Gott verordnet im Alten Testament regelmäßige Ruhe für Mensch und Natur. Halten wir uns nicht daran, dann fällt uns das auf die Füße, sagt der Theologe Ulrich Wendel.
Es war in den ersten Jahren meiner Arbeit als Pastor, Ende der Neunzigerjahre. Der Einzelhandel in Lüneburg hatte einen verkaufsoffenen Sonntag angesetzt, erstmals außerhalb der Adventszeit. Ich stutzte. Musste das sein? Ein Ruhetag wird geopfert, um einkaufen zu können?
Mit mehreren Pfarrern verschiedener Richtungen diskutierten wir darüber … und irgendwann wunderte ich mich nur noch: Kaum einer von ihnen fand Zugang zu meinen Anfragen. Unsere Kundgebung auf dem Marktplatz führten wir dann als Freikirchen unter Beteiligung der Gewerkschaft durch.
Was hat die Bibel zum Sonntag zu sagen?
Wirklich seltsam. Hat die Bibel denn nicht sehr viel zum Ruhetag zu sagen? Über seine sozialen Auswirkungen? Was es mit denen macht, die immer arbeiten müssen, wenn ihnen der Sabbat vorenthalten wird? Sagt das Alte Testament nicht, dass auch die Sklaven, die Abhängigen, in den Genuss der Ruhe kommen sollen?
Gerade dieser erste Teil der Bibel, den wir schnell mit einer Gesetzessammlung verwechseln, hat hier ein großes Potenzial. Er zeigt uns ökologische Zusammenhänge, die uns heute ganz neu aufdämmern.
Alle sind zur Pause verpflichtet
Wer in der Bibel gräbt, stößt an verschiedenen Stellen auf einen dreifachen Siebener-Rhythmus. Da gibt es zunächst die Siebentagewoche, die in den Ruhetag mündet.
Er ist die Gelegenheit und die Verpflichtung, Pause zu machen – und zwar umfassend: „An diesem Tag darf kein Angehöriger deines Hauses irgendeine Arbeit verrichten. Das gilt für dich, deine Söhne und Töchter, deine Sklaven und Sklavinnen, deinen Ochsen, deinen Esel und dein übriges Vieh sowie für alle Fremden, die bei dir wohnen. Alle deine Sklaven und Sklavinnen sollen ausruhen, so wie auch du ausruhst“ (5. Mose 5,14).
Gott verordnet alle sieben Jahre eine Komplettpause
Das heißt: Wer Macht und Geld hat, kann sich nicht auf der Arbeitsleistung anderer ausruhen. Das Sabbatgebot ist mit sozialer Balance verbunden. Das geht Hand in Hand mit der Ausrichtung auf Gott. Ihm ist der Sabbat gewidmet („ein Ruhetag für den Herrn“, wie es in derselben Bibelstelle heißt). Aber eben nicht auf Kosten der Abhängigen.
Alle sieben Jahre ist eine Komplettpause verordnet.
Daneben steht die Reihe der Sabbatjahre (3. Mose 25,1-7). Alle sieben Jahre ist eine Komplettpause verordnet. Die Felder sollten brach liegen; ernten durfte man nur, was von selbst wuchs. Außerdem war es in diesem Jahr verboten, von Volksgenossen Schulden einzutreiben (5. Mose 15). Klar – wenn die keine Ernteerträge hatten, wovon sollten sie dann ihre Schulden bezahlen?
Natur erholt sich durch einjährige Brache
Im Sabbatjahr verbinden sich ein naturökologischer und ein sozialökologischer Aspekt. Gerade der Naturaspekt gewinnt heute immer mehr an Aktualität. Die Artenvielfalt verschwindet in bedrohlichem Maße. Um Biodiversität zu schützen, arbeitet man unter anderem mit Brachflächen.
Einjährige Brachen sind dabei zwar nicht so effektiv, aber auch sie sind schon nützlich für Feldlerchen, Rebhühner und kleine Säugetiere. Außerdem bieten Ackerwildkräuter, die aufkeimen können, Nektar und Pollen für Insekten – so lese ich es in einer Fachempfehlung des sächsischen Landesamtes für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie. Die befohlene einjährige Brache in der Gesetzgebung des Alten Israel scheint also auch ökologisch gut begründbar zu sein, heute mehr denn je.
