Missbrauch und Verletzung des Kindeswohls kann überall geschehen. FeG-Bundessekretär Andreas Schlüter gibt fünf Tipps, wie Gemeinden zum Schutzraum werden können.
Paula wird seit Monaten von ihrem Jugendleiter per WhatsApp kontaktiert. Zunächst nett und unauffällig. Paula fühlt sich geehrt. Sie wird gesehen – wahrgenommen! Er schreibt ihr, wie gut sie bei der letzten Jugendstunde mitgemacht hat, wie sehr ihm ihre Beiträge gefallen haben …
„Bleibe bei Jesus – du bist unglaublich wertvoll und begabt!“ Solche Nachrichten tun ihr gut, machen Mut, weiter zu glauben. Sie mag ihren Jugendleiter. Endlich einer, der auch sie sieht und nicht immer nur die begabten Sängerinnen oder Musiker. Zur Jugend geht sie gerne. Der Freitag ist geblockt.
Partys von Schulkameradinnen haben an diesem Tag keine Chance. Im Sommer hat sie zum ersten Mal zu diesem Jesus „Ja“ gesagt, hat ihn in ihr Leben eingeladen und versucht nun, mit ihm zu leben. Irgendwann will sie sich taufen lassen – möglichst bald –, wenn halt die Gelegenheit dazu gekommen ist.
Die Komplimente verändern sich
Irgendwann bekommen die WhatsApp-Nachrichten einen neuen Klang: „Das sah richtig gut aus, was du am Sonntag anhattest …“ Und: „Wenn du da bist, tut mir das so richtig gut.“ Und immer wieder Sätze und Äußerungen zur Attraktivität.
Langsam verändern sich die Gefühle von Paula. Zu dem Gefühl des „Gesehen-Werdens“, des „Wahrgenommen-Werdens“ kommt etwas Undefinierbares, etwas Komisches, ein Gefühl der Enge und der Hilflosigkeit. „Was will der Mann eigentlich?“ „Da wird schon nichts sein, der ist ja immerhin verheiratet und hat Kinder.“ Mit diesen Gedanken versucht sie sich zu beruhigen. Doch es klappt nicht wirklich.
Die WhatsApp-Nachrichten werden eindeutiger: „Wenn du nicht da bist, muss ich immer daran denken, was du wohl im Moment tust.“ In der Jugend setzt er sich auffällig neben sie. „Du erinnerst mich an meine Frau in jungen Jahren.“ Und dann kommt das, was sie keinem sagen kann – Bilder, Herzen, Liebesbekundungen …
Sie bricht den Kontakt ab, antwortet einfach nicht mehr, löscht den Verlauf. Zu den Gruppenstunden geht sie noch hin, versucht aber, den Kontakt zu meiden. Immer wieder versucht er, Blickkontakt aufzunehmen. Sie weicht ihm aus.
Grenzverletzungen erzeugen Dilemmata
Dann kommen die Bilder. Eindeutig anzügliche (pornografische) Bilder. Sie kann es nicht fassen, sie schafft es nicht mehr in die Jugend. Sie würde ja gerne, aber sie hält es nicht aus. Dreckig. Hilflos. Wertlos. Und es tut unglaublich weh.
Zunächst bleibt sie einfach zu Hause. Auf Rückfrage der Eltern schiebt sie Kopfschmerzen oder Hausaufgaben vor. Bei ihren Freundinnen das Gleiche. Ihren Eltern kann sie das einfach nicht erzählen. Und ihre Freundinnen finden den Jugendleiter auch so cool – sie werden ihr nicht glauben.
Irgendwann geht sie dann zu ihren Freundinnen aus Schule und Disco. Dann kommen die Sprüche aus der Gemeinde: „Du kommst ja gar nicht mehr …“, „Schade“, „Sag mal – mit Jesus hast du nichts mehr zu tun, oder?“ Dann kommt noch der Stress mit den Eltern dazu: „Warum hast du denn keine Lust mehr, zur Gemeinde zu gehen?“, „Ich verstehe dich nicht – du hast dich so verändert.“ Dabei würde sie ja so gerne wieder dabei sein, aber sie schafft es nicht.
