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Vom Glück der Dissonanz – Über fruchtbare Spannungen, Langeweile und die Kraft der Hoffnung

Ich mag keine Spannungen. Schon gar nicht in Beziehungen. Da bin ich sehr auf Harmonie aus. Wenn es Spannungen gibt, fühle ich mich manchmal richtig krank. Das Leben wäre am schönsten, wenn es keine Spannungen gäbe, denke ich dann.

Von Dr. Christoph Schrodt

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Aber wäre das Leben wirklich am schönsten ohne Spannungen? Ich liebe klassische Musik. Und es war eine Offenbarung für mich, irgendwann zu begreifen, dass Musik von der Spannung lebt. Ein Musikstück, an dem nur harmonische Klänge aneinandergereiht werden, ist tot, absolut langweilig, Stillstand. Leben kommt in die Musik, wenn in die Harmonik ganz bewusst Dissonanzen eingebaut werden. Manchmal wird eine solche Dissonanz solange ausgedehnt, bis es beinahe nicht mehr zu ertragen ist – und dann kommt die Erlösung, die Auflösung.

Ein vollkommenes Musikstück ist ein genialer Wechsel von Dissonanzen und Konsonanzen. Auch bei Geschichten ist es so. Stellen Sie sich eine Geschichte vor, die so beginnt und im Prinzip immer so weitergeht: „Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.“ Da beginnen wir erst gar nicht zu lesen. Da passiert nichts. In einer sehr flachen Theologie wird uns manchmal weisgemacht, dass Spannungen erst mit der Sünde in die Welt gekommen seien. Aber selbst im Paradies gibt es Spannung: Da sucht der Mensch verzweifelt nach einer Entsprechung, aber in den Tieren findet er kein Gegenüber. Da muss Gott eingreifen, weil das kaum mehr zum Aushalten ist … (vgl. 1.Mose 2,18 ff.).

Spannung als Kennzeichen von Leben

Die meisten Vorgänge in der Natur beruhen auf Spannung. Erst durch Spannung, also das Nebeneinander von Unterschieden, kommt Bewegung und Dynamik in eine Sache. Da gibt es Unterschiede in der elektrischen Ladung, die Spannung produzieren. Osmose ist in der Natur von zentraler Bedeutung. Sie beruht darauf, dass es in Zellen unterschiedliche Konzentrationen von chemischen Lösungen gibt, die auf Ausgleich drängen. In einer ganz anderen Weise wird ein Geburtsvorgang durch Spannung eingeleitet: Da ist im Verborgenen ein Kind entstanden. In der Gebärmutter hat es zunächst unendlich viel Platz und wächst und wächst und wächst. Aber dann wird der Platz enger, der Bauch spannt und für das Kind wird es immer ungemütlicher. Wird ein bestimmter Stand erreicht, setzen Wehen ein und die Geburt beginnt. Die Wehen sind unendlich schmerzhaft – aber das Glück nach der Entspannung unbeschreiblich.

Von der Kraft, Spannungen auszuhalten

Paulus greift in einem zentralen Kapitel im Römerbrief (8,22-25) dieses Bild von der schwangeren Frau auf: „Wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis jetzt noch stöhnt und in Wehen liegt wie eine Frau bei der Geburt. Aber auch wir selbst, die doch schon als Anfang des neuen Lebens – gleichsam als Anzahlung – den Heiligen Geist bekommen haben, stöhnen ebenso in unserem Innern. Denn wir warten sehnsüchtig auf die volle Verwirklichung dessen, was Gott uns als seinen Kindern zugedacht hat: dass unser Leib von der Vergänglichkeit erlöst wird. Wir sind gerettet, aber noch ist alles Hoffnung … Eine Hoffnung, die sich schon sichtbar erfüllt hat, ist aber keine Hoffnung. Ich kann nicht erhoffen, was ich schon vor Augen habe. Wenn wir aber auf etwas hoffen, das wir noch nicht sehen können, dann heißt das, dass wir beharrlich danach Ausschau halten“ (Gute Nachricht). Was für eine großartige Beschreibung der christlichen Hoffnung: Hoffnung ist die Kraft, Spannungen auszuhalten. Hoffnung weiß, dass diese Spannung zu einem guten Ziel, zu einer wunderbaren Geburt, zu etwas vollkommen Neuem führen wird. Die Hoffnung trägt in sich die Gewissheit, dass sich alle Schmerzen lohnen werden.

Das Wunder der Hoffnung

Die Tugend der Hoffnung wird gewissermaßen aus der Spannung geboren. Allerdings könnten die erlebten Spannungen auch zur Verzweiflung oder Resignation führen. Dass es nicht dazu kommt, ist ein Wunder und verdankt sich dem Geschenk des Heiligen Geistes. Er wird in dem zitierten Abschnitt aus Römer 8 als „Anzahlung“ bezeichnet. Eine Anzahlung ist ein Versprechen, das mehr ist als nur Worte: Es ist substanziell eine Vorwegnahme der Zukunft, aber eben noch längst nicht alles, sondern nur eine erste Rate.

Ich schreibe diesen Artikel zwischen Ostern und Pfingsten. Durch diese zwei Datumsangaben wird die christliche Hoffnung beschrieben – und darin unser ganzes Leben in Spannungen inbegriffen: In der Auferstehung Jesu von den Toten hat die neue Schöpfung begonnen. Und in der Kraft des Heiligen Geistes können die unerträglichen Spannungen – die Wehen des neuen Lebens – ausgehalten und ertragen werden.

Zwischen den Wehen

In manchen spirituellen Ratgebern wird der Eindruck erweckt, ein Leben in völliger Harmonie und Ausgeglichenheit sei möglich. Mithilfe von geistlichen Disziplinen kommen wir angeblich in einen stabilen Zustand des inneren Friedens, so dass wir in jeder Situation adäquat reagieren können.

Mein geistliches Leben sieht ganz anders aus! Ich war bei der Geburt aller unserer Kinder dabei. Und weiß deshalb: Es gibt Wehen – und Phasen zwischen den Wehen! Das spiegelt mein geistliches Leben wider: Ich versuche irgendwie, mich „zwischen den Wehen“ zu organisieren. Und wenn die „Wehen“ kommen, dann hechle und stöhne ich und versuche irgendwie Luft zu bekommen. Und manchmal schreie ich auch, so wie meine Frau einmal bei einer besonders heftigen Wehe: „Macht mir endlich einen Kaiserschnitt!“

So wird es auch in Römer 8 beschrieben: Da wird viel gestöhnt und geseufzt. Und der Heilige Geist hilft uns dabei (Röm 8,26). Die meiste Zeit fühle ich mich in meinem „geistlichen Leben“ immer noch wie ein Anfänger. Mein geistliches Leben passiert unter Stöhnen und Spannungen. Vielleicht liegt es daran, dass ich den Heiligen Geist nur als eine „Anzahlung“ bekommen habe … Es ist mir mittlerweile auch nicht mehr ganz so wichtig, welche Figur ich unter der „Geburt“ abgebe. Hauptsache, es kommt etwas Wunderbares dabei heraus. Und das tut es! Dafür hat sich Gott verbürgt.


Christoph Schrodt ist Pastor und Autor in Böblingen sowie Dozent an der Internationalen  Hochschule in Liebenzell.

 

 

 

 

 

 

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