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Missbrauchsopfer zeigt Täter an – und sorgt damit für weltweites Aufsehen

Rachael Denhollander war die treibende Kraft im aufsehenerregenden Missbrauchsprozess gegen Larry Nassar, den Mannschaftsarzt des US-Turnteams. 16 Jahre nachdem sie von ihm sexuell missbraucht worden war, hatte sie als Erste den Mut, öffentlich gegen ihn auszusagen – dazu hat sie auch ihr Glaube bewegt.

Es ist ein ganz normaler Morgen im Hause Denhollander. Rachael ist mit ihren drei Kleinkindern zu Hause, die beiden Jüngsten – nur dreizehn Monate auseinander – sind quengelig. Um die Küche zu putzen, hat sie sich das zahnende Baby umgeschnallt. Sie will noch schnell einen Einkaufszettel tippen, als ihr Blick auf eine Schlagzeile fällt: Der Dachverband amerikanischer Kunstturner, USA Gymnastics, vertusche Fälle von sexuellem Missbrauch, titelt die Lokalzeitung „Indianapolis Star“.

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Erst kurz zuvor hatten sich Rachael Denhollander und ihr Mann Jacob gegenüber der Leitung ihrer Kirchengemeinde kritisch über den Umgang mit Missbrauch in evangelikalen Kreisen geäußert und sich dadurch innerhalb der Gemeinde isoliert. Als Kind hatte sie selbst Missbrauch im Gemeindekontext erlebt. Noch massiver allerdings als Turnerin. „Ich hatte Recht“, denkt sie. Und: „Wenn es je herauskommen wird, dann kommt es jetzt heraus.“

Weg der Perfektion

Rachael Denhollander wächst in einer christlichen Familie in Kalamazoo, Michigan, auf. Sie ist die älteste von drei Kindern und wird zu Hause unterrichtet. Schon früh hat sie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Dass sie vom Kunstturnen fasziniert ist, ist kein Zufall: „Ich liebte die Kombination aus geistiger und körperlicher Fähigkeit, die der Sport erforderte. Den hohen Grad an Perfektion und die vielen Wiederholungen, die nötig waren, um jede Bewegung makellos und schön auszuführen. Ich staunte über die körperliche Stärke und Gelenkigkeit der Turnerinnen sowie über ihren Fleiß und ihre Entschlossenheit. Es gefiel mir, dass man diesen Sport nicht halbherzig oder nebenbei erlernen konnte. Ich war Perfektionistin und wollte einen Sport, der genau das von mir verlangte“, erinnert sie sich.

Doch ihre Familie hat das Geld für die hohen Gebühren nicht. Mit dem Turnen anfangen kann sie daher erst mit elf, als sie ihr eigenes Geld verdient und dabei hilft, die Turnhalle zu putzen, um so einen Teil der Kosten zu tragen: „Jeden Tag erledigte ich meine Schularbeiten, ging babysitten und dann in die Turnhalle.“ Dass sie mit ihren Proportionen nicht dazu bestimmt war, Profiturnerin zu werden, ist ihr früh bewusst: „Mit meinen fast zwölf Jahren war ich 1,67 Meter groß, schlaksig, mit langem Oberkörper. Ganz und gar nicht wie die winzigen Athletinnen, mit denen ich trainierte, die kompakte Muskeln und einen perfekten Körperbau hatten.“ Trotzdem trainiert sie mit eisernem Willen weiter und wird in die Wettkampfmannschaft ihres Vereins aufgenommen: „Ich nahm nur an Wettbewerben auf Vereinsniveau teil, nur in Michigan. Ich tat es, weil ich es liebte. Gut war ich nicht”, lächelt sie in der Netflix-Dokumentation „Athletin A“.

Missbrauch im Behandlungszimmer

Das intensive Training schlägt sich mit körperlichen Beschwerden nieder: Als 15-jährige Schülerin leidet Rachael unter so starken Handgelenks- und Rückenschmerzen, dass sie eine zweimonatige Zwangspause einlegen muss. Schließlich wird ihr Dr. Larry Nassar empfohlen, der Arzt des olympischen Turnteams, und Fakultätsmitglied an der Michigan State University – die sportmedizinische Koryphäe schlechthin.

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Die Familie ist erstaunt darüber, dass er Rachael als mittelmäßige Turnerin überhaupt als Patientin aufnimmt. Nassar nimmt sich überdurchschnittlich viel Zeit, er wirkt freundlich und engagiert. Doch schon bei der ersten Untersuchung missbraucht er Rachael sexuell – in der Anwesenheit ihrer Mutter. Er stellt sich dabei so geschickt und routiniert an, dass diese nicht sehen kann, was vor sich geht. Dass er, verdeckt unter einem Handtuch, mit seiner Hand auch in Rachael hineinfasst und dort massiert. Die 15-Jährige ist verwirrt – gehört das jetzt zu dieser Behandlungsmethode, die er angesprochen hat? „Larry stand genau zwischen mir und meiner Mutter“, erinnert sich Rachael Denhollander: „‚Mama weiß von dieser inneren Therapie’, dachte ich. Sie würde etwas sagen, wenn es komisch wäre. Ich nahm an, dass sie wusste, was passierte.“ Etwas mehr als ein Jahr lang ist Rachael rund einmal im Monat Patientin bei Larry Nassar. Bei den meisten Terminen wird sie dabei von ihm missbraucht. An einem der letzten Termine massiert er sichtlich erregt ihre Brust. Erst danach kommt bei einem Gespräch mit ihrer Mutter heraus, dass sie keine Ahnung gehabt hatte, was vorgefallen war.

