Out of the Box – Weil wir wunderbar gemacht sind
Die Kolumne von Tom Laengner

Kennst du ihn, deinen unsichtbaren Gorilla?

Tom Laengner übersieht nachts einen hilfsbedürftigen Menschen und kommt ins Nachdenken über seine Wahrnehmung. Was sehen wir und was übersehen wir?

Nachts um drei klingt die Welt anders als um halb sechs. Dann haben die Singvögel ihr Freudenkonzert bereits begonnen. Eilige Berufsmenschen wummern unter Technobeats über den Asphalt zu ihrer Arbeit. Der Tag kann kommen. Dabei ist er sehr selbstbewusst eigentlich schon da. Und das bereits um drei, als neulich Männerstimmen vor meiner Tür tuschelten. Bevor ich mich aus dem Bett zum Fenster gehievt hatte, hörte ich drei Autotüren ins Schloss fallen. Das Gemurmel verstummte und Smartphones leuchteten auf. Mein Blick klebte an dem finsteren Fahrzeug vor meinem Haus. Drei Gestalten fingerten an ihren Handys rum und mümmelten irgendwas in sich hinein. Vermutlich würde ich beim Gang zur Mülltonne sorglos entsorgte Fastfood Verpackungen auf dem Bürgersteig entdecken.

Doch dann nahm die Geschichte eine unerwartete Wende. Ohne viel Tam-Tam rollte ein zweiter Wagen vor. Blaue Lichtlein blinkten und zwei Freunde und Helfer stiegen aus. Und erst jetzt fiel es mir auf. Nur wenige Meter weiter in meiner Blickrichtung lag ein Mann auf dem Boden. Der muss dort schon die ganze Weil gelegen haben. Ich hätte ihn also leicht sehen können. Die Jungs in dem schwarzen Wagen hatten ihn wohl im Vorbeifahren entdeckt. Folgerichtig hatten sie dann um Unterstützung gerufen. Und bis jetzt hatten sie lediglich geduldig gewartet.

Welch ein Trottel kann ich sein! Während ich einen Grund für Ärger vorhergesehen hatte, war mir das Wichtigste entgangen. Der hilflose Mann war mir verborgen geblieben. Das mit einem Male doch Offensichtliche hatte ich nicht wahrgenommen.

Der Gorilla-Test

Verrückt, nicht wahr? Christopher Chabris und Daniel Simmons haben es so ausgedrückt. In ihrem Buch ‚Der unsichtbare Gorilla‘ schreiben die beiden US-Psychologen: „Unser Verstand funktioniert nicht so, wie wir glauben, dass er funktioniert. Wir glauben, wir sehen uns selbst und die Welt so, wie sie wirklich sind, aber wir übersehen dabei eine ganze Menge“.

Bei dem Gorilla-Test, der dem Buch zugrunde lag, sollten Basketballpässe gezählt werden. Die Aufgabe erschien überschaubar: „Zähle die Pässe des Teams mit den weißen Trikots!“ Und siehe da: ich hatte es geschafft. Bevor ich jedoch auf mich stolz werden konnte, wurde ich gefragt, ob ich auch den Gorilla gesehen hätte? Hatte ich nicht. Erst beim zweiten Durchlauf sah ich ihn. ‚Au Backe‘, fand ich, ‚wie hast du das übersehen können!‘

Ich habe mich dann mal auf die Suche nach weiteren unsichtbaren Gorillas gemacht. Da ist uns Menschen doch auf einmal die Nachhaltigkeit sehr wichtig geworden. Mich erinnert das ein bisschen an früher, wenn Tante Bertha nichts weggeschmissen hat: “Kind, dat kannse nochmal gebrauchen. Datt hält noch !“ Da wurden Socken gestopft und Flicken auf die Hosen genäht. Die Tante hatte von Nachhaltigkeit keine Ahnung. Aber sie hat sie doch gelebt. Heute sind wir technisch weiter. Die Socken kann ich nicht mehr stopfen. Sie wirken nach kurzer Zeit wie viel zu früh verstorben. Ist das nicht seltsam? Mit Mikrorobotern kann ich Tumoren an der Leber den Garaus machen. Aber wir produzieren kaum Bio-Socken, die es drauf haben, nachhaltig Füße warmzuhalten. Wir Menschen entwickeln Maschinen für erste Reisen zum Mars. Zeug, was durchhält, muss es sein! Mit einer Extraportion an Ingenieurwissen. Gleichzeitig halten unsere Smartphones vielleicht drei Jahre durch. Danach sind sie durch. Meine Eltern hatten zwar von Nachhaltigkeit keinen Plan, aber ein Telefon in olivgrün. Es hielt ihr ganzes Leben lang.

Die Bibel und der Glaube an Gott als nicht-sichtbarer „Gorilla“

Mich beschleicht das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Eines Tages lief ich dem unsichtbaren Bibel-Gorilla über den Weg. Viele Menschen, die ich kenne, haben in die Bibel nicht einmal hineingerochen. Aber sie verfügen vermeintlich über ein umfangreiches Wissen. Dieses wurde ihnen zum Beispiel durch die Kirche vermittelt. Das ist für sie eine Organisation, deren professionelle Vertretungen durch Machtgeilheit, Langeweile und andere Scheußlichkeiten bestechen. Meine Erfahrungen sind auch durchwachsen, wenn auch nicht durchgängig vernichtend. Doch frage ich mich: Wenn diese Leute wirklich voller Falschheit und Durchtriebenheit sind, warum glaube ich ihnen dann, was ihre Interpretation der Bibel angeht? Warum lasse ich wegen solcher zwielichtigen Typen zu, ein Buch nicht zu lesen? Würde ich denen auch folgen, wenn sie sagen, dass Pizza essen dumm macht oder Bergwandern impotent?

