Verfolgt von der Stasi, ausgespäht von einem Menschen aus der eigenen Familie. Und das soll ich als Christ vergeben? Pastor Alexander Garth erklärt, warum er dies trotz aller Schwierigkeiten für den einzig richtigen Weg hält.
„Hast du mal Einsicht in deine Stasi-Akten genommen?“, werde ich gefragt. Ich antworte: „Nein, lieber nicht. Ich befürchte, Dinge zu erfahren, die mich belasten.“ Mir ist dabei ein guter Freund vor Augen, ein Querdenker, Freigeist, Künstler und fantasievoller Querulant während der DDR-Diktatur. Seit unserer Kindheit sind wir befreundet. Der „Staatssicherheitsdienst“, die „Stasi“, war hinter ihm her. Man besorgte sich einen Nachschlüssel für seine Wohnung, brach dort heimlich ein, fotografierte den Regelkalender seiner Frau, um die abstinenten Zeiten des Paares herauszufinden. Man wollte in dieser Zeit eine attraktive Frau auf meinen Freund ansetzen, die ihn verführen sollte, mit dem Ziel, seine Ehe und sein Leben zu zerstören. Der Handlanger dieser Aktion war ein nahes Familienmitglied, der später als Stasi-IM („Inoffizieller Mitarbeiter“) enttarnt wurde. Das und viele andere Übeltaten der Staatssicherheit musste mein Freund erfahren, als er sich seine Stasi-Akte durchlas. Ich besuchte ihn kurze Zeit darauf. Und traf auf einen verzweifelten, aufgewühlten Mann, der von finsteren Gedanken der Wut und des Hasses bestimmt war. „Wie kann man nur so ein Schwein sein?“, sagte er immer wieder. „Und das in unserer Familie, wo man einander vertraut!“
„Würde er je wieder vertrauen können?“
Ich machte mir in dieser Zeit große Sorgen um meinen Freund. Würden Hass und Bitterkeit seine Seele zerfressen? Würde er je wieder vertrauen können? Ich sah seine schreckliche Gefangenschaft – wie seine Gedanken unentwegt gezwungen waren, um die Schuld eines anderen Menschen zu kreisen. Was kann uns befreien aus dem Gefängnis unserer Verletzungen, die uns andere Menschen angetan haben?
Als ich meinem Freund zaghaft vorschlug, den Stasi-IM aus seiner Schuld zu entlassen und sich auf einen Prozess der Vergebung einzulassen, erntete ich zunächst nur Spott, dann Wut und Ablehnung. Trotzdem weiß ich keinen anderen Weg zu einer inneren Heilung. Ohne Vergebung bleiben wir seelisch angekettet an die Menschen, die uns geschadet haben. Der Weg zur seelischen Gesundheit und zu der Fähigkeit, zu vertrauen, ohne die wir nicht glücklich leben können, ist der Weg der Vergebung.
„Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg ist steinig und schwer.“ Aber das Ziel ist ein freies, reines Herz. Und eine geheilte Seele. Mein Freund hat nach einiger Zeit begonnen, diesen Weg zu gehen. Und Wegabschnitt für Wegabschnitt wird seine Last leichter, seine Seele freier und sein Blick heiterer. Es ist der christliche Weg. In der Bibel lesen wir, dass Jesus uns auffordert zu beten: „Und vergib uns unsere Schuld – so wie auch wir vergeben den Menschen, die an uns schuldig geworden sind.“
Von Alexander Garth
Alexander Garth ist Pfarrer, Autor und Gründer der Jungen Kirche Berlin.
Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift Lebenslust erschienen, die wie Jesus.de zum SCM Bundes-Verlag gehört.