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„Sie atmen ja kaum“ – Die Geschichte einer Depression

Kaum Freunde, einfache Verhältnisse und Minderwertigkeitskomplexe – Max Hartmann hat eine schwere Kindheit. Durch den Glauben an Gott kehrt seine Freude am Leben zurück. Doch dann bricht ein Trauma aus Kindertagen wieder auf.

Von Pascal Alius

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Vier Tattoos zieren den Oberkörper von Max Hartmann. Eins auf der linken Brust über dem Herzen. Eins auf dem rechten Schulterblatt. Eins auf dem linken Oberarm. Und eins auf der rechten Brust. Die Buchstaben dieses Tattoos sind im Kern gebrochen, doch rundherum ist das Bild harmonisch. Es soll die Erschütterungen zeigen, denen er ausgesetzt war und ist, aber auch das Bewahrende und Beschützende um ihn herum.

Max Hartmann, 63, ist Pfarrer in der Schweiz. Von der Statur her eher klein und schmächtig. Er trägt Glatze, im linken Ohr einen schwarzen Knopfohrring und eine schwarze Brille. Ein grauer Bart und ein Hemd vervollständigen das Bild im Video-Call.

Freunde finden

Hartmann wächst in einfachen Umständen auf. In der Schule hat er kaum Freunde. „Dadurch, dass ich ja keine große Erscheinung als Mann bin, war ich stark von Minderwertigkeitsgefühlen geplagt“, erzählt Hartmann. Er geht in den Kindergottesdienst und entdeckt im Konfirmandenjahr den Glauben an Gott für sich. Dort findet er zum ersten Mal echte Freunde. Er fängt an, selbst in der Jugendarbeit mitzuarbeiten und lernt, sich selbst Dinge zuzutrauen. Seine Freude am Leben kehrt zurück.

Nach der Schule entscheidet er sich für ein Theologiestudium – gegen den Widerstand seiner Eltern. 1987 fängt er an, als Pfarrer in der Reformierten Kirche Brittnau zu arbeiten. Dort lernt Hartmann seine Frau Eva kennen. Sie heiraten und bekommen zwei Kinder. Und sie leben vergnügt bis ans Ende ihrer Tage – nicht.

Schnell gestresst

Die Arbeit in der Kirche macht Max Hartmann Spaß, aber ist stressig. Es gibt viel zu tun. Probleme mit Mitarbeitenden und der Gemeinde gehören zum Alltag.

Kurz bevor er 40 wird, kommt er immer wieder ans Limit seiner Kräfte. „Ich hatte den Eindruck im Hamsterrad zu sein“, meint Hartmann. Dann melden sich auch noch gesundheitliche Probleme: Verspannungen im Rücken, Hexenschuss, flaues Gefühl im Bauch. Eine Magenspiegelung findet nichts.

Alltägliche Dinge fallen schwer

Er kommt morgens kaum noch aus dem Bett. Alles ist ihm zu viel. Zu Hause am Esstisch isst er kaum, stochert gedankenverloren in seinen Nudeln, ist untergewichtig. Seine Gedanken kreisen darum, genug Kalorien runterzubekommen und genug zu trinken. Er verspürt Übelkeit. Er bewegt sich in seiner eigenen Welt und hört seiner Frau kaum noch zu.

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Alltägliche, nebensächliche Dinge wie Aufstehen, Duschen, Laufen und richtig Hinsetzen werden zur Schwerstarbeit. „Du musst atmen“, sagt er sich regelmäßig. Es sind die kleinen Aufgaben, die ihm wie unbezwingbare Berge erscheinen.

„Das war erschreckend“

Im Herbst 2014 fährt Hartmann mit seiner Familie in den Urlaub. „Normalerweise freue ich mich und fahre den größten Teil der Strecke in die Toskana selbst“, sagt er. Doch dieses Mal ist alles anders. Seine Frau muss fahren, weil er sich nicht dazu in der Lage fühlt. Während der Fahrt geht es ihm immer schlechter.

