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Kirche bauen in Ostdeutschland – Meint Gott das ernst?

Wenn immer weniger Menschen in die Kirche kommen, muss die Kirche zu den Menschen gehen. So wie Natalie Meyer, die nach anfänglicher Skepsis mit ihrer Familie von Hamburg ins atheistische Leipzig zog, um Kirche zu gründen.

Wir haben viel recherchiert und gebetet. „Kommt ihr mit?“ Unser Schwager André und seine Frau Larissa schauen meinen Mann und mich an. Meine Gedanken überschlagen sich. Leipzig? Ich bin bereit, innerhalb Westdeutschlands umzuziehen, aber doch nicht in die neuen Bundesländer! Was sagt mein Mann dazu? Zu meiner Überraschung sieht Jonathan überhaupt nicht schockiert aus. „Lasst uns mal zusammen hinfahren!“, sagt er und lächelt mich an. Wie kann er das vorschlagen?

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Gottes Ruf

Wir wünschen uns tatsächlich, gemeinsam mit André und Larissa eine missionarisch ausgerichtete Kirche in Deutschland zu gründen. In unserer gut funktionierenden Hamburger Gemeinde haben wir über die Jahre viel gelernt und uns in verschiedenen Arbeitsbereichen eingebracht. Wir könnten es uns dort gemütlich machen. Doch seit einiger Zeit haben wir den Eindruck, dass Gott uns aus unserer Komfortzone herausruft. Dass wir das Evangelium an einen Ort tragen sollen, an dem es weniger bekannt ist als hier und wo es insbesondere kirchenferne Menschen erreicht. Wie könnte dies effektiver geschehen als durch die Gründung einer Gemeinde? Mit diesem Ziel vor Augen studiert André berufsbegleitend Theologie und wir träumen gemeinsam von einer Erweckung, die wir live miterleben. Von den neuen Bundesländern war bisher jedoch nicht die Rede. Wenn ich an Ostdeutschland denke, kommen mir Berichte über PEGIDA-Demonstrationen und Fremdenfeindlichkeit in den Sinn. Obwohl ich weiß, dass dieses Bild wenig differenziert ist, möchte ich dort auf keinen Fall leben! André erklärt uns, warum es gerade Leipzig sein soll: Aufgrund der DDR-Geschichte gebe es in den neuen Bundesländern deutlich mehr Atheisten und viel weniger Gemeinden als in den alten Bundesländern. Wenn wir also insbesondere kirchenferne Leute mit dem Evangelium erreichen wollen, sei der Osten Deutschlands ideal. Seit einigen Jahren ziehen immer mehr Menschen in die aufstrebende Wirtschafts- und Kulturmetropole Leipzig. Zudem hatten André und Larissa bei ihrem Besuch des Leipziger Völkerschlachtdenkmals ein besonderes Erlebnis: Als sie vor dem Wahrzeichen standen und beteten, entdeckten sie plötzlich die kaum lesbare Inschrift „Gott mit uns“. Dies war gewissermaßen ihr persönlicher Ruf Gottes nach Leipzig.

Liebe für Leipzig

Ich hingegen weiß plötzlich nicht mehr, was Gott von mir möchte. Er kann mich doch nicht nach Ostdeutschland rufen, oder? „Herr, wenn du mich und Jonathan wirklich dort haben möchtest, dann schenke mir bitte Liebe für Leipzig!“, bete ich. Meine Zweifel bleiben. Ich fange jedoch an, mich über die Stadt zu informieren, hinterfrage meine Vorbehalte und bete mein Gebet immer wieder. Schließlich fahren Jonathan und ich im Sommer 2017 mit Larissa, André und unseren Kindern nach Leipzig. Zehn Tage lang lernen wir die Stadt und ihre Menschen besser kennen, beten zusammen und allmählich fange auch ich an, von einer Gemeindegründung in Leipzig zu träumen: Wäre es nicht unglaublich, wenn Menschen erstmalig von Gott hören und sich für ein Leben mit ihm entscheiden würden? Wenn wir als Kirche diese Stadt positiv beeinflussen könnten und auch unsere Kinder all das hautnah miterleben würden? Doch für meinen Mann und mich steht fest: Jonathan benötigt einen ausreichend gut bezahlten Job in Leipzig, denn ich möchte vorerst weiter in Elternzeit bleiben.

André sammelt derweil praktische Erfahrungen im „Hamburgprojekt“, einem jungen evangelischen Kirchenprojekt in Hamburg, und beginnt, einen internationalen Spenderkreis für unsere Kirchengründung aufzubauen. Gott lässt unser Team wachsen, denn einige unserer Freunde zeigen plötzlich Interesse am Gründungsprojekt. Daher treffen wir uns ab 2017 regelmäßig als Gruppe, um insbesondere unsere Vision zu besprechen: Begeistert vom Evangelium wagen wir als Kirche: Liebe für Leipzig, Raum für Konversation, echte Gemeinschaft, den nächsten Schritt mit Jesus Christus.

