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„Nichts Besonderes sein müssen!“

Ein Plädoyer gegen die fromme Selbstbespiegelung – und für eine Haltung, die sich selbst nicht wichtiger nimmt als andere.

Von Dr. Christoph Schrodt

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Vor etlichen Jahren las ich das Buch „Die Liebe und ihre Henker“ des amerikanischen Psychologen und Therapeuten Irvin D. Yalom. Zwei Passagen daraus haben mich geradezu aufgerüttelt. Er beschreibt darin zwei Fehlannahmen, die verhindern, dass Menschen Krisen auf eine gesunde Art und Weise bewältigen können: „Der Glaube, etwas Besonderes zu sein, schließt ein, dass man unverwundbar, unantastbar ist – jenseits biologischer Gesetze und jenseits der Gesetze des menschlichen Schicksals.“

Wir alle wissen, dass Krisen zum Leben gehören. Doch der Glaube, etwas Besonderes zu sein, verführt manche von uns zu der Annahme, dass es vornehmlich die anderen sind, die von Krisen oder vom Unglück getroffen werden. Krebs? Klar, kann theoretisch jeden treffen. Aber ich gehe praktischerweise davon aus, dass nicht ich mich einer quälenden Chemotherapie unterziehen muss. Ein Autounfall? Gewiss, Autofahren ist gefährlich, aber ich fahre schon seit 40 Jahren unfallfrei. – Doch was ist, wenn es uns dennoch trifft?

Yalom fährt fort: „Plötzlich offenbarte sich die Gewöhnlichkeit der eigenen Existenz, und die weitverbreitete Ansicht, im Leben ginge es ständig aufwärts, war in Frage gestellt.“ Wenn das Unglück plötzlich zuschlägt, wenn die Krise unerwartet einbricht, dann kann dies eine tiefe Kränkung auslösen, von der sich Menschen nur schwer erholen. „Wieso ich? Womit habe ich das verdient? Das Leben ist ungerecht!“

Das Problem ist nicht, dass man diese Gefühle hat. Das Problem ist, dass das Leben schon die ganze Zeit ungerecht war, nur hat es mich bislang nicht allzu sehr gestört. Es hat ja die anderen getroffen. Die anderen sind die anderen, und ich bin ich. Solange die Rechnung aufgeht, ist die Welt in Ordnung.

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Der zweite Irrweg

Yalom kennt aber noch eine zweite Fehlannahme, und die hat mich in meinem Selbstbild ebenfalls schwer getroffen. Vor allem, weil sich dieser zweite Irrweg in vielen frommen Biografien perfekt mit dem ersten kombiniert: Es ist der Glaube an einen Retter. Yalom schreibt: „Während uns der Glaube, wir seien etwas Besonderes, ein Gefühl innerer Sicherheit gibt, suchen wir in der zweiten Methode, dem Glauben an einen Retter, den ewigen Schutz in einer äußeren Macht … Auch wenn wir versagen oder krank werden, auch wenn wir an den Abgrund des Lebens geraten, gibt es, so glauben wir, einen allmächtigen, allgegenwärtigen Helfer, der uns immer wieder ins Leben zurückholt.“

An dieser Stelle bin ich eine Erklärung schuldig, damit ich nicht missverstanden werde: Die Aussage von Yalom löst bei den meisten von uns erst einmal heftige Gegenreaktionen aus. Denn der Glaube an einen Retter gehört doch zum Urgestein christlicher Glaubensüberzeugungen. Ist nicht Christus der Retter, an den wir glauben? Nennen wir uns nicht deshalb Christen, weil wir uns diesem Retter verschrieben haben? Ist Yaloms Behauptung also ein Frontalangriff auf das Herz unseres Glaubens? Man kann das so lesen, aber ich glaube, er meint etwas anderes.