„Ich habe es nicht mehr ausgehalten“, meint Max Hartmann. Sie müssen von der Autobahn abfahren und er legt sich erst mal hin. „Das war erschreckend. Mein Tiefpunkt, aber auch befreiend. Ich habe gemerkt, dass etwas passieren muss. Ein heilsamer Schrecken.“

Diagnose mittelschwere Depression

Nach dem Urlaub lässt sich Hartmann von seinem Hausarzt untersuchen und krankschreiben. Außerdem überweist er Hartmann für eine Untersuchung in eine christliche Klinik in Riehen.

Die Diagnose des Psychiaters lautet mittelschwere Depression. In der darauffolgenden Therapie stößt Hartmann auf eine traumatische Erfahrung in seiner Kindheit, die jetzt wieder aufgebrochen ist.

Bruder stirbt bei Verkehrsunfall

Als er viereinhalb Jahre alt ist, stirbt sein älterer Bruder bei einem Verkehrsunfall. „Als Fahrradfahrer hat er ein Auto hinter einem Lastwagen übersehen und ist tödlich verunglückt“, erzählt Hartmann. Seine Familie verkraftet den Verlust nicht. Sein Vater schweigt alles in sich hinein. Seine Mutter hat regelmäßig Nervenzusammenbrüche.

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Etwas mehr als ein halbes Jahr später bekommt sie mit 42 noch einen Sohn. Sie ist immer noch in Trauer und mit einem Baby komplett überfordert. „Für mich hat sich ein Muster eingeschlichen. Ich musste schauen, dass es meiner Mutter gut ging. Brav sein. Sie unterstützen“, sagt Max Hartmann. Seine Mutter klammert sich an ihn und seinen jüngeren Bruder. „Wir waren damit völlig überfordert.“

Traum bewegt zum Umdenken

Die erste Therapie hat ihm geholfen, die Wurzeln seiner Depression zu erkennen. Mit einer zweiten will er etwas in seinem Leben verändern. Die behandelnde Ärztin stellt seine innere Anspannung mit dem Satz „Sie atmen ja kaum“ fest. Sie will ihn für längere Zeit krankschreiben. „Ich hatte zunächst Hemmungen, ob ich das meinem Arbeitgeber, der Kirchgemeinde, zumuten kann“, meint Hartmann.

In der nächsten Nacht hat er einen Traum. Hochzeitsglocken lassen ihn aus dem Schlaf schrecken. Er realisiert, dass er sofort einen ehemaligen Konfirmanden trauen muss. Er will aufspringen. Da wacht er auf. Bleiern sitzt er auf dem Bettrand und ist verwirrt. Als er wieder einschläft, geht der Traum weiter. Eine Person kommt auf ihn zu und will ihm die Füße waschen. Für ihn ist eindeutig: Das ist Jesus. „Mir wurde klar: Du kannst und musst dich nicht mehr durchringen. Jetzt sollst du dir dienen lassen.“ So entscheidet Hartmann sich 2017 für eine längere Therapie.

„Freu dich doch darüber“

Er wohnt von Montag bis Donnerstag im Gästehaus einer christlichen Diakonissen-Gemeinschaft. Seine Frau ist froh darüber, dass sie in der härtesten Phase seiner Depression entlastet wird. Die Struktur in der Gemeinschaft tut ihm gut. Ebenso der Austausch mit einem pensionierten Pfarrkollegen, der selbst eine heftige Depression erlebt hat.

Die Ratschläge des Pfarrkollegen nimmt er gerne an. Von anderen Leuten hört er oft: „Geh einfach raus. Es ist jetzt wunderschöner Frühling. Freu dich doch darüber.“ Da denkt sich Hartmann: Du hast gut reden. Ich weiß ja auch, was Frühling und schönes Wetter ist. „Manchmal braucht es einfach eine Person, die einen verständnisvoll begleitet, aber nicht ständig drängt.“

„Kann man mich als geheilt erklären?“

Es braucht zwei Jahre, bis Max Hartmann auf ein passendes Antidepressivum eingestellt ist. Die Therapie setzt sich aus verschiedenen Bereichen zusammen: Atemtherapie, Psychotherapie, Schreiben, Kunst. Während seines Klinikaufenthalts löst er ein Fitness-Abo und macht regelmäßig Krafttraining. Er nimmt sechs Kilo zu.

