„Tor, Tor, Tor!“ 1954 schoss Helmut Rahn Deutschland in Bern zum WM-Titel. Er wusste, was zu tun war. Wie sieht das bei uns aus?
Von Tom Laengner
Meine Eltern waren etwa 30 Jahre alt, da gewann Deutschland das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft in Bern. Knapp 50 Jahre später schauten wir in den dicken Plüschsesseln der Lichtburg in Essen Das Wunder von Bern. Und dann hörte ich: „Der Ball ist rund – und das Spiel dauert 90 Minuten.“ Ja, es gibt ein zu spät. Aber jetzt gibt es noch eine Möglichkeit.
Und dann brachen im Wankdorf Stadion die letzten sechs Minuten an. Herbert Zimmermann ist der Moderator fürs Radio. Er beobachtet ganz genau und sagt: „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen!“ Der Essener Helmut Rahn war ein typischer Malocher aus dem Ruhrgebiet. Aber Fußball spielen konnte er eben auch. Würde er im Endspiel tun, was er nach Meinung Zimmermanns tun müsste? Nun, es gibt viele Dinge, die wir tun müssten. Entscheidend ist wohl, dass wir sie auch tun.
Doch wie schön wäre es, wenn der Traum wahr würde, den die Außenministerin der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang der Europameisterschaft 2024 so sehnlich erhofft: “Der Fußball bringt uns zusammen. Egal, woher wir kommen. Egal, an welchen Gott wir glauben oder eben nicht. Egal, was wir sonst noch so im Leben machen. Auf dem Bolzplatz sind wir alle einfach nur Menschen“. Einfach nur Mensch sein! Fast zu schön, um wahr zu sein! Menschen sind wir eigentlich alle. Was sollten wir denn sonst sein?
Doch was müsste ich dafür einbringen? Mit wem müsste ich dann unbedingt reden? Welchen Menschen sollte ich, vielleicht erstmalig, aufrichtig zuhören? Mit wem müsste ich mich versöhnen?
„Rahn schießt!“
Sekundenbruchteile später vollzieht Rahn das, was die Menschen an den Röhrengeräten zwischen Flensburg und Friedrichshafen ersehnt haben: „Rahn schießt!“
Immerhin ein Anfang, denke ich mir. Und während das Runde sich auf den Weg ins Eckige macht, gehen meine Gedanken spazieren. Viel Zeit bleibt ja nicht.
So ein Ball flippert schließlich nicht minutenlang zwischen den Pfosten und einem ratlosen Torwart hin und her. Rahn wusste, dass er etwas machen musste. Und er wäre nicht ‚der Boss‘ gewesen, wenn er das nicht auch entschlossen durchgesetzt hätte. Den Spielern, die bislang vier WM- und drei EM-Titel erkämpft haben, hatten wohl ein ähnliches Kaliber. Für sie war entscheidend auf’m Platz. Wenn ich davon rede, dass ‚wir‘ den Pokal oder die Schale geholt haben, ist das eine andere Geschichte. Bei manchen Spielen ist es mir schon einmal gelungen, ein ganzes Weizenbier alleine in mich hinein zu gurgeln. Aber das hat bislang keinen Trainer davon überzeugen können, mich auf den Platz zu schicken. Es geht wohl kein Weg daran vorbei: Das, was ich tun müsste, muss ich tun. So wie Helmut Rahn. Sonst bleiben deine Hoffnungen und Träume leider Märchen.
„Tor, Tor, Tor!“ Der Ball schlägt ins untere linke Eck ein, unhaltbar für Gyula Grosics. Der ungarische Keeper kassierte mit seiner Nationalmannschaft in der Schweizer Hauptstadt die erste Niederlage seit 1950. Was für eine Riesenfreude für Rahn und auch unfassbar viele Menschen in Deutschland. Doch um einfach nur Mensch zu sein, werden weder ein Torschuss noch eine Trophäe aus Sterlingsilber ausreichen.
