Das Beziehungsnetz einer Gemeinde ist das „Ökosystem“, in dem Glaube geweckt wird und gedeiht. Glaube braucht Gemeinschaft – und auskunftsfähige Zeugen des Evangeliums.
Von Pfarrerin Maike Sachs
Mit dem Stichwort „Evangelisation“ verbindet sich für viele das Bild einer Großveranstaltung: eine volle Halle, ein Zelt oder sogar ein Fußballstadion, das bis auf den letzten Platz besetzt ist. Auf der Bühne ein bekannter Redner. Inzwischen aber stellt sich die Frage, ob diese Form noch zeitgemäß ist. Manche raten ganz von Veranstaltungsformaten ab. Denn die Beobachtung zeigt, dass nicht mehr Plakate, Posts und Prediger locken, sondern die Gemeinden vor Ort eine ganz wesentliche Rolle spielen. Medienwirksame Auftritte, ja, aber die Initialzündung gibt die Gemeinschaft der Christen vor Ort.
Es geht ums „Zusammenspiel“
So erklärt es Lesslie Newbigin, selbst Missionar und Missionstheologe. Er nennt die Gemeinde von Jesus Christus die einzige Hermeneutik des Evangeliums, das heißt, seine Auslegerin und Übersetzerin. Denn, so Newbigin, wer zur Überzeugung kommt, dass ein Mann am Kreuz den Weg zum erfüllten Leben kennt, der hat seine Antwort zuerst in der Gemeinschaft von Männern und Frauen gefunden, die das glauben und danach leben.
Die Gemeinde ist also die erste „Predigerin“. Evangelisation braucht deshalb Gemeinde. Gleichzeitig braucht die Gemeinde Evangelisation. Sie lebt davon, dass immer neu zu einem Leben mit Jesus eingeladen wird. Die Überlieferung des Glaubens legt ein Fundament, aber dann muss dieser Glaube auch aktiv angenommen werden. Die Einladung dazu spricht eine Gemeinde in vielfältiger Weise aus. Darüber hinaus braucht sie die Unterstützung von außen durch externe Verkündiger. Allerdings dient jetzt der Prediger der Gemeinde. Früher war es umgekehrt, da diente die Gemeinde dem Verkündiger, stellte ihm ihre Mitarbeitenden zur Verfügung und organisierte die Räumlichkeiten. Heute stimmt der Gast sein Programm so ab, dass es in die Ziele, in die Vorarbeit und die Nacharbeit einer Gemeinde passt.
Hingeschaut und nachgefragt
Evangelisation braucht Gemeinde. Denn wenn Menschen (neu oder wieder) zum Glauben an Jesus finden, dann geschieht das nicht ohne persönliche Beziehungen. Das haben wissenschaftliche Untersuchungen festgehalten, die in den letzten 20 Jahren am Institut für Gemeindeentwicklung und Evangelisation in Greifswald, aber auch an der Universität Heidelberg durchgeführt wurden.
Bei einer dieser Untersuchungen wurde einmal der Blickwinkel der Menschen eingenommen, die von einer persönlichen Reise zum Glauben erzählen konnten. Sie wurden gefragt, was die Faktoren waren, die sie dabei unterstützt haben. Welche Personen, welche Angebote einer Gemeinde, welche Erlebnisse haben eine wichtige Rolle gespielt? Klar wurde: Evangelisation erwächst aus dem Zusammenleben, zum Beispiel durch Freundschaften, aus der Familie oder dem Kollegenkreis, im Kontext gemeinsamer Hobbys, und sie führt zur Gemeinschaft: zum Beispiel in die Seelsorge, in den Glaubenskurs oder den Hauskreis, vor allem aber in den Gottesdienst.
Was sollte Menschen dazu bewegen, in eine Evangelisation zu gehen, wenn ihr Weltbild ohne Gott auskommt?
Eine andere Untersuchung wählte den Blick der Gemeinde. Über dreißig Kirchengemeinden, die an Zahl zugenommen hatten, wurden befragt, welche Schwerpunkte sie gesetzt hatten, um einladend zu sein und Glaubensbiografien bewusst zu fördern. Es waren Hauskreise und Glaubenskurse, Gastfreundschaft und Gemeinschaft, einladende Gottesdienste, dann aber auch ProChrist.