Lebenslanger Schaden

Dass sie Nassar damals nicht angezeigt hat, erklärt Rachael Denhollander rückblickend so: „Mit 15 wusste ich nicht viel. Aber ich wusste, dass Missbrauchsopfer nicht gut behandelt werden.“ Drei Jahre später macht sie doch den Mund auf, als ein siebenjähriges Mädchen, das von ihr trainiert wird, zu Nassar überwiesen werden soll. Um ihren Schützling vor einem ähnlichen Schicksal wie ihrem eigenen zu bewahren, berichtet sie ihrer Cheftrainerin die früheren Vorfälle. „Wir können keine Beweise dafür finden, dass irgendjemand auch nur die geringsten Bedenken über ihn geäußert hat“ – mit dieser Aussage ist der Fall erledigt. Und die angehende Jura-Studentin Rachael zieht für sich den bitteren Schluss: „Es ist eine Sache, etwas zu sagen – gehört und ernst genommen zu werden, eine andere.“

Rachael Denhollander hat nicht nur mit dieser Enttäuschung zu kämpfen. Die Missbrauchserfahrungen überschatten viele Lebensbereiche: Sie hat Albträume, Angst in der Nähe von Männern und davor, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen: „Ich hasste es, dass es mein alltägliches Leben beeinflusste, meine Arbeit und alles, was ich liebte“, schreibt sie in ihrem Buch. In einem Interview mit Christianity Today zieht sie eine noch deutlichere Bilanz: „Der Schaden durch sexuelle Übergriffe ist extrem und lebenslang. Auch wenn wir den Tätern vergeben, bekommen wir diesseits des Himmels keine vollständige Wiederherstellung. Es geschieht nicht – deshalb ist die Hoffnung auf den Himmel so wunderbar. Aber das Leiden hier auf Erden ist sehr real, und es verschwindet nicht einfach, wenn man vergibt und Bitterkeit freisetzt. Diese Frauen – ich eingeschlossen – werden mit den lebenslangen Folgen des sexuellen Übergriffs leben, und der größte Teil davon hätte nie geschehen müssen.“

Streben nach Gerechtigkeit

Auch auf ihren Glauben haben die Erfahrungen große Auswirkungen: „Am Anfang rang ich mit Gottes Perspektive auf den Missbrauch, wo er war, warum er nichts tat und ob ich schuldig oder befleckt war oder nicht. Es war viel Arbeit, an einen Ort zu gelangen, an dem ich auf seine Gerechtigkeit vertrauen und das Böse so nennen konnte, wie es war, denn Gott ist gut und heilig.“ Und doch ist es gerade Rachaels Glaube an Gott, der maßgeblich zu ihrer Entscheidung beiträgt, Larry Nassar anzuzeigen: „Mein Glaube hat bei dieser Entscheidung insofern eine Rolle gespielt, als dass Gott der Gott der Gerechtigkeit ist. Es ist biblisch und richtig, nach Gerechtigkeit zu streben. Ich musste eine Entscheidung treffen und das Richtige tun, egal, was es kostete“, nimmt Rachael Denhollander in Christianity Today Stellung: „Ich hatte das Gefühl, dass ich aufgrund meiner Weltanschauung und der Unterstützung, die ich hatte, in der Lage war, diese Kosten zu tragen, und dass es sich unabhängig vom Ergebnis lohnen würde.“

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Zur Anklage bereit

Am 4. August 2016, das quengelnde Baby im Tragetuch, ist Denhollander bereit: „Jemand musste dazu bereit sein, ein Risiko einzugehen und das Opfer zu bringen. Teil meiner Motivation war es, dass es kein anderer tun müsste.“ Sie schreibt an die Investigativreporter der Zeitung und lässt sich anschließend mit ihrem Klarnamen in ihrem Haus bei ihrer Aussage filmen. Rachael Denhollander hat der Stress zugesetzt und sie hat stark abgenommen. Mit ihren 45 Kilo sieht die 31-Jährige schmal und eingefallen aus, tritt aber reflektiert und entschlossen auf. „Was haben Sie vor? Wollen Sie alles offenlegen?”, fragt der Reporter und Denhollander antwortet: „Ich werde bei der Polizei Anzeige erstatten und hoffe, der Staatsanwalt erhebt Anklage wegen schwerer Sexualverbrechen. Ich weiß, was es bedeutet, wenn die Klage angenommen wird: Ich muss vor Gericht detailliert aussagen in seiner Anwesenheit. Ich hasse diese Vorstellung. Aber wenn ich nicht weitermache, hasse ich das noch mehr.”

