Out of the Box – Weil wir wunderbar gemacht sind
Die Kolumne von Tom Laengner

Was tun, wenn ein Scheinriese anklopft?

Die Furcht vor Entscheidungen kann lähmen. Auch Tom Laengner hat diese Erfahrung gemacht – und seine Familie damit jahrelang gestresst. Die erlösende Erkenntnis: Scheitern ist erlaubt.

Ein Segafredo bleibt selbst in einer Raststätte an der A1 ein Segafredo. Genussvoll schlürfend stoppt mein Blick an einem Mann mit Dockermütze. Ein Greifautomat hatte es ihm angetan. Und nun versucht er hartnäckig, Stofftiere aus ihrer trostlosen Gefangenschaft zu befreien. Mich machen solche Beobachtungen immer etwas wehmütig. Denn das Eine verstehe ich nicht: Wieso wählt ein erwachsener Mann eine möglichst hoffnungslose Strategie, um ein Geschenk für ein Kind zu finden. Nun, wer wenig Hoffnung hat, wählt hoffnungslose Wege. So könnte es sein.

Meine Augen auf die hilflosen Versuche gerichtet, denke ich an Scheinriesen. Sie neigen dazu, Alltagsprobleme zu aberwitziger Dimensionen aufzublasen. Meine menschlichen Fähigkeiten schrumpfen dabei auf Rosinengröße. Ich erscheine stets zu unbedeutend; die Anforderung immer übermächtig.

Zu nichts zu gebrauchen

Herr Scheinriese klopfte eine Zeitlang an meine Behausung in Frankfurt. Wortlos überredete er mich zu einer Karriere als Meistergähner. Immer wenn alltägliche Entscheidungen anstanden, glühte diese ‚Fähigkeit‘ auf. Wollten wir als Familie Pizza essen oder im Zoo Flamingos streicheln? Sollten wir mit Kriegelmanns picknicken oder mit Oma Hebermehl lieber nicht? Alter Schwede! Wer weiß denn sowas! Fragen auf diesem Niveau zogen mir regelmäßig den Stecker. Mein Kiefer klinkte aus, als hätte ich mein Leben lang nicht geschlafen. So kam ich zu Ruhm und Ehre als erledigster Mann der Nachbarschaft, die Kasernen der US-Streitkräfte eingeschlossen. Meine Familie zeigte sich erst mitleidig, dann ratlos, und zuletzt genervt. Ein echter Mann, der gelegentlich zu nichts zu gebrauchen war!

Doch lag all das tatsächlich in meiner Verantwortung? War die Müdigkeit nicht wie eine Naturgewalt? Gleichzeitig konnte das nicht ewig so weitergehen. Mir ging es in mir selbst nicht gut. Oft fühlte ich mich wie ein schales Bier. Doch zum Glück nahm die Geschichte eine Wendung.

„Vor Entscheidungen hatte ich Schiss“

Diese Attacken gingen nicht auf Herrn Tur Tur, den Scheinriesen aus der Augsburger Puppenkiste, zurück. Meine Frau und ich hatten das schon geahnt. Im Kern ging es um eine Furcht: Vor Entscheidungen und den möglichen Folgen hatte ich Schiss. Denn was wäre, wenn die von mir überlegte Aktivität keine Jubelschreie hervorriefen? Heute bringt mich die Erinnerung zum Grinsen. Damals fürchtete ich meinen Gesichtsverlust.

Schritt für Schritt ließ ich später aus dem Scheinriesen die Luft ab. Dinge dürfen schiefgehen. Andere zu enttäuschen konnte vorkommen, ohne dass meine oder deren Welt unterging. Damals erlebte ich, dass die Worte von Jesus sehr lebenspraktisch waren. Er sagte „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Ich finde das weder fromm noch religiös. Jesus macht einfach Ernst.

In meinem Falle ging es darum, die Wahrheit über meine Alltagswirklichkeit zu erkennen. Mein Entscheidungsberg schrumpfte dadurch wie ein Schneemann in der Julisonne. Ich konnte sie jetzt meistern. Das war nicht nur für mich persönlich sehr erleichternd! Meine Familie war schließlich von meiner Befindlichkeit ebenso betroffen. Also: Ich hatte die Angst, meine Familie den Ärger. Deshalb: keine Macht dem Scheinriesen!

Schluss mit Rechtfertigungen

Bernard Roth brachten ständige Rechtfertigungen und die guten Gründe irgendwann um den vorletzten Nerv. Als Professor der Stanford University schrieb er schließlich ‚The Achievement Habit‘: „Gründe sind oft nur Ausreden. Wir nutzen Sie, um unsere Mängel nicht sehen zu müssen. Wenn wir aber aufhören, uns zu rechtfertigen, haben wir eine Chance, ein realistisches Selbstbild zu gewinnen — und unser Verhalten zu ändern“.

Habe ich mir gemerkt. Jetzt bin ich wohl etwas leidlicher für Andere. Juchhu!

Doch Potzblitz! Während ich noch auf einem kargen Krankenhausgang schreibe, gähne ich wie zu meinen Glanzzeiten. Was soll das, denke ich? Dann klingt in mir der Uhrschlag der St. Marienkirche. Ich atme auf und schlafe kurz später in Gedanken an funkelnde Automaten in Times-Square-Neon ein.

Out of the box - weil wir wunderbar gemacht sind

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Tom Laengner

Tom Laengner ist ein Kind des Ruhrgebiets. Nach 20 Jahren im Schuldienst arbeitet er journalistisch freiberuflich und bereist gerne afrikanische Länder. Darüber hinaus arbeitet er als Sprecher für Lebensfragen und Globales Lernen.