Verbreitete Naivität ablegen
„So etwas gibt es bei uns nicht.“ Oder? Gut, der Fall ist konstruiert, aber doch nicht so weit von der Realität weg, wie wir denken. Missbrauch und Verletzung des Kindeswohls gibt es nicht nur in entfernten und unbekannten Gemeinden, sondern kann überall vorkommen und eben auch bei uns.
Viele Kirchen haben den Anspruch, dass Kinder und Jugendliche in den Gemeinden nicht nur vor sexuellem Missbrauch geschützt sind, sondern auch Hilfe bei Übergriffen finden können. Damit Gemeinden zu solchen Orten werden können, müssen wir als Erstes einmal wahrnehmen, dass es sehr wohl „so etwas“ gibt.
Wie wird Gemeinde zum Schutzraum?
Aber das alleine reicht natürlich nicht. Wie muss eine Gemeinde aussehen, in der es bei Paula nicht so weit gekommen wäre bzw. in der sie Hilfe gefunden hätte?
1. Paula braucht eine gute Freundin, eine Ansprechpartnerin in der Gemeinde, mit der sie über ihre Gefühle sprechen kann. Spätestens zu dem Zeitpunkt, als sie ein „komisches“ Gefühl bekommt, hätte sie eine Person zum Reden gebraucht.
Daher ist es wichtig, dass Jugendliche über Persönliches im vertrauten Rahmen reden können und einander unterstützen, nicht nur, wenn es Probleme gibt. In Teen- und Jugendkreisen wird unglaublich viel geredet. Aber welche Gespräche sind wirklich persönlich und vertraulich? Welche Gespräche helfen wirklich?
2. Paula braucht eine Vertrauensperson in der Gemeinde. Jemanden, der genau für diese „Fälle“ zuständig ist. Viele Gemeinden haben eine verantwortliche Person für die Seelsorge. Aber leider ist die bei den Jugendlichen meistens nicht bekannt. Ich empfehle Gemeinden, eine Person zu bestimmen, die nicht zur Gemeindeleitung oder Jugendleitung gehört, sondern tatsächlich unabhängig von diesen Gremien angesprochen werden kann. Selbstverständlich sollten Plakate mit dem Namen, Bild und den notwendigen Kontaktinformationen an den entscheidenden Stellen in der Gemeinde aufgehängt sein.
Dazu ist es wichtig, nicht nur die Ansprechperson der Gemeinde bekannt zu machen, sondern auch Beratungsstellen, die vor Ort funktionieren. Über die Kampagne der Bundesregierung „Kein Raum für Missbrauch“ sollte informiert werden. Auf der Webseite der Initiative „Kein Raum für Missbrauch“ findet man neben guten Materialien (unter anderem Plakate) auch eine Liste von Beratungsstellen. Kaum Jugendliche oder Mitarbeitende wissen im Übrigen, dass man zunächst auch anonym eine Beratung in Anspruch nehmen kann.
Wie wäre es, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich vornehmen, wirklich relevante Gespräche mit den Jugendlichen zu führen?
3. Paula braucht aufmerksame Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wie wäre es, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich vornehmen, wirklich relevante Gespräche mit den Jugendlichen zu führen?
Wenn sie in Mitarbeitersitzungen nicht nur technisch die nächsten Themen aufteilen, sondern tatsächlich die einzelnen Teilnehmenden in den Blick nehmen, sich fragen, wer in letzter Zeit ein Gespräch geführt hat? Für sie beten und verabreden, wer welche Jugendliche in den Blick nimmt?