Nach dem Ende der Therapie stellt Hartmann seiner Therapeutin die Frage: „Kann man mich als geheilt erklären? Ist es überhaupt möglich, ganz geheilt zu sein?“ Sie hat keine Antwort. Das Leben gibt ihm eine: Prostatakrebs, Rückenschmerzen, Leistenbruch.

„Ich kann das Trauma nicht zum Verschwinden bringen, aber es kann zu einer natürlichen Größe schrumpfen und kein Riese mehr sein.“

„Das war einfach zu viel und hat zu einem depressiven Rückfall geführt“, sagt er. Inzwischen hat er auch das fast durchgestanden. Der Prostatakrebs konnte erfolgreich operiert werden und aktuell wartet er auf eine Rücken-OP. „Der Vorteil ist, dass ich nicht mehr von vorne beginnen muss.“

„Ich kann das Trauma nicht zum Verschwinden bringen, aber es kann zu einer natürlichen Größe schrumpfen und kein Riese mehr sein“, sagt Hartmann. Es dürfe keine Dauerbeschäftigung werden. Stattdessen will er nach vorne schauen und verdeutlicht das mit einem Bild: „Stell dir vor, du sitzt an einem Fluss. Es kommt ein Boot daher und lädt dich ein, einzusteigen. Ich lasse es ziehen.“

Glaube an Gott vertieft

Trotz all des Leids zweifelt Hartmann nie an Gott. Auch von Suizidgedanken bleibt er verschont. Sein Glaube vertieft sich sogar noch. „Das ist die brutale Wahrheit. Die Tiefe des Lebens und des Glaubens finden wir nicht in Zeiten, in denen es läuft, wie wir es uns wünschen“, meint er.

Er habe immer noch viele Fragen an Gott. Aber er durfte auch erleben, dass Gott bei ihm ist. Gott verstehe ihn, auch wenn er Gott nicht verstehe. „Ich kann Menschen helfen“, sagt Hartmann. „Einige, auch aus meiner Kirchengemeinde, haben sich mir mit ihren Depressionen anvertraut.“ Seine Depression hat für ihn doch irgendwie einen Sinn, – auch wenn er es sich so nie gewünscht hätte.

„Sie erinnern mich daran, dass Gott mich von Anfang an geliebt hat.“

Als es ihm nach der zweiten Therapie wieder gut geht, ist es ihm wichtig, eine Form zu finden, wie er diesen heilsamen Prozess für sich feiern kann. „Etwas ist geschehen, was mir nicht mehr weggenommen werden kann, auch wenn es vielleicht Rückfälle geben wird.“

Hartmann sucht nach einem sichtbaren, permanenten Ausdruck, der ihn immer wieder daran erinnert und ermutigt, zu sein, wer er ist. „Das Einzige, was mir dazu einfiel, waren Tattoos“, sagt er. „Sie erinnern mich daran, dass Gott mich von Anfang an geliebt hat.“

Max Hartmann arbeitet als Pfarrer der Reformierten Kirche in Brittnau. In seinem Buch „Zurück zum Leben – Die Geschichte meiner Depression“ erzählt er im Tagebuchstil, wie er es aus seiner Depression rausgeschafft hat.


ISBN 978-3-906959-50-4

Angaben zum Buch:

Max Hartmann: „Zurück zum Leben – Die Geschichte meiner Depression“. 256 Seiten, vierfarbig. MOSAICSTONS-Verlag, 2021. 22,90 Euro beim Verlag, oder im Buchhandel.

Mehr zum Autor und Buch: www.max-hartmann.ch

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