einen Beinamen verlieh? (Die anderen Beinamen, wie „Zwilling“ für Thomas, waren nicht von Jesus gegeben worden.) Wollte Jesus sie mit einer besonderen Berufung ehren? Und was für eine Berufung! Petrus heißt „Fels“, und mit diesem Ehrennamen wurde bisher nur der Stammvater Abraham genannt (Jesaja 51,1-2 und auch später in der jüdischen Tradition). Musste denn Jesus einen einzigen aus dem Jüngerkreis so deutlich herausheben? In der Tat: Gerade die beiden Söhne des Zebedäus, Johannes und Jakobus, lösten Unmut bei den anderen aus. Sie wollten eine Vorrangstellung für sich heraushandeln – und „als die anderen zehn Jünger merkten, worum Jakobus und Johannes gebeten hatten, waren sie empört“ (Markus 10,41; im Matthäusevangelium kommt hier noch die Mutter der beiden ins Spiel). Diesen Konflikt kann man sicher nicht Jesus anlasten. Der Ehrgeiz kam aus dem Herzen der beiden Brüder. Doch immerhin war es Jesus gewesen, der eine Struktur geschaffen hatte, die Raum für diesen Ehrgeiz bieten konnte.
„Jesus hat damals wie heute darauf verzichtet, den einfachen Weg zu gehen: Leute zu versammeln, die sich menschlich ähnlich wären. Jesus wollte ganz bewusst keine homogene Gruppe.“
Gerade nicht der einfache Weg
Was mag Jesus sich dabei gedacht haben, als er diese zwölf Männer zu einer Gruppe zusammenstellte, die eng miteinander leben sollte? Jesus hat wohl kaum in jedem Moment überwacht, wie sie miteinander zurechtkamen. Er hat ihnen all das an Weisung mitgegeben, was wir heute in der Bergpredigt lesen. Später, kurz vor seinem Tod, hat er das Liebesgebot noch einmal deutlich in den Mittelpunkt gerückt. Und indem er seinen Jüngern die Füße wusch, war er ihnen ein Vorbild. Das war’s aber auch schon. Mit dieser Ausrüstung musste die so explosiv zusammengesetzte Jüngergruppe nun zurechtkommen. Genau das fasziniert mich an den Jüngern – und an der christlichen Gemeinde! Jesus hat damals wie heute darauf verzichtet, den einfachen Weg zu gehen: Leute zu versammeln, die sich menschlich ähnlich wären. Jesus wollte ganz bewusst keine homogene Gruppe. Die wäre sicher auch so langweilig geworden wie meine eingangs erträumte Idealgemeinde. Jesus wollte vielmehr eine Gemeinschaft, in der die Liebe sich bewähren muss – gerade auch gegenüber den menschlichen Unverträglichkeiten. Er hat seinen Nachfolgern dafür alles mitgegeben, was sie brauchen: sein Wort, sein Beispiel, seine Vergebung – und der Gemeinde heute auch noch seinen Geist. Das muss genügen. Und immer wenn es gelingt, dass Christen auch dort miteinander auskommen, wo sie menschlich betrachtet eine explosive Mischung bilden, dann leuchtet ein starkes Zeichen für die Macht von Jesus.
Dr. Ulrich Wendel ist Chefredakteur von Faszination Bibel, Herausgeber verschiedener Bibelausgaben und Mitherausgeber des Lexikons zur Bibel.
Dieser Artikel ist in der Zeitschrift Faszination Bibel erschienen. Faszination Bibel wird vom SCM Bundes-Verlag herausgegeben, zu dem auch Jesus.de gehört.
