Philipp Spitta veröffentlichte zwei Gedichtbände. In einem von beiden taucht dieses Lied auf. Zu diesem Schritt musste ihn jedoch erst ein Freund überreden.
- Es kennt der Herr die Seinen
und hat sie je gekannt,
die Großen und die Kleinen,
in jedem Volk und Land.
Er lässt sie nicht verderben,
er führt sie aus und ein;
im Leben und im Sterben
sind sie und bleiben sein. - Er kennet seine Scharen
am Glauben, der nicht schaut
und doch dem Unschaubaren,
als säh er ihn, vertraut,
der aus dem Wort gezeuget
und durch das Wort sich nährt
und vor dem Wort sich beuget
und mit dem Wort sich wehrt. - Er kennt sie als die Seinen
an ihrer Hoffnung Mut,
die fröhlich auf dem einen,
dass er der Herr ist, ruht.
In seiner Wahrheit Glanze
sich sonnet frei und kühn
die wunderbare Pflanze,
die immerdar ist grün. - Er kennt sie an der Liebe,
die seiner Liebe Frucht
und die mit lauterm Triebe
ihm zu gefallen sucht,
die andern so begegnet,
wie er das Herz bewegt,
die segnet, wie er segnet,
und trägt wie er sie trägt. - So kennt der Herr die Seinen,
wie er sie stets gekannt,
die Großen und die Kleinen,
in jedem Volk und Land
am Werk der Gnadentriebe
durch seines Geistes Stärk,
an Glauben, Hoffnung, Liebe
als seiner Gnade Werk. - So hilf uns, Herr, zum Glauben
und halt uns fest dabei,
lass nichts die Hoffnung rauben,
die Liebe herzlich sei.
Und wird der Tag erscheinen,
da dich die Welt wird sehn,
so lass uns als die Deinen
zu deiner Rechten stehn.
Karl Johann Philipp Spitta
Jesus kennt uns alle
Es gibt mancherlei Gründe für einen Umzug an einen anderen Ort. Das bedeutet zugleich, ein neues geistliches Zuhause zu finden, Glaubensgeschwister, wie man früher sagte. Und alle, alle wird man kaum persönlich kennenlernen. Um zu möglichst vielen von ihnen persönlich in Kontakt zu treten, braucht ja selbst ein Pastor geraume Zeit.
Leute dieses Amtes verdanken ihre Berufsbezeichnung nicht von ungefähr ihrem Vorbild Jesus Christus, dem guten „Hirten“. Von dem aber wissen wir aus dem Johannesevangelium, dass sie auf ihn hören und er mit ihnen aufs engste verbunden ist. Dieses biblische Motiv prägt die Grundaussagen des Liedes „Es kennt der Herr die Seinen“.
Glaube, Liebe, Hoffnung
Wenn Sie es in einem Liederbuch suchen, werden Sie in den allermeisten Fällen in Liedgruppen wie „Gemeinde“ oder „Gemeinschaft“ fündig. Die erste Strophe beschreibt mit wenigen Worten, welche Leute Christus stets im Blick hat: Christinnen und Christen aller Art, nicht nur „große“ Persönlichkeiten, nicht nur unsere „Landsleute“, sondern Menschen aller Generationen in aller Welt.
Im Evangelischen Gesangbuch findet man das Lied in einer anderen Rubrik. Deren Überschrift besteht aus den drei geläufigen Wörtern, mit denen ein Kapitel des 1. Korintherbriefs abschließt: Glaube, Liebe, Hoffnung. Und diese drei Grundbegriffe christlichen Glaubens werden dann in den Strophen 2 bis 4 des Liedes „Es kennt der Herr die Seinen“ herangezogen und nacheinander als Markenzeichen der Gläubigen und der Christusgemeinde ausgelegt.
„So hilf uns“
Eine fünfte Strophe, die aber nicht mehr in allen Büchern zu finden ist, fasst die vorigen Strophen noch einmal zusammen. Das Lied schließt mit einem gesungenen Gebet. Mit drei Bitten wendet sich die Gemeinde an Christus, ihren Herrn in Zeit und Ewigkeit: „So hilf uns, Herr, zum Glauben“, „lass nichts die Hoffnung rauben“ und „so lass uns als die Deinen zu deiner Rechten stehn“.
Das Lied „Es kennt der Herr die Seinen“ entstand im 19. Jahrhundert. Gedichtet hat es Karl Johann Philipp Spitta, ein lutherischer Gemeindepastor in Niedersachsen. Er war zuvor als Hilfsgeistlicher, dann als Garnisonsprediger und Gefängnisseelsorger tätig und schließlich als Superintendent. Seine Begabung als Dichter entfaltete sich in den frühen Jahren, als Spitta noch – ähnlich wie Paul Gerhardt – als Hauslehrer auf eine Pfarrstelle warten musste.
Immense Auflagenzahl
Ein Freund überredete ihn, seine bisher unveröffentlichten Gedichte herauszurücken. Und der gab sie 1833 in Druck. 1843 folgte ein zweites Bändchen, in dem dieses Lied auftaucht. Die beiden Bücher erreichten eine immense Auflagenzahl! Sie trugen den Titel „Psalter und Harfe“. Die Bibel lässt grüßen.
So heißt es zum Beispiel in Psalm 57,9: „Wach auf, meine Seele, wach auf, Psalter und Harfe, ich will das Morgenrot wecken!“ Spitta war ein engagierter Vertreter der Erweckungsbewegung … Gesungen wird es immer noch, wenn auch auf verschiedene Melodien.
Text: Günter Balders