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Johannes Hartl: Wir müssen nicht alle denselben Sinn finden

Im Gespräch mit Anja Schäfer erklärt Johannes Hartl die Bedeutung der „Warum?“-Frage und wieso Schönheit und Menschlichkeit für ihn zusammengehören.

Dies ist Teil zwei des Interviews von anders-LEBEN-Redakteurin Anja Schäfer mit Johannes Hartl. Den ersten Teil („Beziehung zu Gott ist etwas Geheimnisvolles“) findet ihr hier.

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Ein großes Thema ist für dich der Sinn des Lebens. Du beschreibst ihn als „eingebettet sein in ein größeres Ganzes, das Bedeutung verleiht“. Was macht den Sinn so wichtig?

Johannes Hartl: Nietzsche hat so schön gesagt: „Wenn der Mensch ein Warum hat, kann er mit fast jedem Wie leben.“ Tatsächlich nur mit „fast“ jedem Wie, denn es gibt menschenunwürdige Zustände. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern er lebt unter anderem von der Wahrheit und vom Sinn. Und das hat unterschiedliche Dimensionen. Es fängt bei ganz einfachen Sachen an, wie dass ein Mensch seine Arbeit oder sein Leben als sinnvoll empfindet, dass er sagt: Ich leiste einen Beitrag.

Es geht aber auch um existenzielle Fragen wie „Gibt es ein Leben nach dem Tod?“ – „Gibt es Gut und Böse?“ – „Gibt es Gott?“ – „Gibt es Hoffnung?“ Das sind Fragen, die zutiefst zu uns als Menschen gehören. Und auch eine Gesellschaft lebt vom Sinn. Sie lebt davon, dass wir gemeinsam versuchen, uns an der Wahrheit zu orientieren. Und weil keiner von uns die Wahrheit gepachtet hat, ist in einer freien Gesellschaft der Austausch darüber, was denn die Wahrheit ist, elementar wichtig. Und ich glaube, dass alle diese Dinge in unserer heutigen Zeit eher gefährdet sind oder uns eher im Begriff sind zu entgleiten.

Warum ist das so?

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Zwei Trends erschweren uns das. Zum einen: Die Menge an Input, die wir bekommen, lehrt uns eine oberflächliche Beschäftigung mit Texten, Meinungen und so weiter. Sinn-Orientierung braucht aber eine Distanz, sie braucht ein tieferes Hineindenken, das fällt uns heute schwer. Der zweite Trend ist: Durch die Vielzahl an Meinungen und das Wegbrechen der Überzeugung in der postmodernen Philosophie, dass es so etwas wie einen umfassenden Sinn überhaupt gibt, haben wir immer mehr sich voneinander abkapselnde Meinungsblasen.

Wir werden als Gesellschaft immer weniger miteinander sprachfähig, über das gemeinsam als wahr Genommene überhaupt streiten zu können. Das ist eine Verrohung der Diskurse, die besorgniserregend ist, weil wir als freie Gesellschaft davon leben, dass wir gemeinsam um das Wahre und um den Sinn ringen können. Denn den gibt’s nicht fertig abgepackt von einer politischen Richtung und auch nicht von „der Wissenschaft“, sondern er muss ausgerungen werden.

Wir brauchen das Gegenteil von Cancel Culture.

Müssen wir alle denselben Sinn finden?

Nein, den brauchen wir nicht, aber wir müssen davon ausgehen, dass die andere Seite auch Recht hat oder zumindest teilweise Recht hat, weil niemand von uns unfehlbar ist. In einer Gesellschaft wird es immer Kompromisse geben oder geben müssen, und da geht’s oft auch um das Aushandeln des gemeinsamen Sinns. Aber wenn wir das grundsätzlich aufgeben, weil wir sagen: „Der eine sieht’s halt so, der andere sieht‘s so“, dann hört sich das zwar nach Toleranz an, ist aber keine Toleranz, sondern einfach nur die Vermeidung von einem echten Gespräch.