Alle Jubeljahre wieder
Die dritte Siebenerreihe führt im Nebeneffekt sogar zu einer mehrjährigen Brache. Nach jedem siebten Sabbatjahr soll ein weiteres Brachjahr folgen – das sogenannte Erlassjahr, auf hebräisch „Jobeljahr“ (richtig, daher kommt unsere Redensart „alle Jubeljahre“, siehe 3. Mose 25,8-55). Diese Bestimmung hat ebenfalls einen natur- und einen sozialökologischen Aspekt.
Natur: Auch hier soll man nur ernten, was von allein nachwächst. Und gesellschaftlich: Jeder Grundbesitz, der in den letzten Jahren hin- und herverkauft wurde, muss spätestens nach 50 Jahren an den ursprünglichen Eigentümer zurückfallen.
Der Zähler wurde quasi wieder auf Null gesetzt – eine göttlich verordnete Reset-Taste.
Ungleiche Besitzverteilung zieht sich also nicht durch die Generationen hindurch. Und wer sich aus materieller Not als Schuldsklave hatte verkaufen müssen, sollte im Erlassjahr wieder freigelassen werden. Der Zähler wurde quasi wieder auf Null gesetzt – eine göttlich verordnete Reset-Taste. Das soziale Gefüge kommt wieder in Balance. Was für eine Gesellschaftsvision!
Es gibt kaum Hinweise darauf, dass das Erlassjahr im alten Israel regelmäßig praktiziert wurde. Aber darf man es deshalb als Utopie abtun? Wenn diese Vorschrift in der Gesetzgebung der Heiligen Schrift verankert ist, dann sagt das doch viel darüber aus, was Gott eigentlich will.
Wie überleben ohne Arbeit?
Natürlich erscheint uns so eine Sabbat- und Erlassjahrvorschrift als ein wenig realitätsfern. Wie soll das zugehen, dass man wirtschaftlich überlebt, wenn man nicht richtig wirtschaften darf? Die Frage stellt sich schon in der Bibel selbst.
„Aber vielleicht fragt ihr euch ja: ‚Was sollen wir im siebten Jahr essen, wenn wir nichts säen und keine Ernte einbringen dürfen?‘ Dann sollt ihr wissen: Im sechsten Jahr werde ich das Land euretwegen segnen, sodass der Ertrag, den es abwirft, euch für drei Jahre ausreicht. Wenn ihr dann im achten Jahr die neue Saat aussät, werdet ihr noch immer von den Erträgen des sechsten Jahres zehren. Ja, ihr werdet euch so lange davon ernähren, bis die neue Ernte im neunten Jahr eingebracht wird“ (3. Mose 25,20-21). Sagt Gott – der also die ökonomischen Sorgen selbst zur Sprache bringt.
Enthalten die biblischen Gebote einen Sinn und traue ich ihnen zu, dass es weiser ist, ihnen zu folgen?
Kann man darauf sein Planen abstellen? Nur auf so ein Bibelwort? Letzten Endes geht es um die Vertrauensfrage. Enthalten die biblischen Gebote einen Sinn und traue ich ihnen zu, dass es weiser ist, ihnen zu folgen? Auch wenn es einen Umsatz- und Konsumrückgang bedeuten würde?
Die Bibel enthält eine wunderbare Erzählung, die die Sache mit dem Vertrauen aufgreift (2. Mose 16). Schon bevor Israel die oben beschriebenen Gesetze bekam, war das Volk mit Gott unterwegs. Vierzig Jahre lang ging es durch die Wüste.
Gott hält seine Versprechen
Gott hatte versprochen, sie dort zu ernähren – unter anderem mit dem rätselhaften Manna, das vom Himmel fiel (ergänzt um abendlich einfliegende Wachteln – rein vegetarisch war die Ernährung damals also nicht …). Es wird berichtet, dass diese Lieferungen auch zuverlässig eintrafen.
Sofort meldete sich der menschliche Hang zur Vorratshaltung: Einige hoben den Ertrag des Tages über Nacht auf, um am nächsten Tag mehr zu haben. Aber das funktionierte nicht, die Speise war verdorben.
