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Seelsorge: Gott schickte Engel, keine Psychiater

«Ich hatte einen Patienten, der hielt sich für Nietzsche», erinnert sich Günther Emlein. «Wir haben ganz exquisite Diskussionen geführt.» Am liebsten beginnt der Mainzer Psychiatrieseelsorger die Bekanntschaft mit seinen neuen Gesprächspartnern bei einem Spaziergang.

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Er geht dann mit ihnen raus zu den Römersteinen, den Stümpfen des antiken Aquädukts am Mainzer Stadtrand – vorausgesetzt, die Patienten dürfen das Gelände der Uniklinik verlassen. Auf die Nöte der Betroffenen gebe die moderne Psychiatrie oft keine zufriedenstellende Antwort, sagt er. Aber auch die Kirche gehe zu oft nicht angemessen mit dem Thema um.

 Seit über zehn Jahren arbeitet der Theologe an der Uniklinik der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt. Für einen großen Teil der Patienten sei eine psychiatrische Klinik der falsche Ort, glaubt er: «Den Menschen ist das Leben durcheinander geraten, sie wollen reden. Dann erfahren sie, dass der Arzt täglich fünf Minuten für sie hat, um zu fragen, ob die Medikamente schon wirken.» Emlein nimmt sich Zeit, um zuzuhören. Weil er als guter Fachmann auf dem Gebiet gilt, wird der Klinikseelsorger von Pfarrer-Kollegen regelmäßig um Rat gefragt, wenn die nicht mehr weiterwissen, wie sie einem Gemeindemitglied noch helfen können oder was sie tun sollen, wenn ein selbst ernannter Messias regelmäßig den Gottesdienst stört.

 Wer in der Bibel liest, stößt dort auf viele Gestalten, die nach heutigen Maßstäben eigentlich als psychisch gestört gelten müssten: Saul, der erste König Israels, war offenkundig depressiv. Der alttestamentliche Prophet Jona war suizidgefährdet, so sehr ärgerte er sich darüber, dass Gott die Sünder von Ninive nicht bestrafen wollte. Auch Elia floh in die Wüste, um seinem Leben ein Ende zu setzen. «Damals gab es keine Psychiater», sagt Emlein, «Gott musste einen Engel zu Elia schicken.»

 Der oft niedergeschlagene Kirchenreformator Martin Luther suchte das Gespräch mit seinem eigenen Beichtvater, wenn ihn eine schwermütige Stimmung überfiel. Auch in der evangelischen Kirche sei es lange selbstverständlich gewesen, dass der Pfarrer die Seelennöte der Menschen im Ort umsorgte, sagt die Kirchenhistorikerin Irene Dingel. «Das ist dann im 19. und 20. Jahrhundert abgebrochen. Die Kirche als Identifikationsfaktor verlor an Bedeutung.»

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 Der Mainzer Gemeindepfarrer Stephan Müller-Kracht hat regelmäßig mit Menschen zu tun, die über ihre psychischen Probleme sprechen wollen. Die Tendenz sei in letzter Zeit wieder steigend. «Wir beten häufiger gemeinsam, die Leute bitten heute wieder vermehrt um einen Segen.» Vermutlich gebe es in Kirchengemeinden mehr Menschen mit psychischen Problemen als im Bevölkerungsdurchschnitt, glaubt Müller-Kracht. Für viele sei die Kirche einer der wenigen Orte, an dem sie nicht permanent unter Leistungsdruck stünden. Manche würden sich aber wohl nur deswegen an den Pfarrer wenden, um nicht lange auf einen Psychologen-Termin zu warten: «Die stehen vor der Tür und wollen auf der Stelle ein einstündiges Gespräch haben.»

 Klinikseelsorger Emlein hat den Eindruck, dass die Kirche ihr gewaltiges seelsorgerisches Potenzial nicht ausreizt. «Der Pfarrer empfiehlt dann einen guten Psychologen oder Psychiater», sagt er. «Es ist immer die leichtere Lösung, von einer Krankheit zu sprechen.» Emlein nimmt Begriffe wie «psychisch krank» nicht gerne in den Mund. Um zu helfen, sei es nicht unbedingt sinnvoll, wenn er nur in den Kategorien medizinischer Diagnosen denke. Statt sich für nicht zuständig zu erklären, sollten Pfarrer sich zuerst fragen, warum jemand sich nicht an einen Psychiater, sondern an die Kirche wende: «Man kann sich heiter und gelassen auf die Kommunikation einlassen.»

(Quelle: epd)

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