Das Beziehungsnetz einer Gemeinde ist sozusagen das Ökosystem, in dem Glaube geweckt wird und gedeiht, in dem er Wurzeln schlägt und zur Selbstständigkeit reift. Umgekehrt ist zu beobachten, dass christlicher Glaube an Kraft verliert und schließlich bedeutungslos wird, wenn er ohne Anschluss an eine Gemeinschaft bleibt. Selbst eine Evangelisation bleibt (weitgehend) wirkungslos, wenn sie nicht eingebettet ist in dieses Ökosystem. Das gilt mehr denn je in einer Zeit, in der die Menschen vom christlichen Glauben entwöhnt sind. Was sollte sie dazu bewegen, in eine Evangelisation zu gehen, wenn ihr Weltbild ohne Gott auskommt? Wie sollen Menschen mitten im Überangebot von Werbung und Einladungen ausgerechnet die Veranstaltung einer Kirche wählen, die in ihren Augen längst bedeutungslos geworden ist? Sie werden sich nur einladen lassen und kommen, wenn sie Freunde, Kollegen oder Nachbarn kennen, deren Leben sie neugierig macht und mit denen sie im Gespräch sind über die beste Nachricht der Welt.

Im Evangelium begründet
Dass Evangelisation und Gemeinde eng zusammenhängen, liegt in der Natur der Sache. Denn die Verkündigung des Evangeliums und die Einladung zum Glauben an Jesus ging immer schon von der Gemeinde aus. So schildert es Lukas in seinem Bericht von der Entstehung der Kirche in der Apostelgeschichte.
Die erste Evangelisation fand in Jerusalem am ersten Pfingsttag statt. Der Evangelist war niemand geringerer als der Jünger Petrus. Später waren es beispielsweise Philippus und Paulus, die predigten und lehrten und Gemeinden gründeten, die dann ihrerseits wieder Prediger und Missionare aussandten (Apostelgeschichte 13,1–3). Hier lässt sich beobachten, was der Wesenszug des Evangeliums ist: Wer sich Jesus Christus anvertraut und auf seinen Namen getauft wird, der ist Teil seiner Gemeinde. Dort sind die Menschen so eng miteinander verbunden wie die Glieder eines Körpers. Die neue Beziehung von Gott und Mensch, die durch Jesus möglich ist, spiegelt sich in der Gemeinschaft einer Gemeinde. Versöhnung und neues Leben werden hier sichtbar.
Deshalb ist auch eine christliche Gemeinde der Ort, an dem Jesus zu finden ist. Er selbst sagt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Matthäus 18,20). Es mag viele Möglichkeiten geben, Jesus kennenzulernen. Der prominenteste und beste Ort ist allerdings die Gemeinde. Jesus finden, Jesus begegnen und zur Gemeinschaft mit Jesus eingeladen werden, das ist die Mitte einer lebendigen, wachsenden Gemeinde.
In die Rolle als Evangelistin hineinwachsen
Diese Rolle als Gemeinde anzunehmen und in sie hineinzuwachsen, ist wesentlich Aufgabe der Gemeinde. Gott selbst sucht die Menschen und sein Geist öffnet die Herzen. Dem nachzuspüren und Gelegenheiten zu bieten, dass es geschehen kann, das macht evangelistische Gemeindearbeit aus. Anders gesagt: Eine Gemeinde entscheidet sich dafür, evangelistisch zu leben, das heißt in ihrer Arbeit damit zu rechnen, dass Menschen zum Glauben an Jesus finden. Man sagt: Sie schafft ein „konversives Klima“, also ein Umfeld, in dem es zu Konversionen bzw. Bekehrungen kommen kann.
Das bedeutet: Die Gemeindeglieder werden begleitet und geschult in ihrem Kernauftrag. Sie lernen im Vertrauen auf Jesus Christus zu leben und von ihm zu erzählen. Begegnungen, Gastfreundschaft, Seelsorge und Gottesdienst strahlen etwas aus, erzählen Grundlegendes von Jesus und laden zu ihm ein. Gleichzeitig gibt es gezielte Angebote, wie alternative Gottesdienste, Freizeiten, Veranstaltungen und Feste, die es leicht machen, einfach mal vorbeizuschauen und am Leben mit Jesus zu schnuppern.
In diesem Klima wiederum entfalten zwei Wochen mit der Zeltkirche, die Übertragung von ProChrist oder truestory ihre Kraft. Hier bekommen ein besonderes Konzert, ein herausragender Redner, eine Talkrunde mit einer bekannten Persönlichkeit die Aufmerksamkeit, die ihnen zusteht.