Offizieller Startschuss

Im Frühjahr 2018 verbringen wir mit neun Erwachsenen und fünf Kindern ein Teamwochenende in Leipzig, um uns den Westen der Stadt anzusehen. Dieser wächst unglaublich, aber Gemeinden gibt es dort bisher kaum. Vor Ort beten wir für neue Jobs und Wohnungen und finden diese wenig später tatsächlich. Im Sommer ziehen wir als Startteam um. Kurz darauf werden wir von unserer Muttergemeinde, dem „Hamburgprojekt“, zur Gründung des „Leipzigprojekts“ ausgesandt. Unsere Gemeinde gehört damit offiziell zum Bund der FeG und dem City-to-City-Netzwerk.

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Während unseres ersten Jahres in Leipzig feiern wir ganz bewusst keine öffentlichen Gottesdienste. Stattdessen wollen wir zuerst den Kontext verstehen, in dem wir uns befinden: Wer lebt hier und was beschäftigt die Menschen? Was läuft gut im Leipziger Westen? Welche Probleme gibt es und inwiefern kann das Evangelium hierauf angewandt werden? Daher lernen wir zunächst unser direktes Umfeld kennen, indem wir Kontakte in der Nachbarschaft knüpfen und uns aktiv einbringen.

Wir sind Kirche

Zwischenzeitlich überwältigen mich all die Eindrücke. Eigentlich bin ich sehr dankbar, hier zu sein. Mein Herz schlägt sowohl für dieses Projekt als auch mittlerweile für Leipzig und meistens spüre ich, dass Gott mit uns ist. Zur gleichen Zeit kämpfe ich aber immer wieder mit Heimweh und Schwermut. Ich vermisse die Menschen, die wir zurückgelassen haben, und fühle mich häufig einsam. Das Leben hier fühlt sich so anders an. Viele Leipziger wirken unfreundlich und unzufrieden auf mich. Auch ich bin nun häufig niedergeschlagen.  Dabei gibt es unzählige Gründe, Gott zu danken. Insbesondere in unserer Nachbarschaft tut er viel: Da unsere Gebete um Wohnungen im gleichen Karree erhört wurden, haben Jonathan und ich dieselben Nachbarn wie Larissa und André sowie eine weitere Familie aus dem Team. Wir wohnen gemeinsam in einem der typischen Leipziger Häuserblocks, wo wir gemeinschaftlich den Innenhof nutzen können. Wir erleben unsere Nachbarn als sehr gesellige Menschen und haben uns innerhalb kürzester Zeit mit mehreren Familien angefreundet. Die meisten von ihnen hatten bisher keine Berührungspunkte mit der Kirche und nun kennen sie gleich drei christliche Familien, für die „Kirche“ kein Gebäude ist, sondern etwas ganz Alltägliches.

Wir sind Kirche. In verschiedenen Alltagssituationen können wir immer wieder ganz natürlich mit unseren neuen Freunden über das Evangelium sprechen und all das erfüllt uns mit großer Dankbarkeit.

Erste Wohnzimmergottesdienste

Gleichzeitig wächst unser Team kontinuierlich und wir treffen uns neben wöchentlichen Gebetsabenden auch zu Visionstreffen sowie zum sonntäglichen Wohnzimmergottesdienst. Ende 2018 ersetzen wir diese privaten Wohnzimmergottesdienste vorübergehend durch Gottesdienstbesuche in Leipziger Gemeinden. Hierdurch bekommen wir Einblicke in die bestehende christliche Szene und entwickeln Ideen, wie wir unsere künftigen Gottesdienste gestalten können, damit sie insbesondere Atheisten und Zweifler abholen. Am Ende dieser Phase bin ich sehr erleichtert. Zwar habe ich es prinzipiell genossen, über den eigenen Tellerrand zu schauen, aber gleichzeitig fühlte ich mich ständig fremd. Dies lag insbesondere daran, dass ich weder die jeweiligen Räumlichkeiten noch die Abläufe kannte. Diese Erfahrung teilen auch andere Teammitglieder und somit wollen wir hierauf künftig ein besonderes Augenmerk legen.