Der Anfang von etwas Großem

Zur Anzeige bei der Landespolizeibehörde Michigan erscheint sie mit hunderten Seiten an medizinischen Dokumenten und Beweismitteln. Schon als Teenager hatte sie mit dem Sammeln angefangen. Die akribische Recherche hatte sie nach ihrem Gespräch mit dem Indianapolis Star fortgesetzt: „Wenn ich nicht gerade Windeln wechselte, Geschirr spülte oder meinen Kindern Gute-Nacht-Geschichten erzählte, vertiefte ich mich in Rechtsfälle, Krankenakten, Listen von Kontaktpersonen und medizinische Nachforschungen, die ich katalogisieren musste. Ich war entschlossen, eine möglichst vollständige Fallakte zusammenzustellen.“

Ihre Anzeige löst ein starkes Medienecho aus und Rachaels Hoffnung wird Realität: 155 weitere Betroffene, darunter auch zahlreiche bekannte Turnerinnen und Olympiateilnehmerinnen, erheben ebenfalls Anklage. Doch auch ihre Befürchtungen treten ein: „Es war eine unglaublich finstere Zeit. Alle zerrissen sich das Maul, ich sei eine verbitterte, abgehalfterte Turnerin, die nichts hinkriegt. Ich wolle nur Aufmerksamkeit“, erinnert sie sich. Denhollander hatte dieses Risiko einkalkuliert: „Es ist eine Entscheidung, jegliche Privatsphäre und jeden Fetzen Würde, den man je hatte, aufzugeben. Das tut man nicht, um Aufmerksamkeit oder einen materiellen Nutzen daraus zu ziehen. Es ist sehr schmerzhaft und ein unglaubliches Opfer, diese Erinnerungen immer wieder neu zu erleben, bis der Prozess abgeschlossen ist. Aber es ist es wert. Ich wusste, ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um ihn aufzuhalten.“

Gemeinsame Kraft, gemeinsamer Mut

Larry Nassar wird im Januar 2018 zu insgesamt 175 Jahren Haft wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger und Besitz von Kinderpornografie verurteilt. Auch Rachael Denhollander hatte die Höchststrafe für ihn gefordert – als Zeichen dafür, dass die Opfer und jedes kleine Mädchen alles wert sind. Trotzdem bietet sie Nassar in ihrer 36-minütigen Stellungnahme Vergebung an: „Ich bete dafür, dass Sie das erdrückende Gewicht Ihrer Schuld spüren, damit Sie eines Tages Buße tun und wahre Vergebung von Gott empfangen. Und auch wenn Sie Gottes Vergebung viel dringender benötigen als meine, biete ich Ihnen auch meine an.“

Die Richterin des Falls spricht ihr anschließend das größte Lob aus: „Sie haben die Flutwelle ausgelöst. Sie haben das alles möglich gemacht. Sie haben all diese Stimmen wichtig gemacht. Ihre Schwestern und ich danken Ihnen. Sie sind der mutigste Mensch, den ich je in meinem Gerichtssaal hatte.“ Als Rachael auf ihren Platz zurückkehrt, brandet Applaus für sie auf: „In dem Moment, als ich mich zum Gerichtssaal umwandte, war ich plötzlich überwältigt von dem Geschenk, das uns allen gegeben worden war. Von der Kraft, die wir gemeinsam gefunden hatten. Wir hatten noch viel mehr erreicht, als ich mir je erhofft hatte – und das war jeder einzelnen Stimme zu verdanken, die erhoben worden war.“ Rachael umarmt ihren Mann Jacob, alle Anspannung der letzten Monate fällt sichtlich von ihr ab. „Geschafft“, flüstert sie. „Es ist geschafft.“

Gehorsam kostet

Rachael Denhollander wurde im selben Jahr als eine der 100 Most Influential People des TIME Magazine geehrt und gewann den „Inspiration of the Year“-Preis von Sports Illustrated. Sie ist Mutter von inzwischen vier Kindern, die sie zu Hause unterrichtet. Als Rednerin und Aktivistin bei zahlreichen Universitäten und Konferenzen setzt sie sich für Kinderrechte und gegen systematische Vertuschung von Missbrauch ein: „Gehorsam bedeutet, dass man nach Gerechtigkeit strebt und sich für die Unterdrückten und die Opfer einsetzt. Dass man die Wahrheit sagt über das Übel sexueller Übergriffe und das Übel, sie zu vertuschen. Gehorsam kostet. Es kostet, für die Unterdrückten einzutreten, und das sollte es auch. Wenn wir nicht das Wort ergreifen, wenn es kostet, dann ist uns das nicht wichtig genug.“


Das Porträt über Rachael Denhollander schrieb die freie Autorin Debora Kuder für das Magazin Joyce (Ausgabe 01/2021). Joyce erscheint regelmäßig im SCM Bundes-Verlag, zu dem auch Jesus.de gehört. 

 

 

 

Rachael Denhollander hat ihren Leidensweg und den Kampf für Gerechtigkeit aufgeschrieben. Ihr Buch „Wie ich das Schweigen brach“ ist kürzlich auf Deutsch bei SCM Hänssler erschienen. 

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