Als Marina Ruf mehrere Wochen im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos arbeitet, begegnen ihr nicht nur Armut, Leid und Verzweiflung, sondern Jesus selbst.
Ich laufe durch ein großes Tor, hinein in das Camp, welches in den Medien als das berüchtigtste Flüchtlingslager Europas beschrieben wird – das Flüchtlingslager Moria. Das Erste, was ich an diesem Morgen wahrnehme, sind der Lärm, der Gestank und das matte Sonnenlicht, das mir zaghaft auf mein Gesicht scheint. Es ist Dezember und ziemlich kalt hier. Heute ist ein Tag wie gestern. Ein neuer Tag in der Einöde dieses Camps. Bin ich bereit? Vielleicht.
Dann steht Ali vor mir. Ein vielleicht 14-jähriger Junge, den ich fast jeden Tag im Camp treffe. Er lächelt mich an und sagt: „Hallo“. Ich frage ihn, wie es ihm geht. Oft denke ich, dass diese Frage eigentlich überflüssig ist, denn wie soll es ihm schon gehen, eingesperrt in einem Camp, das hoffnungslos überfüllt ist, und ohne die Chance zu entscheiden, was mit ihm geschehen wird. Ich frage ihn trotzdem. Er sagt „Gut!“, so wie fast immer, wenn ich ihn sehe. Er lächelt mich breit an. Ich sehe Jesus in ihm. Wie Jesus allen, die er traf, warmherzig begegnete, mit einem großen Lächeln auf dem Gesicht.
Bei Jesus Tee trinken
Bei einem meiner Jobs muss ich heute den Ausweis einer jungen Familie checken, um zu sehen, ob sie wirklich in dem Zelt wohnen, in dem wir sie registriert haben. Ich klopfe an die Zeltwand und sage „Salam. Hello.“ Die Zelttür wird zur Seite geschoben. Wunderschöne grüne Augen schauen mich an. Auch diese junge Frau lächelt. Die Sonne geht auf. Ich checke kurz den Ausweis, Zainab heißt sie, Jahrgang 1997, nur zwei Jahre älter als ich. Wie unterschiedlich müssen unsere Leben wohl bis hierhin verlaufen sein? Und warum? Was unterscheidet uns? Nichts. Außer das Land, in dem wir geboren wurden, und die Privilegien, die damit einhergehen.
Ich drehe mich um und will wieder gehen, mich der Arbeit widmen, doch Zainab zupft an meinem Ärmel, schaut mich liebevoll an. „Come, my friend“. Sie gibt mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich in ihrem „Zeltzuhause“ willkommen bin. Wenige Quadratmeter, wenige Habseligkeiten, wenig Ausblick auf schnelle Verbesserung dieser Situation – und doch: ein so großes Herz. Sie lädt mich zu sich ein. Zainab hat alles hinter sich gelassen, um in Sicherheit zu leben. Um irgendwo anzukommen und neu anzufangen. Und dort, wo sie dann ankommt, akzeptiert zu werden. Noch sind sie und ihr Mann nicht am Ziel, sondern gestrandet. Ja, gestrandet das sind sie. Ausgegrenzt und eingesperrt zugleich. Und zwar hier, auf Lesbos. In diesem Flüchtlingslager. Sie lebt seit Monaten unter unmenschlichen Bedingungen in einem Zelt. Und doch sehe ich Jesus in ihr. Stelle mir vor, wie er, genau wie Zainab in diesem Moment, immer gastfreundlich war. Menschen hereingebeten hat in sein Leben. Und wie sehr er sich umgekehrt auch heute noch wünscht, von jedem Einzelnen von uns eingeladen zu werden. Eine Zeit lang bleibe ich in Zelt 1226, trinke Tee mit ihr, genieße die Gemeinschaft. Dann muss ich weiter.
Der unbeschwerte, geduldige, großzügige Jesus
Ich biege um eine Ecke, höre ein Schlürfen, dann das Lachen eines Kindes. Vier Jungs spielen zusammen. Drei aus Afghanistan, einer aus der Demokratischen Republik Kongo, so schätze ich. Ein etwa 9-Jähriger läuft vorne und zieht ein Seil, an dem eine Plastikkiste befestigt ist. Zwei der Jungs sitzen in der Kiste und der Vierte läuft nebenher und feuert sie an. Sie lachen aus vollem Hals. Was für ein Wunder Kinder doch sind, denke ich. Sie finden immer einen Weg, Kinder zu sein und Spaß miteinander zu haben. Es kümmert sie nicht, wo ihre Spielkameraden herkamen oder wo sie einmal sein werden. Sie leben in diesem Moment und sie erleben ihn gemeinsam. Sie inspirieren mich. Ich sehe Jesus in ihnen. Jesus, wie er als kleiner Junge unbeschwert mit seinen Geschwistern spielte, wie er später die Kinder zu sich rief und an alle appellierte, so zu werden wie sie.