4. Paula braucht eine geschulte Gemeinde. In der Gemeinde sollten regelmäßig Schulungen für Mitarbeitende zum Thema „Schutz des Kindeswohls“ durchgeführt werden. Dazu gehört auch, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein erweitertes Führungszeugnis in der Gemeinde vorlegen und einen Verhaltenskodex unterschreiben.
Ein Verhaltenskodex beinhaltet zum Beispiel die Erlaubnis bzw. die Verpflichtung der Mitarbeitenden, Auffälligkeiten anzusprechen und zu thematisieren. Vielleicht wäre es dann bei Paula gar nicht so weit gekommen.
5. Paula braucht das Wissen, welche Verhaltensweisen okay sind und welche Grenzen überschreiten. Daher muss das Thema „Schutz des Kindeswohls“ in regelmäßigen (jährlichen) Abständen im Teen- und Jugendkreis behandelt werden.
An diesen Abenden muss über Nähe und Distanz, über konkretes Verhalten in Gesprächen, über Möglichkeiten der Beschwerde und vieles mehr geredet werden. Die Teilnehmenden müssen wissen, was in Ordnung ist und was nicht. So gehören zum Beispiel Bemerkungen über die Attraktivität nicht in ein Gespräch zwischen Mitarbeitenden und Teilnehmenden.
Grenzverletzungen markieren
Neben diesen Punkten ist etwas anderes noch besonders wichtig: Paula trifft keine Schuld. Nicht sie hat es „so weit kommen lassen“, sondern der Jugendleiter einzig und allein hat Grenzen überschritten. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie sich nicht an eine Vertrauensperson gewandt hat.
Die Verantwortung, dass Jugendliche in unseren Gemeinden einen sicheren Raum finden, in dem sie zum einen vor Übergriffen geschützt sind, zum anderen wirklich Hilfe erfahren, trägt die Gemeinde. Sie hat dafür zu sorgen, dass es ein Schutzkonzept gibt, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich mit ihrer Rolle umgehen, dass Betroffene wirkliche Hilfe finden können.
Wache und wachsame Gemeinden
In der Jugendarbeit des Bundes Freier evangelischer Gemeinden haben wir einen Leitsatz: „Bewegt von Gottes Liebe wollen wir junge Menschen befähigen, Jesus nachzufolgen und anderen zu dienen.“
Um diesen Leitsatz umzusetzen, brauchen wir sichere Gemeinde. Wir brauchen wache Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, selbstbewusste Jugendliche und eine Atmosphäre, die nicht von Macht bestimmt ist, sondern vom Geist Gottes, vom Geist der Liebe, der Freiheit und des Friedens.
Andreas Schlüter arbeitet als Bundessekretär FeG Junge Generation und ist Mitglied der Koordinationsstelle „Schutzraum“ der Region West im Bund FeG. schuetzen-und-begleiten.feg.de
Dieser Artikel ist in der FeG-Zeitschrift Christsein Heute erschienen. Christsein Heute ist Teil des SCM Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.