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Kunstprojekt „Westsicht“

Im Frühjahr 2019 starten wir unser Kunstprojekt „Westsicht“, um mehr über die westlichen Stadtteile zu erfahren. Dafür gehen wir auf die Straße und fragen 500 Leipziger nach ihrer individuellen Sicht auf „ihren“ Stadtteil. Die Ergebnisse wie Lieblingsorte, Stärken und Schwächen der Stadtteile stellen wir aus und leiten im Anschluss Erkenntnisse für unser weiteres Vorgehen ab: Um mögliche Hemmschwellen abzubauen, sollen unsere Gottesdienste an öffentlichen Orten stattfinden, die die Menschen aus ihrem Alltag kennen. Im Sommer 2019 beginnen wir, öffentliche Testgottesdienste zu feiern. Diese finden monatlich zu unterschiedlichen Uhrzeiten und an verschiedenen Orten wie in Kunstgalerien oder Konzertsälen statt. Mit dem ersten Testgottesdienst gründen wir Kleingruppen, zu denen wir sowohl Christen als auch interessierte Nichtchristen einladen. In allen Veranstaltungen wollen wir transparent sein und eine verständliche Sprache sprechen. Dazu gehört auch, dass wir manches erklären, was für Christen normal ist, aber möglicherweise bei einem Erstbesucher Fragen aufwirft. So drucken wir für jeden Gottesdienst Programmhefte mit dem jeweiligen Ablauf. Wir erklären darin z. B., was ein „Gebet“ ist oder welchen Sinn eine Predigt hat. Wenn wir gemeinsam das Vaterunser beten, ist dieses im Heft zu finden. Für unsere Lobpreiszeiten wählen wir vorrangig evangeliumzentrierte Lieder aus, die man ohne spezielles Bibelwissen verstehen kann. Gleiches gilt für die Predigten.

Kirche neu denken

Nach über zwei Jahren in Leipzig bin ich weiterhin sehr dankbar, Teil dieses Projekts zu sein und Kirche neu denken zu dürfen. Ich habe das Evangelium und regelmäßige Gottesdienste neu schätzen gelernt sowie die Wichtigkeit des Gebets. Zudem wundern wir uns immer wieder darüber, wo all die Gottesdienstbesucher herkommen: Aktuell nehmen rund 80 Erwachsene und 40 Kinder an unseren monatlichen Gottesdiensten teil, von denen viele keine Christen sind. Unzählige Besucher werden mittlerweile von Menschen mitgebracht, die selbst Besucher sind. Häufig bekommen wir als Feedback, dass unsere Gottesdienste einladend und zugleich unaufdringlich gestaltet sind und dass sie sowohl Christen als auch Nichtchristen zum Nachdenken über das Evangelium anregen. Gleichzeitig vermisse ich in unserer jungen Kirche oft ältere, reife Christen, von denen wir als Team lernen können, die tatkräftig mit anpacken und im Hintergrund für uns und unsere Kinder beten. An manchen Tagen fühlt es sich an, als läge eine große Last auf meinen Schultern und denen meines Mannes: Die Leitung einer Kleingruppe sowie die Verantwortung für verschiedene andere Bereiche wiegen schwer. Als dreifache Eltern kommen wir oft an unsere Grenzen. Doch all diese Herausforderungen werfen uns immer wieder auf Jesus zurück und erinnern uns an unsere komplette Abhängigkeit von ihm.

Kirche ohne Gebäude

Auch wenn unsere Kirchengründung viel Einsatz von jedem Teammitglied fordert, lohnt sie sich definitiv. So durfte ich unzählige Male erleben, dass Jesus hier im „Leipzigprojekt“ Menschen verändert, wie zum Beispiel einen ehemaligen Drogenabhängigen aus unserer Nachbarschaft: Zunächst haben wir monatelang für ihn und seine Familie gebetet. Seit mehreren Monaten nimmt er nun regelmäßig an unseren Treffen teil und liest in der Bibel. Auch wenn er bisher erst wenig versteht, beginnt er, nach Gott zu suchen, und auch seine Familie ist mittlerweile Teil unserer Kleingruppe.

All das begeistert mich. Ich finde es unglaublich, dass Jesus kein Kirchengebäude benötigt, um sein Reich zu bauen. Weil er in uns lebt, können wir Gott überall erleben, sogar im Biergarten, wo wir im Sommer drei Gottesdienste feiern durften. Letztlich ist das Evangelium doch genau das: Jesus kommt zu uns. Mitten in unseren Alltag und in unsere Verlorenheit.


Dieser Artikel der Autorin Natalie Meyer erschien vor kurzem in der Zeitschrift Joyce (Ausgabe 01/2021). Joyce ist ein Produkt des SCM Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.

Die Autorin veröffentlichte kürzlich ihr Buch „Wenn das Leben mir Zitronen schenkt“ (Neukirchener Verlag).

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