Oder nehmen wir die Zehn Gebote. Vor vielen Jahren hielt ich sie für die Ausgeburt menschlicher Unterdrückung. Dann sah ich den Gorilla und merkte, dass Gott mit dem Gebot der Heiligung eines Tages der Woche seinen Leuten einen freien Tag verschaffte. Davon konnten die Gewerkschaften des zwanzigsten Jahrhunderts sich inspirieren lassen. Dieser Gott will auch keine anderen Vertreter seiner Zunft neben sich. Wie im Fußball, dachte ich, da akzeptierst du deine Aufstellung oder du suchst einen anderen Verein. Steht dir ja frei.

Inzwischen ist es halb fünf am Nachmittag und meine Welt klingt nach Anne Terzibaschitsch. Eines ihrer Stücke spielt meine Frau einfühlsam auf dem Klavier. Das wirkt beruhigend auf mich. Es ist kein Gorilla in Sicht und da kann ich mir eine Tasse Kaffee gönnen.

Out of the box - weil wir wunderbar gemacht sind

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Tom Laengner

Tom Laengner ist ein Kind des Ruhrgebiets. Nach 20 Jahren im Schuldienst arbeitet er journalistisch freiberuflich und bereist gerne afrikanische Länder. Darüber hinaus arbeitet er als Sprecher für Lebensfragen und Globales Lernen.

In seiner Kolumne „Out of the Box – Weil wir wunderbar gemacht sind" schreibt er alle 14 Tage über Lebensfragen, die ihn bewegen.

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3 Kommentare

  1. Ich denke…..es geht uns gut hier in Deutschland!
    Vielleicht sogar zu gut!

    Die Menschen rücken zusammen bei Naturkatastrophen….da ist es egal….da schauen Alle hin und jeder will helfen!

    In der Corona Zeit gab es so viel Nachbarschaftshilfe, Anrufe, Briefe….mal ein nettes Wort.
    Viele Menschen hatten Angst, die Meisten und wir Alle waren Recht einsam!
    Da wird hingeschaut und geholfen!

    Wie ist es jetzt???

    Ich denke die meisten haben Angst vor Ärger, sich „einzumischen“…Angst vor Ablehnung.
    Zu seinem Glauben zu stehen kann ja auch schwer sein….

    Oft sehen wir die Menschen nicht, die leiden.
    Sicher ist es auch schwer für „Einige „Obdachlose zu umarmen!
    Depressionen von Freunden auszuhalten.
    Trauer oder Leid….Wut und Zorn….

    Manches mal ist es die Angst vor der Angst und man sieht vielleicht nicht hin?

    Wir hatten leider „draußen“ in einem Fenster vor dem Keller(das ist so vor unseren Kellern hier eine Belüftung ….ist schwer zu beschreiben..da ist ein Gitter vor und ein kleines Fenster in einer Grube sozusagen) unseres Miethauses eine tote Katze….

    Niemanden ist das aufgefallen…hier sind oft laut schreiende rollige Katzen draußen….erst ein fast nicht zu ertragen der Geruch machte uns darauf aufmerksam, dass -da irgendetwas ist.
    (wir dachten eine tote Ratte oder so…)
    Es war eine Katze…leider🥲
    Wir haben Alle hier Katzen schreien hören….ich war auch traurig, denn ich bin nicht schauen gegangen…sondern dachte es wäre eben eine rollige Katze…

    Vielleicht hätte ich das vermeiden können, wer weiß….die Katze ist da nicht raus gekommen…mit Hilfe wäre das gegangen.

    Wir als Mieter sind sehr traurig!!!
    Von daher, das hat auch nichts mit „Christ“ sein zu tun….wir Alle, ob Christ oder nicht müssen hinhören und schauen….

    Ganz liebe Grüße
    Meike
    Hier sind viele Freilaufende Katzen.

  2. Weil verantwortlich bin und nicht viele andere

    Unser Verstand funktioniert nicht so, wie wir glauben, dass er funktioniert. Wir glauben, wir sehen uns selbst und die Welt so, wie sie wirklich sind, aber wir übersehen dabei eine ganze Menge“. Tom Laengner bringt damit sehr gut auf den Punkt, dass die alte Geschichte vom Barmherzigen Samariter heute geschieht. Dabei sehen die vorbeieilenden Berufsreligiösen, die keine Zeit haben zu helfen, nicht immer das was wirklich vorliegt. Wir alle haben unsere Brille, wie wir zumindest momentan die Welt wahrnehmen. Da erinnere ich mich daran, wie ich kürzlich in einer Straße Geräusche hörte , die klangen wie Schreie eines Kindes (ich dachte, das kann auch eine Katze sein). Oder manche könnten denken, entweder ist es völlig harmlos, oder aber es sind ja doch viele andere Leute, die es auch hören. So kommt leider dann, dass wir bisweilen Zeitgenossen sind, die an sehr schweren Unfällen vorbeifahren, nicht alleine, sondern in Kolonne: Es sind ja genug da die helfen – und Gaffer will niemand sein. Ergo: Auch der Samariter ist nicht ausschließlich Großkritik nur an Scheinheiligkeit, sondern sich nicht selbst als verantwortlich zu fühlen und nicht die vielen anderen Menschen neben uns.

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