Menschlicher Hang zum Mehr ist fehl am Platz
Nur am sechsten Tag durfte man die doppelte Menge sammeln und am Folgetag – dem Sabbat – verbrauchen. Und siehe da: Am Sabbat war der Vorrat genießbar. Wundert es uns, dass trotzdem einige am Sabbat Manna sammeln wollten? Man weiß ja nie, sicher ist sicher … Aber am siebten Tag war nichts zu finden – und Gott wies das Volk verärgert zurecht.
Fazit: Es gibt Vorsorge-Versuche und Ertragssteigerungen, die nichts bringen. Wenn Gott eine Versorgungs-Ökologie erfindet, dann ist der menschliche Hang zum Mehr fehl am Platz. Und das soll man glauben? Eben – es stellt sich die Vertrauensfrage!
Die Natur trägt die Folgen unserer Grundentscheidungen – und irgendwann fällt uns das auf die Füße.
Gottes Ökologie hat die Natur, vor allem aber auch das Miteinander in der Gesellschaft im Blick. Das ist bisher schon deutlich geworden. Da ist aber noch eine Tiefendimension. Es gibt Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Entscheidungen, geistlichen Grundhaltungen und naturökologischen Folgen.
Das klingt wie ein sehr moderner Gedanke: Die Natur trägt die Folgen unserer Grundentscheidungen – und irgendwann fällt uns das auf die Füße. Doch wieder ist es das Alte Testament, in dem solche Verflechtungen ablesbar sind.
Warum wurde das Volk Israel nach Babylon verschleppt?
Die große Katastrophe in der alttestamentlichen Geschichte Israels ist die Eroberung des Landes durch die Babylonier. Jerusalem wurde zerstört, weite Teile der Bevölkerung wurden verschleppt, zuletzt auch aus dem einfachen, armen Volk. Deshalb lag das Land mehrere Jahrzehnte lang unbebaut und öde.
Wie es zu dieser Katastrophe kam? Die Propheten hatten eine klare Antwort: Weil Gottes Volk nicht mehr nur auf seinen Gott vertraute, sondern seinen Glauben auf alle möglichen Götter verteilte. Die Eroberung Israels war demnach ein dramatischer Aufruf zur Besinnung.
Die Natur holt sich zurück, was ihr gehört.
Doch an einer Stelle der biblischen Geschichtsschreibung kommt eine weitere Erklärung hinzu. Es gibt noch eine Sinn-Dimension: Dem Land sollten seine Sabbate ersetzt werden. Deshalb lag es siebzig Jahre lang brach (2. Chronik 36,21). Hier klingt die Vorstellung an, dass man jahrhundertelang die Sabbatjahre nicht beachtet hatte. Und nun bekam das Land, was ihm allzu lange vorenthalten worden war.
Wenn wir irgendwo eine Bauruine sehen, die von Gras und Moos bewachsen ist und in der vielleicht sogar schon Bäume wachsen, sagen wir gern: Die Natur holt sich zurück, was ihr gehört. In der Geschichte Israels sieht es so aus, als hätte sich das Land zurückgeholt, was ihm zustand.
Sabbat- und Erlassjahre gehören zu Gottes Geboten
Was der biblische Geschichtsschreiber diagnostiziert, hat seine Wurzel im 3. Buch Mose. Hier wurde genau dies angekündigt: dass das Land erobert und brachliegen werde, dass es seine Sabbate ersetzt bekommen werde, wenn Gottes Volk die Gebote nicht beachtet (3. Mose 26,34).
Die Gebote? Sie scheinen zuerst geistlich, „religiös“, bestimmt zu sein. Ungehorsam heißt oft Götzenverehrung. Aber zu Gottes Geboten gehört eben auch die Anordnung der Sabbat- und Erlassjahre – und die stehen genau ein Kapitel vor der Ankündigung, dass das Land sich seine Sabbate zurückholen werde.
Alles ist miteinander verflochten
Worum ging es also, als Israel von den Babyloniern erobert wurde? Worin hatte Israel versagt? Im Gottvertrauen? Im gehorsamen Monotheismus? In sozialer Gerechtigkeit? In der Ökologie?
Es ist typisch für das Alte Testament, dass all dies miteinander verflochten ist. Gottes Volk lebt im Rahmen eines spirituell-soziologisch-biosphärischen Ökosystems. Und wird das gestört, dann fällt einem das irgendwann auf die Füße.
