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Weihnachten war nicht immer ein Familienfest

Christen feiern Weihnachten Jesu Geburt. Abgesehen davon gilt es heute als das Familienfest schlechthin. Doch das war nicht immer so, erklärt Kulturwissenschaftlerin Monique Scheer.

Weihnachten – für viele Menschen bedeutet das: Tannenbaum, gemeinsam essen, Verwandte besuchen. War das immer schon so?

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Scheer: Weihnachten, wie wir es heute kennen, ist erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden. Der Fachbegriff für diesen Umstand lautet: „Invention of tradition“. Das bedeutet natürlich nicht, dass Weihnachten völlig frei erfunden worden wäre, aber viele kulturelle Versatzstücke wurden damals ganz neu zusammengesetzt.

Welche?

Der Weihnachtsbaum zum Beispiel ist schon aus der Zeit Martin Luthers bekannt, hatte damals aber eine völlig andere Bedeutung: Er stand nicht in der guten Stube, sondern mitten auf dem Hof, wo alle zusammen feierten: mehrere Generationen und das Gesinde. Es gab aber auch Regionen in Europa, in denen Weihnachten eher so gefeiert wurde wie Karneval oder Silvester heute. Als Fest des ganzen Dorfes.

Was hat sich dann geändert?

Der Baum ist in die Wohnzimmer versetzt worden zusammen mit dem Aufkommen der Idee der bürgerlichen Kleinfamilie. Diese Idee wiederum hängt zusammen mit der Industrialisierung, bei der der Arbeitsplatz vom Wohnort getrennt wurde. Mit dieser Aufspaltung sind dann weitere Trennungen entstanden, Arbeit und Freizeit etwa oder privat und öffentlich. Erst jetzt entwickelte sich das Zuhause zu einem Rückzugsort: Hier schaltete man ab. Weihnachten zelebriert die Idee der Familie als Rückzugsort.

Kann man noch von Weihnachten als christlichem Fest sprechen?

Das kann ich als Kulturwissenschaftlerin nicht beantworten. Ich kann nur sagen, dass es diese Debatte seit dem 19. Jahrhundert gibt. Seit dieser Zeit werden die Kinder beschenkt und es gibt ein großes Essen, all das hat schon damals zu einem erhöhten Konsum geführt und zu der Frage: Hat all das, was wir hier machen, überhaupt noch was mit der eigentlichen Botschaft zu tun? Die Fragestellung ist gar nicht so neu, wie man glauben mag.

Welche Bedeutung hat unsere Art, Weihnachten zu feiern, für das Selbstverständnis von Familien?

Mein Eindruck ist, dass Familien Weihnachten nach wie vor als Anlass benutzten, sich selbst zu feiern und als Familie zu spüren. Wenn sie denn darauf Lust haben, denn dass es Streit geben kann, ist auch seit dem 19. Jahrhundert bekannt. Er gehört seitdem zu Weihnachten wie der Baum und die Gans. Das liegt eben daran, dass Familien nicht immer so harmonisch zusammenleben, wie der bürgerliche Mythos das gerne sehen möchte.

Was bedeutet es, an Weihnachten allein zu sein?

In der bürgerlichen Weihnachtsideologie ist Alleinsein nicht vorgesehen und auch stigmatisiert. Allerdings befreien sich die Leute zunehmend von dieser Ideologie. Sie sagen ganz bewusst: „Weihnachten ist mir zu viel Familienterror“ – und fahren dann beispielsweise in Urlaub. Unsere Gesellschaft ist sehr vielfältig geworden und sehr individuell – und die Menschen feiern Weihnachten zunehmend, wie sie Lust haben.

Hat Weihnachten sich denn in den vergangenen Jahren noch einmal verändert? Kann man den Einfluss anderer Kulturen erkennen?

Man kann sicher einen Trend zur Säkularisierung von Weihnachten feststellen, also den Versuch, Weihnachten stärker als kulturelles denn als religiöses Fest darzustellen. Da gibt es dann zum Beispiel die Haltung, religiöse Symbole im öffentlichen Raum zu vermeiden. Es gibt ja auch viele Personen, die festzustellen glauben, dass Weihnachtsmärkte zunehmend in Wintermärkte umbenannt werden.

Dr. Monique Scheer ist Professorin für Empirische Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Ethnographie kultureller Vielfalt an der Universität Tübingen. Die Fragen stellte Sebastian Stoll (epd)

Quelleepd

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