Die christliche Liebe ist der Kitt der Christen
„Jesus hat damals wie heute darauf verzichtet, den einfachen Weg zu gehen: Leute zu versammeln, die sich menschlich ähnlich wären. Jesus wollte ganz bewusst keine homogene Gruppe“! Es tröstet mich, dass Jesus Menschen in seine Nachfolge einlud, die weder perfekt und immer einer Meinung und Prägung sind. Wir glauben ja nicht an ein widerspruchsfreies Konstrukt einer Welterklärung, sondern dass es für unsere Existenz im Paradies und vorher erst einmal hier auf Erden – wie Lernende in der Schule Gottes – nur um die LIEBE geht. Glaube heißt nicht alleine etwas für absolut wahr zu halten, sondern Gott sehr zu vertrauen. Für ihn sind wir Menschen wichtig, nicht weil wir perfekt sind, sondern eben diese Liebe Gottes existenziell benötigen. Menschen mit Nahtoderfahrungen berichten, wie sie einem sehr großen Licht begegneten, so wie auch Saulus/Paulus vor Damaskus, aber diese Begegnung sie alle von Grund auf veränderte. Darin liegt uns christliche Hoffnung, dass nämlich niemand am Ende seines Lebens – oder möglichst früher – sich einfach so an Gott vorbeimogeln kann. Jesus hat die Bergpredigt sicher sehr auch auf seine Jünger bezogen, die durchaus Streithammel waren, irrtümsfähig, schwach und doch guten Willens. Sich nämlich zu lieben. Den Balken muss sich jeder zuerst aus dem eigenen Augen ziehen, bevor er den anderen umerziehen will. Jesus hat seinen Jüngern, (er hatte ebenso Jüngerinnen), die Füße gewaschen, wie dies in seiner Zeit nur die Diener an ihren Herren taten. Der Größte sollte derjenige sein, der allen dient. Daher braucht die christliche Gemeinde keinen Fundamentalismus, niemand der in New York sitzt und als Gremium bis auf Punkt und Komma festlegt, was für alle der richtige Glaube zu sein hat: Sondern es geht um Nächstenliebe, Demut (Mut zum dienen), Achtsamkeit und in der Begegnung auf Augenhöhe vorallem Empathie. Von den liberalen Christen bis hin zu den Evangelikalen sind wir alle Schwestern und Brüder und Meinungsverschiedenheiten, über die man oft auch abstimmen kann, tragen wir (hoffentlich) fair und ohne Anspruch auf absolute (menschliche!!) Wahrheiten aus. Denn die christliche Gemeinde, die Kirchen weltweit, sind so Netzwerke des Glaubens und damit neben Einheit in der (gewünschten) Vielfalt, vorallem dazu da, die Liebe Gottes versuchen zu leben: Als Licht der Welt und Salz der Erde. Als Salz der Erde sind wir in unseren Gesellschaften wichtig, um ihren Geschmack (besser ihren Ton auch in der Politik) zu verbessern. Für mich ist wichtig: Ich möchte nicht Menschen in Denkschubladen einsperren. Daher möchte ich weder Evangelikaler sein, noch ein liberaler Christ. Ich bin einfach nur ein CHRIST. Nicht Hohes oder Tiefes, auch nicht Mächte und Gewalten, können mich aus der Hand Gottes reißen. Jesus hat aber die Tische der Wechsler im Tempel umgestoßen. Bei Mißständen bleibt er nicht nur ein liebes Jesuslein. Jesus stellte das Reich Gottes, ein Reich dass schon in uns ist, in den Mittelpunkt. Gottes Wille ist das Entscheidende.
In den Jüngerkreis Gegensätze hineinkonstruieren, damit er besser zu einer Kirchengemeide passt?
Immerhin waren die Jünger alle Nachfolger von Jesus, dieses Verbindende dürfte wohl in der Kirchengemeinde nicht so ganz zu finden sein …
Die weltweite Kirche Jesu ist eine Einheit in der Vielfalt
Lieber Ulrich Wößner: Wenn alle Menschen gleich ticken, oder nach der Logik von Fundamentalisten alle Christinnen und Christen, dann gibt es die nicht wirklich auf Erden. In meiner Realität, und dies bestätigen viele Menschen die es gut meinen, dass nämlich fast jeder Gläubige auch sein eigenes ganz privates Gottesbild hat. Die Jünger waren wie alle Menschen ungleich. Es gibt keine weltweite Einheitskirche, niemand der in New York oder sonstwo als Gremium oder heiliger Mann für mich und alle anderen festlegt, was ich zu glauben habe und nicht denken und glauben darf. Es gibt sehr viele Kirchen, Konfessionen, unterschiedliche theologische Ansichten und auch in der Urgemeinde wurde der Streit zwischen Judenchristen und Heidenchristen durch ein Kompromiss des Apostelkonzils geschlichtet. In unseren Wäldern stehen keine Bäume die vom Fließband kommen, es gibt keine richtige Art des Denkens, die man als die Fähigkeit beschreiben kann allwissend und irrtumslos zu sein. Wir Christen sind hoffentlich auch ein sehr buntes Biotop einer Einheit in der Vielfalt. Und Gott, der uns sehr unterschiedlich geschaffen hat, erfreut sich an den vielen Blüten, Pflanzen und den unterschiedlichen Liedern der Vögel und Menschen. Meine Kirchen besteht aus Menschen, die nicht regelhaft einem Anführer folgen, sondern wo man geschwisterlich über den Glauben redet, die Liebe praktiziert, möglichst tolerant ist und in die Demokratie herrscht. Wir alle sind erlösungsbedürftig und niemand läuft mit einem blankgeputzen Heiligenschein herum. Es wird wohltuend sein, wenn wir Toleranz üben und uns gegenseitig unterstützen und öfters umarmen. So wie Gott dies tut als Heiliger Geist, wenn er uns mit Freude und Frieden erfüllt. Ich würde wünschen, dass das Christsein mit Liebe geschieht und nicht aufgesetzter Perfektionismus mit einer gewissen Portion geistlicher Populismus ist. Der Heiland Jesus Christus kam als Friedefürst, der mit milder Hand regiert und nicht als Richter sondern dem Amt des Erlösers dient. Wir sollten anderen – bildlich gesehen – eher die Füße als die Köpfe waschen. Jede/r sieht Gott durch seine Brille, obwohl dies nicht ausschließt, dass auch eine Brille einmal geputzt werden muss.