Wenn dieser Zusammenhang im Willen Gottes verankert ist, dann tun wir gut daran, auch heute unsere Welt als entsprechend vernetzt und verflochten zu betrachten. Und uns gewarnt sein zu lassen, dass es offenbar Gottes Ordnung entspricht, wenn sich die Natur „etwas zurückholt“.
Gott möchte Menschen, die auch einmal aufhören können.
Wie können wir uns vor so einem Szenario richtig verhalten? Was ist das Leben, das Gott sich vorstellt? Es ist ein Leben, das sich unterbrechen lässt. Gott möchte Menschen, die auch einmal aufhören können.
Das ist die Grundbedeutung des Wortes schabat, von dem sich der Sabbat herleitet: aufhören. Pause machen. Zunächst in ganz buchstäblichem Sinn. So einfach ist es.
Mittendrin einfach mal aufhören – das schützt Leben
Wir brauchen eine Ökologie der Unterbrechung. Und zwar auf geistlicher Ebene, im Miteinander und im Umgang mit der Natur. Das fängt auf den ersten Seiten der Bibel an. Kain ist kurz davor, vom Zorn überwältigt zu werden.
Gott spricht ihn an – mit anderen Worten: Er unterbricht ihn. Doch Kain lässt das nicht zu, er blickt nicht auf, und so passiert der erste Mord der Menschheit (1. Mose 4,3-8). Unterbrechung hätte Leben gerettet.
In einem der biblischen Psalmen, dem 46., wird geschildert, wie Gott die Waffen der Völker – Kriegsbögen, Speere, Streitwagen – zerbricht. Und dann heißt es bezeichnend: „Hört auf und erkennt, dass ich Gott bin“ (Vers 11). Mittendrin einfach mal aufhören – das schützt das Leben. Mein eigenes und das der anderen. Und es schützt die Welt, die Gott uns gab.
Mikro-Pausen im Alltag
Zwei Beispiele möchte ich abschließend nennen, was das bedeuten kann – ein kleines und ein großes.
Das kleine Beispiel: Ich habe vor Kurzem eine vierwöchige Kur gemacht. In den Schulungen zum Thema Stressbewältigung ging es unter anderem um Mikro-Pausen im Alltag. Wer beruflich stark eingespannt ist und aus diesem Rahmen mittelfristig auch nicht aussteigen kann, der bekommt es nicht hin, täglich vierzig Minuten Entspannungsübungen im Büro zu machen.
Aber siebenmal am Tag fünf Minuten kurz ans Fenster gehen oder durchs Treppenhaus laufen, sich dehnen, seinen Sinn auf etwas Schönes richten – das kann man. Man muss sich nur mal eben kurz unterbrechen und mit dem, was man gerade macht, aufhören. Schabat. Und das eigene Körper-Seelen-Ökosystem kommt wieder etwas mehr in Balance.
„täglich sei unsere tat das nichttun des jüngsten tags“
Kurt Marti
Und das große Beispiel: Mir hat sich der Schlusssatz eines Gedichts von Kurt Marti eingeprägt. Er lautet: „täglich sei unsere tat das nichttun des jüngsten tags“
Könnten wir denn umgekehrt wirklich „den Jüngsten Tag tun“? Ist das nicht Anmaßung – dass wir es schafften, was Gott sich vorbehält? Oder stehen wir tatsächlich in dieser Gefahr? Der Offizier, der den Knopf für die Atombombe drückt? Oder ich, der ich die zig-milliardste Plastikflasche kaufe und mit deren Mikro-Müll ich den Ozean endgültig zum Kippen bringe?
Am besten ist, wir lassen es sein. Am besten ist, wir unterbrechen unser Tun. Oder wie der Psalm es sagt: „Hört auf und erkennt, dass ich Gott bin.“
Dr. Ulrich Wendel ist Pastor und arbeitet als Chefredakteur des Magazins Faszination Bibel sowie als Programmleiter für Bibel und Theologie bei SCM R.Brockhaus. Seine Frau und er haben das Buch „Vom Glück des Loslassens. Wie Herz und Leben leicht werden“ geschrieben.
Dieses Interview erschien im Magazin andersLEBEN (Ausgabe 4/21). andersLEBEN ist ein Produkt des Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.