Ich selbst habe sehr lange meinen christlichen Glauben als eine Art Versicherungspaket gegen den Schmerz und das Leid des Lebens betrachtet. Ich konnte schon akzeptieren, dass das Leben mir Prüfungen auferlegen würde – aber wenn ich nur treu blieb: Im entscheidenden Moment würde der Retter auftauchen und mich herausholen! In wie viel Heldengeschichten der Bibel und der Kirchengeschichte wird das genauso beschrieben! Natürlich habe ich aus dem Augenwinkel heraus wahrgenommen, dass es auch andere Geschichten gibt. Biografien ohne Happy End. Gottverlassenheit bis zum Schluss. Leid ohne Linderung. Aber – und nun kommt die erste Fehlannahme wieder ins Spiel –, das waren eben wieder die anderen. Jedoch mich – mich würde Gott schon retten, wenn ich fest genug betete, treu genug glaubte, intensiver an ihm festhielt. Wenn man beide von Yalom beschriebene Täuschungen kombiniert, kommt folgendes Mindset heraus: „Gott wird mich retten, weil ich etwas Besonderes bin.“ Und genau diese Denke haben die beiden Zitate von Yalom bei mir in diesem Moment demaskiert.

Woraus wahre Stärke erwächst

Als ich dieses Buch las, war ich gerade dabei, Bibelarbeiten über den Propheten Elia vorzubereiten. Ich hatte mich schon oft gefragt, wie es sein konnte, dass dieser starke Typ, der auf dem Karmel einen unglaublichen Triumph feierte (1. Könige 18), durch eine Nachricht der Königin Isebel in ein solch tiefes Tal stürzen konnte, dass er die Flucht ergriff und an Selbstmord dachte (1. Könige 19). Doch nun hatte ich plötzlich einen Schlüssel zum Verständnis in der Hand. „Ich bin nicht besser als meine Väter“ (19,4), jammert Elia in der Wüste. Das war richtig – aber hatte jemals irgendjemand etwas anderes behauptet?! Es war das Selbstbild Elias, der mit dieser Annahme lebte: Ich bin besser als meine Väter. Ich bin etwas Besonderes! Mich kann Gott besonders gut gebrauchen.

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Das wird deutlich in einer Aussage, die er gleich zweimal unterstreicht: „Ich habe geeifert für den Herrn …, und ich bin allein übrig geblieben!“ (19,10.14). Alle anderen sind untreu, aber ich, ich bin der der einzige Treue. Ich bin etwas Besonderes! Und weil ich etwas Besonderes bin, deshalb müsste Gott mich retten. Er hat geradezu die Pflicht, mich zu retten, nach allem, was ich für ihn getan habe. Und wenn er es nicht tut? Dann will ich sterben. Dann macht mein Leben, mein Glaube, meine Hoffnung keinen Sinn mehr.

Gott braucht keine Menschen, die Feuer vom Himmel fallen lassen.

Wenn die Rechnung nicht mehr aufgeht, muss der Fehler im System liegen. Und so wird aus dem starken Elia von 1. Könige 18 im Handumdrehen ein tief gekränkter Mensch, der sich selbst aufs Abstellgleis schiebt und nicht mehr auf die Beine kommt.

In der Verbindung der Eliageschichte mit dem Buch von Irvin Yalom wurde mir deutlich: Gott braucht keine Menschen, die Feuer vom Himmel fallen lassen. Das kann er notfalls auch alleine. Jesus selbst hat es kategorisch von sich gewiesen, so zu handeln (Lukas 9,54). Wahre Stärke erwächst nicht aus vermeintlich prophetischer Kraftmeierei, sondern aus der Fähigkeit, nichts Besonderes sein zu müssen.