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Und wo würdest du dir wünschen, dass dieses Gespräch stattfindet?

Überall. Kinder und Jugendliche sollten in der Schule viel mehr lernen zu debattieren, Meinungen zu durchdenken, sich kritisch auseinanderzusetzen – am allerkritischsten mit der eigenen Meinung. Wir bräuchten an Universitäten, an Schulen und im politischen Diskurs viel weniger ein Verurteilen der Meinungen anderer, wir brauchen das Gegenteil von Cancel Culture.

Wir brauchen ein Sich-Auseinandersetzen mit Meinungen, die unbequem sind, wir müssen selbstbewusst darin werden, Meinungen zu vertreten, aber auch Widerspruch zu dulden. Die Sozialen Netzwerke machen das Gegenteil. Sie belohnen uns mit Likes und halten unliebsame Meinungen von uns fern. Deswegen müssen wir, wenn wir gedanklich fit bleiben wollen, diesem Trend der Vereinzelung immer wieder entgegenwirken.

Schönheit ist nachhaltiger

Dein drittes Thema neben Verbundenheit und Sinn ist die Schönheit. Es geht dir dabei aber nicht nur um Ästhetik. Du schreibst: „Ohne das Schöne verliert die Welt ihre Menschlichkeit.“ Was meinst du damit?

Alles, was schön ist, ist auf eine gewisse Weise zwecklos. Man könnte alles auch auf weniger schöne Weise machen: Ich könnte ein Haus bauen, das total hässlich ist, aber funktioniert. Da regnet’s auch nicht rein, das kann man auch heizen. Oder ich kann mich anziehen, einfach nur, damit ich nicht friere. Aber wenn ich etwas mache, das schön ist, dann eben, weil es schön ist. Das Schöne ist ein Zweck für sich selbst.

Meine These ist: Wenn wir Menschen von Schönheit umgeben sind, werden wir daran erinnert, dass wir einfach um uns selbst willen sein dürfen, ohne dass es sich rentiert. Und das ist das zutiefst Menschliche, das der Mensch von seinem Schöpfer hat: Wir haben unser „Sein“ geschenkt bekommen und es kommt von einer guten Quelle. Und das ist es, wovon die Schönheit erzählt.

Du sagst auch: „Das Schöne ist das Nachhaltigere.“ Warum?

Schöne Dinge werden weniger leicht weggeworfen und wir gehen besser damit um. Wenn mein T-Shirt für 20 Cent in Bangladesch produziert wurde, habe ich überhaupt nicht den Anspruch, gut damit umzugehen, weil ich mir halt ein neues kaufe. Das produziert aber ungerechte Verhältnisse. Wenn alles zur Ware wird, wird am Schluss auch der Mensch zur Ware.

Deswegen hängt die Schönheit mit der Menschlichkeit zusammen: Da, wo wir anfangen, Dingen Schönheit zu verleihen, werden wir so damit umgehen, dass diese Dinge Würde und Wert haben. Wir werden sie weniger leicht wegwerfen, wir werden wahrscheinlich bessere Preise dafür bezahlen. Wir werden wahrscheinlich Menschen damit beschäftigen, die nicht gezwungen werden, diese Dinge zu produzieren. Denn damit etwas kreativ und schön hergestellt wird, brauchst du Menschen, die kreativ sind. Und unter Zwang und unmenschlichen Bedingungen sind Menschen nicht kreativ. Deswegen hat es wirklich menschliche Gründe, dass wir das Schöne bevorzugen sollten.

Es gibt eine Schönheit des Unvollkommenen, die uns noch mehr berührt als das Perfekte.

Hat man das früher besser verstanden? Viele Altbauten sind viel aufwändiger gestaltet als die meisten Betonwürfel heute.

Man kann in der Altstadt von Siena Wohnhäuser sehen, die wahrscheinlich schon im 14. Jahrhundert bewohnt waren und immer noch bewohnt sind und die heute Bestpreise erzielen auf dem Immobilienmarkt. Das heißt, es gibt Gebäude, die über Jahrhunderte funktionieren. Heute gibt es gar nicht mehr den Anspruch, für die Jahrhunderte zu bauen.