Grundsätzlich offen über Tabu-Thema sprechen
Schutzkonzepte sind immer gut. Wesentlich ist aber, dass im Idealfall eine Gesprächsatmosphäre in einem geschützten (durchaus auch privaten) Rahmen besteht. Wir haben uns damals, in den 1970er Jahren , instinktiv völlig unorganisiert und unabhängig (sogar ohne Wissen) der älteren Gemeindegliedern, gerne vertrauensvoll miteinander unterhalten. Dies haben wir nicht getan aus Gründen eines Schutzkonzeptes, sondern weil in dieser Zeit – also nach Ende der 1968-Bewegung – auch wegen unserer (Nach-)Pubertät – unsere Fragen/Probleme im Zusammenhang mit eigener Sexualität auf der Agenda standen. Wir haben schlicht und einfach im persönlichen Gespräch, durchaus auch offen und unkompliziert, gerade über dieses anscheinend immer relevante Thema gesprochen. Dieser erwähnte Themenbereich stand nie offiziell auf einem Programm auch nicht unserer Ev. Kirchengemeinde, leider auch nicht im Bereich der Jugendarbeit. Ich glaube, dies hatte uns vielfach geholfen – gewissermaßen als gute Eigenerfindung – dass jede/jeder dabei einen eigenen Weg im Umgang mit dieser nicht leichten Thematik fand. Auf starken Widerspruch stieß in späterer Zeit die sehr rustikale Äußerung meines Pfarrers, man müsse „Menschen biegen wie ein Stück Holz“ (der war vorher Schreiner). Eine durch und durch frommer älterer Mitchrist beantwortete diesen Einwurf mit einer ebenso starken und absolut richtigen Antwort: „Wer einen Menschen wie ein Stück Holz verbiegt, der wird ihn dabei auch brechen“! Allerdings stand diese Vorstellung, wie denn Seelsorge sein könnte, aber in einem etwas anderen, aber doch ähnlichen thematischen Zusammenhang. Damit will ich sagen, dass die beste Gesprächsgrundlage neben einem guten Grundvertrauen, ein geschützter (ggfls. privater Raum) und das Umgehen miteinander in Offenheit und auf Augenhöhe, bestehen müsste. Nicht selten haben immer schon Menschen, früher eher als heute, den Umgang von Christen/Kirche mit Sexualität wie den Versuch empfunden, Feuer und Wasser miteinander zu zu versöhnen.. Die wurde aus dem Tabus genährt, über diese Angelegenheit zu sprechen, verletzte nur christlichen Anstand. Da gab es sehr große oder gar völlige Sprachlosigkeit. Eher habe ich in ökumenischen Veranstaltungen, wo es beispielsweise um auf kirchlichem Hintergrund entstandenen psychische Störungen ging, vor allem katholische Priester in sachlich offener und unkomplizierte Weise erlebt. Da ist mir auch der klerikale Spruch – in der Zeit um und nach Oswald Kolle – in Erinnerung: „Die Kirche hat sich nicht dafür zu interessieren, was in den deutschen Schlafzimmern passiert“! Damals noch in 1968 hatte sogar der Deutsche Katholikentag, in einer öffentlicher Erklärung seiner Teilnehmer*innen, die Pillenenzyklika von Papst Paul VI harsch öffentlich kritisiert. Damals hatten einige katholische Priester, die mir noch bekannt, tatsächlich die gute Hoffnung das kirchliche Zölibat werde abgeschafft, oder zumindest freigestellt. Einer sagt noch heute, er hätte damals sehr gerne geheiratet, aber nicht gedurft. Dies ist zwar ein (nicht ganz) anderes Thema, aber es hängt indirekt mit der Problematik von gravierendem sexuellen Missbrauchs zusammen: Weil alle Menschen ziemlich untrennbar ein Gesamtkunstwerk Gottes sind: Sexualität ist nämlich untrennbar leiblich und seelische eine gute Gabe Gottes. Und sie ist biologische Realität. Wie das Küchenmesser kann man damit wunderbare Kunstwerke schnitzen oder Menschen töten. Generell stände eigentlich auf der Agenda aller Kirchen, ihre Haltung zur Sexualität durch das Gespräch mit den vielen Gemeindemitgliedern wirklich zu besprechen und zu klären. Dies kann nur interdisziplinär erfolgen, also mit den Theologen, Soziologen, den Psychologen und denjenigen, die vor Ort jeden Tag Seelsorge betreiben. Das ganze Volk Gottes muss sich damit sehr ausführlich befassen. So wie vormals die Urgemeinde, als die Frage anstand, wie Heidenchristen und Judenchristen miteinander umgehen. Damals erfand man einen für Antike völlig neue Entscheidungsform: Den Kompromiss des Apostelkonzil. Dass dabei auch gebetet wird, setze ich als selbstverständlich voraus. Fairer Weise muss hier erwähnt werden, dass meine Ev. Landeskirche zwar als liberal gilt, aber den erwähnten Themenkreis unerwähnt lässt.