Ich habe überlegt, welche Menschen in meinem Leben den tiefsten und bleibendsten Eindruck hinterlassen haben: Es sind durchweg Menschen, die diese Kränkung überwunden haben und fröhlich – oft unter schwierigsten Bedingungen! – darin leben können, nichts Besonderes sein zu müssen. Sie müssen weder aus ihrer Stärke etwas machen, noch aus ihrer Schwäche! Denn das ist ja eine besonders perfide Spielart desselben falschen Denkens: Wenn man sich in seiner Schwäche gefällt: Seht einmal her, wie schwach ich bin; da muss Gott ja umso schneller eingreifen! In meiner Schwachheit bin ich ein besonders prädestiniertes Werkzeug Gottes! Hat nicht auch Paulus genau das behauptet (frei nach 2. Korinther 12,9)? Doch wer auf der Demutsleiter sichtbar nach unten klettert, klettert in Wahrheit nach oben …

Keine Heiligen, einfach Glaubende

Aber die Menschen, die ich meine, haben die fromme Selbstbespiegelung sowohl ihrer Stärke als auch ihrer Schwäche hinter sich gelassen. Sie müssen weder sich noch anderen etwas beweisen. Und auf diese Weise sind sie – unglaublich stark! Nicht in ihrer Selbstwahrnehmung – aber für mich. Nicht in ihrem eigenen Erleben – aber für viele andere, die durch sie gesegnet werden. Ja, diese Menschen glauben an den Retter. Aber er muss sie nicht retten, damit ihr Selbstbild und ihr Glaube nicht erschüttert werden. Sie trauen ihm alles zu, oftmals kindlich und einfältig.

Aber sie vertrauen ihm auch dann, wenn es anders kommt als erwünscht und erbeten. Um nicht falsch verstanden zu werden: Diese Menschen können oftmals auch Schmerz, Trauer, Enttäuschung und Wut auf eine gesunde Weise zum Ausdruck bringen. Es geht nicht darum, immer zu lächeln und sich in vollendeter Heiterkeit vom Leben nichts mehr anhaben zu lassen. Aber sie haben aufgehört, sich selbst wichtiger zu nehmen als ihre Mitmenschen. Sie müssen nichts Besonderes sein. Im Gegenteil, wenn ich mit ihnen spreche, geben sie mir das Gefühl, dass ich ihnen wichtig bin.

Es gibt tatsächlich solche Menschen. Es sind keine Heiligen (denn Heilige sind auch etwas Besonderes). Sie glauben einfach an den Messias Jesus. Ein bisschen mehr wie sie möchte ich glauben lernen …

Der Versuchung widerstanden

Doch ich fürchte, dass es bei diesem Thema nicht nur um unsere eigenen frommen Egos geht, sondern auch um den strukturellen Narzissmus, der in unsere Gemeindekulturen oftmals eingepflegt ist. Wie viel wird hier verglichen, gemessen, bewertet, gelikt. Es gibt so viele innergemeindlichen und gemeindeübergreifenden Ranking-Listen, die uns geradezu zwingen, etwas Besonderes sein zu müssen. Wer hat den bestbesuchten Gottesdienst, den attraktivsten Lobpreis, das stärkste Ehrenamt, die meisten Kinder im Kindergottesdienst, die modernste Technik, die meistgeklickte Homepage, usw.? Gegen das alles ist nichts einzuwenden. Es geht nicht darum, Einfallslosigkeit, Mittelmäßigkeit und Bequemlichkeit zum Prinzip zu erheben.

Aber unter der Hand laufen wir Gefahr, den starken Mitarbeiter und die erfolgreiche Mitarbeiterin zur Norm zu erklären. Elia auf dem Karmel eben. Ich höre hier auf. Die Lösung liegt nicht in einem Prinzip und auch nicht in einem Gegenprinzip. Es geht um Nachfolge. Und die ist kein Prinzip, sondern ein Weg. Der sieht heute so und morgen vielleicht anders aus. In der Mitte unserer Kirchen steht ein Kreuz. Der dort hing, hat vom ersten bis zum letzten Atemzug der Versuchung widerstanden, etwas Besonderes sein zu müssen. Vielleicht hat er deshalb die Welt überwunden?

Dr. Christoph Schrodt ist Pastor im Bund Freier evangelischer Gemeinden und Professor für Praktische Theologie an der Internationalen Hochschule Liebenzell (IHL).



Dieser Artikel ist in der Zeitschruft AUFATMEN erschienen, die wie Jesus.de zum SCM Bundes-Verlag gehört.

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