Ich möchte nicht die Vergangenheit verklären, aber auf der Ebene von Städteplanung müssten wir ganz neu diesen Anspruch haben. Da kommen wir auch zurück zum Thema Verbundenheit: Es gibt auch eine Verbundenheit über die Generationen hinweg. Heute kauft keiner mehr ein Handy, das zehn Jahre alt ist, das hat technisch jeden Nutzen verloren. Neu zu entdecken, dass es aber Dinge gibt, die ihren Wert über Jahrhunderte entfalten, ist umso wichtiger.

Du schreibst: „Im Zweifel entscheide dich für das Schöne.“ Ich finde, das hat auch eine Kehrseite, nämlich wenn Menschen endlos Zeit und Geld in ihr Zuhause, ihren Garten, ihr Aussehen stecken.

Ja, da bin ich komplett bei dir. Die Frage ist, ob Perfektion und Schönheit immer das Gleiche ist. Einerseits geht es darum, um Exzellenz zu ringen, etwas also schönstmöglich zu tun. Daneben gibt es aber einen zweiten Wert, den nenne ich „barmherziger Blick“. Es gibt eine Schönheit des Unvollkommenen, die uns noch mehr berührt als das Perfekte. Wenn ich in den Garten meiner Eltern komme, erwarte ich dort nicht, dass da alles perfekt in Schuss ist, sondern Teil seiner Schönheit ist, dass er schon so alt ist und Geheimnisse birgt, und manches ist schon verrostet.

Das ist der „gnädige Blick“, der auch im Unvollkommenen Schönheit entdeckt. Ich glaube, wenn wir den „gnädigen Blick“ nicht mehr haben, weil wir so sehr in der Selbstoptimierung gefangen sind, dann wird die Schönheit zu etwas Sklavischem. Menschen leiden entsetzlich unter dem Schönheitskult. Dieses Gnadenlose ist keinesfalls die Schönheit, von der ich spreche.

Gott selber ist Mensch geworden

Du wirbst in deinem Buch auch für Kontemplation. Was ist das und warum hältst du sie für hilfreich?

Das Wort Kontemplation wurde zum ersten Mal in der Hochscholastik definiert, und zwar als „einfacher Blick in die Wahrheit unter Einfluss der Liebe“. Wenn ich das richtig sehe, gibt es zwei Strömungen der Mystik. Die östlichen Formen wie im Buddhismus betonen stärker die Abkehr von den Dingen. Und die stärker westliche Form, die in der Philosophie, aber auch im Christentum eine Rolle spielt, die glaubt, dass in den Dingen etwas aufstrahlt.

Allem voran: Gott selber ist Mensch geworden. Also nicht: Die Welt hat sich aufgelöst in ein nebulöses Dahinter, sondern Gott hat Menschengestalt angenommen und gibt dadurch der Welt und der Schöpfung und den Menschen eine unglaublich große Würde. Kontemplation heißt eigentlich Betrachtung. Sie ist eine Form des stillen, liebevollen Hinblickens auf die Wahrheit, in der man sich dem Du zuwendet.

Wie sieht dieses Hinblicken konkret aus?

Ich könnte jetzt durch die Jahrhunderte aufzeichnen, wie unterschiedliche Schulen damit umgegangen sind. Im Osten gibt es stark das Jesus-Gebet, wo man praktisch nur den Namen von Jesus ausspricht. Im Westen, bei Theresa von Ávila und Johannes vom Kreuz, gab es so ein Schweigen ohne Methode. Aber es geht immer – und das ist der entscheidende Unterschied zur Meditation – im letzten um eine Begegnung mit Gott, die sich im Hier und Jetzt ereignet, und nicht um ein Ausweichen.

Vieles von moderner Meditation und auch Achtsamkeit ist nichts anderes als Selbstoptimierung.