Vergebung, wo Vergebung unmöglich scheint
Und was muss ich tun? Wenn ich glaube, nicht vergeben zu können; wenn ich glaube, dass ich mit bestimmten Menschen nicht reden kann, dann sehe ich Antoine Rutayisire vor mir. Während des Genozids in Ruanda verlor der spätere Architekt der Versöhnungsbewegung in dem ostafrikanischen Land Familienangehörige, Freunde und seine berufliche Karriere. Damit war er nicht alleine. Nur 100 Tage dauerte es, bis im Jahre 1994 zwischen 800.000 und 1.000.000 Menschen ihr Leben verloren. Ermordet. Warum war das so? Vereinfacht gesagt: Sie gehörten zum falschen Verein. Das war unbeschreiblich grauenvoll. Doch auch nach 30 Jahren schaudern viele bei der Erinnerung. Es fühlt sich an, als wäre es gestern passiert.
Doch inzwischen war mit Rutayisire etwas geschehen. Er spricht davon, dass er Jesus begegnet sei. Er spricht davon, dass dieser ihm vergeben habe.
Das berührte ihn tief. Doch dann begann ein aufrührender Kampf in ihm. Der anglikanische Theologe begriff das Eine: Wenn Jesus mir vergibt, dann muss ich auch vergeben. Der Kampf darum war Schwerstarbeit. Doch als er beendet war, konnte Rutayisire von sich sagen, dass er innerlich geheilt war. Und so schlug er seiner Regierung im Herbst 1994 Versöhnung als Strategie vor, das Volk wieder zusammenzuführen. Und das geschah dann auch. Das war ein Meilenstein auf dem Weg, einfach nur Mensch zu sein. Ohne das wäre es ein Traum geblieben, ein Märchen von Versöhnung.
Das Wunder von Bern habe ich dann gleich zweimal zu Weihnachten verschenkt. Zwei Jahre hintereinander und an dieselbe Person. Beim dritten Mal wurde mir das als Nachlässigkeit ausgelegt. Kann ich ihr nicht verübeln!
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Todfeinde können sich versöhnen
Die Bergpredigt will uns ermutigen, auch dort Vergebung zu versuchen, wo sie nach allgemeiner Erfahrung unmöglich ist. Südafrika zeigte uns damals, dass Todfeinde miteinander viele Tassen Tee trinken konnten und sich dann versöhnten. Dazu muss man sich – rein gefühlsmäßig – nicht bereits lieben, aber ein Schluss-Strich genügt. Bei der Abschaffung der Ideologie der Apartheit reichte eigentlich die Erkenntnis, dass wider aller Erwartungen die Gegenüber auch Menschen sind. Aber ein Zweites war erforderlich, dort nämlich über Versöhnungskommitees die Gerechtigkeit wieder herzustellen. Man hat sich also tatsächlich vergeben, es wurde nicht marginalisiert und verharmlost. Das gilt auch für Großgruppen und Staaten: Wenn das Narrativ auf beiden Seiten fällt, nur die anderen seien die Bösen, auch dann wenn es vorher eine sehr bewusste Propanda war.
Nun würde ich im Ukrainekrieg berücksichtigen, dass man sich nicht mit Menschen und Machtstrukturen versöhnen kann, die sich jedenfalls aber grundsätzlich niemals versöhnen wollen weil sie es nicht können, da sonst die Machtstrukturen und Seilschaften in Gänze ab adsurdum geführt würden. Dann bleibt als andere Möglichkeit noch, endlich weltweit solche Weltgerichte zu ermöglichen, denen man angehören muss. Rechtlich wäre dies möglich, aber dazu braucht man – wenn nicht alle, so doch sehr viele Staaten. Dadann gehörten unlehrbare Unrechtsstatten und ihre verantwortlichen Machthabenden (Politiker wäre der falsche Ausdruck) auch dahin wo Verbrecher gehören, in die Hand der irdischen Justiz,. Der Krieg würde wirklich geächtet. Jedenfalls verhindert dies die von Trump verfundenen alternativen Wahrheiten. Ich frage mir hier, wie jemand an ein solches Konstrukt glauben kann. Es gibt durchaus eine Relativitätstheorie, aber die bezieht sich nicht auf die Wahrheitspflicht auch unter Staaten.
Am Rande sei nur erwähnt, dass Versöhnung zwischen einzelnen Menschen auch funktioniert, sogar viel besser als unter Staaten.