In seiner Kolumne „Out of the Box – Weil wir wunderbar gemacht sind" schreibt er alle 14 Tage über Lebensfragen, die ihn bewegen.

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4 Kommentare

  1. Ich persönlich mag es gerne harmonisch. Ich habe im Laufe der Zeit jedoch gelernt, dass auch mal deutlich und nicht sehr höflich seine Meinung zu sagen, durchaus etwas Positives haben kann. Leute flippen deswegen nicht gleich aus und wer dies macht, bekommt oft ein wesentlich besseres Ergebnis. Daran erinnert mich das.

    • Toleranz ist wichtig

      Liebe Anja WOH: Ich halte es für eine erforderliche und gute Gabe, einmal deutliche die Meinung zu sagen. Allerdings würde ich dies in der Sache eindeutig und konkret versuchen, in der Form aber freundlich. Der Grat ist schmal, oft wie der Ritt auf einer Rasierklinge, nicht Menschen zu kränken. Ich kenne zu viele Leute, die im Internet mit wohlweislicher Meinung , vorgetragen wie von einem Bulldozer, regelrecht krank werden (Kränkung ist eine Art seelischer Verletzung). Mein Eigengebot ist: Fordere andere heraus im Diskurs konkret zu werden, dann kann ich auch meine andere Meinung dagegen setzen und es bleibt sachlich. Aber: Ich muss auch davon überzeugt sein, dass ich mich jederzeit irren kann. Das schlimme: Man merkt es meist selbst zu spät. Toleranz ist kein Weichmacher meiner Überzeugung, sondern die Einsicht, dass jeder auch etwas anderes glauben, denken und fühlen darf als ich. Der andere ist auch dem Wortsinn nach a n d e r s. Sonst wäre auch das Leben sehr langweilig.

      • Ich meinte damit jetzt eigentlich nicht mich selbst. Ich selbst bin sehr höflich. Aber teilweise staunt man schon, was andere so sagen. Es stimmt wahrscheinlich, das viele von einem solchen Verhalten evtl. verletzt werden. Wie gesagt, ich selber bin sehr höflich (was man von manchen Menschen in meiner Umgebung nicht sagen kann).

  2. Aufgeschobenes schafft Scheinriesen und sogar Riesen

    „Meine Augen auf die hilflosen Versuche gerichtet, denke ich an Scheinriesen. Sie neigen dazu, Alltagsprobleme zu aberwitziger Dimensionen aufzublasen. Meine menschlichen Fähigkeiten schrumpfen dabei auf Rosinengröße. Ich erscheine stets zu unbedeutend; die Anforderung immer übermächtig“! (Zitat von Tom Laengner ist hier zuende) Psychologisch ist bekannt: Kleine Probleme, marginale Sorgen, Unbereinigtes und dazu viele Leichen im Keller des Lebens können sich bald zu einem Himalalya in uns aufwachsen. Schade nur, dass die Evangelische Kirche vor mehr als hundert Jahren die Beichte aus ihrem Programm gestrichen hat. Da sind am Ende die Problemberge zu beseitigen oft nur Psychologenhandwerk.

    Nunja, ich würde nicht unbedingt „Scheinriesen“ in mir kultivieren. Eher würde ich an mir arbeiten wollen, Entscheidungen mutig zu treffen – also innerlich und äußerlich (dann im zweiten anderen gegenüber) – zu festen Entschlüssen zu kommen: Mit einem ja oder nein. Auch als Rentner hat man ja nicht selten viele Termine, die durchaus wichtig sind, die nicht nur zu immer mehr Ärzten führen. Das Unerledigte lässt sich sehr gut durch eine Liste (sortiert nach Dringlichkeit, Wichtigkeit, weniger wichtig und Papierkorb), priorisieren. Denn auch dies gibt es: Nämlich alles andere zu tun, aber damit eine Entscheidungen oder eine unschöne sogar unangenehme Erledigung, nun geschickt vollends auf einen St. Nimmerleins-Tag zu verschieben. Denn ständiges Hinausschieben ist keine sehr gute Strategie und produziert auch kein gutes Ruhekissen. Manchmal wird auch Verdrängte, alles Unerledigte, die alten und unbearbeiteten Konflikte, zu wirklichen (Schein-)Riesen: Wie ein Luftballon, der immer mehr ins gefühlte Gigantische aufgeblasen wird und dann irgendwann explodiert. Aber hat man eine sogar lautstarke Auseinandersetzung, kann dies auch das ersehnte reinigende Gewitter sein. Die ironische Bürokratenregellautet: „Erledigt sich durch langes Liegen von selbst“, ist dabei völlig falsch.

    Also lieber einmal ein Wagnis eingehen, denn ob das was man tut gut ist oder nicht, kann sich manchmal auch erst am Ende herausstellen. Dies aber darf ich dann unter „Erfahrungen“ abspeichern. Dabei ist das Leben eben das Leben, mit Überraschungen und dadurch ein wenig auch ein Abenteuer. Wer – hier bildlich gemeint – auf einer einsamen Insel herumsitzt – und nur ausruht, nicht mehr interagiert, sich keine ernsthaften Gedanken macht (und er möge es verzeihen „den lieben Gott einen guten Mann sein lässt“) – was auch der Dauersitz vor dem Fernseher sein kann, der wird auch nicht mehr richtig leben. Vor allem das Leben mit Gott und in der Nachfolge des Menschensohnes ist spannend und kreativ. Denn wenn wir in unserer Kirche oder beim Gottesdienst einschlafen, ist nicht nur die Kirche schuld, sondern diejenigen die verantwortlich zeichnen – und dies sind wir alle. Und sagte nicht Jesus (auch bezüglich kleiner Entscheidungen): Euer Wort sei ja ja – und nein nein. Wie richtig und modern.

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