Ich sehe Jesus in vielen Menschen, denen ich heute begegne. Auch in der Mutter, die sich geduldig um ihr Kind kümmert. Oder in dem Kleinkind, in dessen Augen sich der Schmerz dieses Camps widerspiegelt und das mich doch neugierig anschaut. Oder in dem Mann, der Gemüse verkauft und großzügig extra Tomaten oder Gurken verschenkt.
Deko, Pomp, Konsum
23. Dezember 2019 – Zurück in Deutschland steht Weihnachten vor der Tür. Schon im Flughafen durfte ich eine ganze Weihnachtsshow miterleben. Alles ist aufgeblasen. Viel Geld wird in Dekoration, Essen und Geschenke gesteckt. Ich kann nicht glauben, in was für einem immensen Wohlstand wir in Deutschland leben, und wie oft wir das übersehen. Alle feiern. Doch ich fühle mich nicht nach Weihnachten in Deutschland. Alles in mir will zurück zu den Menschen, die mir in den letzten Wochen so ans Herz gewachsen sind. Zurück an den Ort, der mein Leben verändert hat – Lesbos. Und noch eine Sehnsucht kommt in mir hoch. Wie gerne wäre ich heute bei Jesus. Wie gerne würde ich mit ihm zusammen im Flüchtlingslager Moria Weihnachten feiern. Tief in mir drinnen weiß ich, dass Weihnachten im Camp ein Tag ist wie jeder andere im Jahr auch. Die Menschen sind ausgegrenzt und eingesperrt. Es ist dunkel.
Doch wie würde Weihnachten aussehen, wenn Jesus dabei wäre? Wie würde er feiern? Ich stelle mir vor, wie er an Zeltwände klopft. Er würde mit einem großen Lächeln im Gesicht umhergehen, Kinder umarmen, „Chai“ trinken, Gemeinschaft mit denen genießen, die in den Augen der Welt als Außenseiter gelten. So wie er es damals war. Ein Außenseiter. Jesus kam als solcher auf die Welt, weil die Gesellschaft ihn so nicht akzeptieren wollte, wie er war. Er war anders, besonders. Er war voller Licht. Er kam in unsere Welt, um zu dienen und um zu lieben. Um einzuladen und um zu lachen. Um anzupacken und um loszulassen. Um auszurufen und um einzufangen. Um barmherzig zu sein und um zuzuhören. Um zu leben und um Leben zu geben. Jesus kam und brachte Hoffnung. Mit seiner Geburt fing es an. Deswegen ist Weihnachten heute ein Fest der Hoffnung.
Die Hoffnung Jesu sehen
Wenn ich es mir genau überlege, habe ich Weihnachten jeden Tag im Camp erlebt. Warum? Weil Jesus jeden Tag da war. Da ist. Weil ich einen Teil von Jesus in jedem Menschen reflektiert sah. Weil, wenn ich wegschaute von der Dunkelheit, mich dem Licht zuwendete, ich seine Hoffnung überall sah. Wenn ich mein Herz mitschauen ließ, sah ich Farbspritzer, Hoffnungsfunken und so viele Wunder.
In Matthäus 9,36 steht geschrieben: “Als er (Jesus) die vielen Menschen sah, ergriff ihn tiefes Mitgefühl, denn sie waren hilflos und erschöpft, wie Schafe ohne Hirten.” (NeÜ) Ist dieses Mitgefühl nicht auch ein Wunder? Ist es nicht auch ein wahres Hoffnungszeichen?
Wie wäre es, wenn uns dieses Weihnachten ein so tiefes Mitgefühl packen würde, wie es Jesus damals packte? Wie wäre es, wenn wir Jesus dieses Jahr mit in unser Weihnachtsfest hineinnehmen würden? Wie wäre es, wenn wir von dem ganzen Tamtam der Welt wegschauen würden und uns der Hoffnung und der Liebe zuwenden würden, die nur in Jesus ist?
Wie genau das für jeden Einzelnen von uns aussehen kann, das muss jeder selber herausfinden. Vielleicht fängt es aber mit einer Besinnung darauf an, in wem wir die Hoffnung Jesu sehen.
Ich persönlich werde dieses Weihnachten an die denken, die auch dieses Jahr noch in der Kälte auf Lesbos sind. Die nach einem riesigen Feuer das Wenige verloren haben, was sie hatten, und jetzt in einem neuen Lager ausharren müssen, bis irgendetwas passiert. Sie alle verdienen so viel mehr als das, was sie gerade erleben müssen. Und doch bin ich gewiss, dass Jesus heute, morgen und an Weihnachten bei jedem Einzelnen von ihnen ist. Dass sein Licht in der Dunkelheit hell leuchtet. Für Zainab und Ali und Mohammed und Reza und Violette und Alex und für alle anderen auch. Für dich und für mich. Als Jesus auf die Erde kam, wurde Hoffnung greifbar. Und das ist unbezahlbar.
Diesen Artikel schrieb Marina Ruf für die Zeitschrift Christsein Heute (Ausgabe 12/2020). Christsein Heute ist ein Produkt des SCM Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.