Am besten gemeinsam
Denn ganz auf Unterstützung von außen zu verzichten, wäre nicht richtig. Einen Evangelisten einzuladen oder ein besonderes Event zu planen, das entlastet. Das Gemeindeleben spiegelt das Alltägliche. Das Besondere darf ruhig anders sein, an anderem Ort und mit anderen Personen. Außerdem darf ein Prediger, der anschließend weiterzieht, Dinge sagen, die irritieren und aufwühlen. Denn das Evangelium ist ja nicht nur Balsam für die Seele. Es ruft zur Umkehr und konfrontiert, weil ein Mensch ohne Jesus verloren ist. Vielleicht aber sagt der Verkündiger nur noch einmal mit eigenen Worten, was der Freund oder Kollege oder Nachbar schon viele Male aus unserem Mund gehört hat.
Und so schließt Michael Herbst seine praktischtheologischen Bestimmungen zur Evangelisation:
„Die Reichweite der evangelistischen Kommunikation wird – menschlich gesprochen – davon abhängen, ob Christenmenschen im Alltag beziehungs- und auskunftsfähige Zeuginnen und Zeugen des Evangeliums sind, und ob Gemeinden gastfreundliche, ausstrahlende und elementar, kontextuell wie intentional das Evangelium kommunizierende Gemeinschaft sind. Beide Aspekte sind alternativlos. Und beides löst keinen Automatismus aus, sodass dann die Menschen in Scharen geströmt kämen. Es geht wohl nur mit großer Geduld und im Kontakt mit Einzelnen und Wenigen in der Hoffnung auf mehr. Alles, was Gemeinden dann veranstalten, assistiert den Zeuginnen und Zeugen im Alltag und der Gemeinde, die das Evangelium feiert und bezeugt. Und alles, was Gemeinden ins Auge fassen, wird einen langen Atem ebenso brauchen wie Fantasie und die Bereitschaft, durch ‚trial and error‘ zu lernen.“
Maike Sachs ist Pfarrerin und Studienleiterin am Albrecht-Bengel-Haus in Tübingen mit den Schwerpunkten Missionstheologie und Praktische Theologie. Sie ist Mitglied der Landessynode.
Dieser Artikel stammt aus dem Magazin Lebendige Gemeinde, Ausgabe 3/2024 (Titelthema: Mehr Mission und Evangelisation). Die Veröffentlichung auf Jesus.de erfolgt mit freundlicher Genehmigung von „Lebendige Gemeinde. ChristusBewegung in Württemberg e.V.„
Schon ironisch, als Titelbild ein Bild zu wählen, bei dem die gezeigten Zahnräder unmöglich gemeinsam funktionieren würden. 😉
Muss man das als verdeckten Kommentar werten? 😄
Das neue Lied der Christinnen und Christen
Ich glaube, dass wir in unseren weltweiten Kirchen, quer durch alle Konfessionen, Glaubenstraditionen und Kirchenformen, neben einer damit verbundenen Erneuerung – also Reformation . eine sehr grundlegende Evangelisation benötigen.. Dazu gehört vielleicht auch eine neue Art von Sprache, darauf hin sensibler zu formulieren, was die frohe Botschaft von der Liebe und Barmherzigkeit Gottes von uns abfordert und aufgrund der Weltlage vonnöten ist. Ich hoffe, die (Noch)Volkskirchen und die Freikirchen finden mit den Katholischen Geschwistern in einer solidarischen Ökumene zusammen und werden sich wie Netzwerke in ihren Aufgaben geschwisterlich ergänzen. Dazu könnte gehören in kleinen und doch kontinuierlichen Schritten neue Wege auch aus einem Verharren in einem Nur-Hingeh-System eine Tradition einzuführen, wo Christinnen und Christen als Kirche Jesu Christi dort präsent ist, wo Menschen jeden Tag leben, arbeiten und auch ihre Freizeit verbringen. Dies kann und muss auch an den Rändern der Gesellschaft und bei den modernen Armen sein, den Vernachlässigten sowie jenen sein, die Flüchtlinge und Fremde sind. Damit ihre Glieder, als die vielen Menschen, noch mehr zu einem lebendigen Zeugnis werden, dass Gott die Welt gerade in schweren Zeiten umso mehr liebt und auf der Suche ist nach den Verlorenen Schafen und Söhnen, dass sie heimkehren und/oder einer Entscheidung dann für Jesus gern folgen. Die Freunde und Freundinnen Jesu mögen dabei ein neues Lied singen, welches nicht nur musiziert oder gesungen, sondern gelebt werden kann. Dann könnten auch neue Formen eines gelebten gemeinsamen Lebens der Gläubigen entstehen, die wie das Leben der Gemeinde Leuchttürme abgeben, weil unser Licht leuchten soll und nicht versteckt werden darf.