Kürzlich zeigte eine Studie, dass Meditation eher nicht barmherziger oder verständnisvoller macht, sondern ichbezogener. Das leuchtet mir ein, weil mir Meditation eher selbstzentriert erscheint.

Es ist sogar noch viel dramatischer, als was du sagst. Der Zen-Buddhismus, den ich persönlich sehr schätze und aus dem auch viel von unserer westlichen, pseudo-buddhistischen Spiritualität kommt, war erstaunlich anfällig für das faschistische Gedankengut Japans. Eine Versenkung ins Innen, wo aber kein Du ist, kein liebendes Gegenüber, kann spirituell total anfällig für allerhand sein. Und vieles von moderner Meditation und auch Achtsamkeit ist nichts anderes als Selbstoptimierung.

Es gibt einen Grund, warum große Firmen ihren Mitarbeitern Meditationskurse sponsern: Nicht, weil sie an der Erleuchtung ihrer Mitarbeiter interessiert sind, sondern weil sie wissen, dass man sich über Meditation besser konzentrieren kann und leistungsfähiger wird. Daran ist nichts falsch bei Meditation, alles wunderbar. Aber im Letzten ist das Ziel des geistlichen Lebens nicht die Optimierung meines Selbst, sondern das Einlernen in die Liebe. Und die Liebe sucht das Gegenüber, sucht das Du. Das ist der große Unterschied zwischen Gebet und Kreisen um sich selbst.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Anja Schäfer.


Dieses Interview erschien im Magazin andersLEBEN (Ausgabe 04/21). andersLEBEN ist ein Produkt des Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.

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1 Kommentar

  1. Das Gegenteil von Cancel Culture

    „Wir bräuchten an Universitäten, an Schulen und im politischen Diskurs viel weniger ein Verurteilen der Meinungen anderer, wir brauchen das Gegenteil von Cancel Culture“! Das sagt Johannes Hartl völlig zurecht. Ich kenne das als heutiger Rentner noch aus den Nach1968er Jahren, als wir zwischen den Hippi- und Jesus-People-Jahren leidenschaftlich diskutierten, Fromme mit Ungläubigen, Weltretter mit Leuten einer abgehobenen Philosophie oder auch Partei-übergreifend. Damals als ich die Studenten in Berlin demonstrieren sah, und die Spingerpresse Hass verbreitete nach dem Motto „werft den Mob ins Wasser“, sagte ich mehr rhetorisch gemeint im Ev. Jugendkreis: „Warum sind wir eigentlich als Christinnen und Christen nicht auch etwas revolutionärer. Dann mit unseren Mitteln, mit einem Aufstand den Jesus vielleicht gut gefunden hätte und einer ganz anderen Revolution der Liebe“! Ich und wir haben solche und ähnliche Gedanken auch in die philosophischen/politischen sowie auch in die eher sinnleeren Wortgeplänkel dann oftmals eingebracht. Interessant ist, dass hieraus viele anregende Gespräche entstanden. Für mich war dies ein Mehrwert, denn wenn ich die Argumente anderer Leute auch nicht so schnell teilte, so konnte ich die Mitmenschen doch besser verstehen. Und meine Gegenüber verstanden mich und die von meiner Sorte ebenso besser, zumindest dass Jesusnachfolger nicht weltfremde und/oder naive Spinner sind. Der heutige Versuch Rechtsradikaler, die Gesellschaft aus Anlass von Corona und Klimakrise zu spalten – und dafür sich in die Protestierer einzureihen – und darauf ihr eigenes Krisen-Süppchen zu kochen, macht mich nicht hoffend, man könne Radikalisierte wirklich umstimmen und überzeugen. Aber ich glaube um so mehr, dass der künftige Kulturkampf darin bestehen müsste, Frieden und Versöhnung zu praktizieren, sodass sich die Anständigen, die Jesusnachfolger, die guten Demokraten und alle Menschen guten Willens zusammentun. Vielleicht brauchen wir dazu wieder weltweit flächendeckend eine neue Form von Friedensgebeten. Denn weder Corona noch Klimakrise werden uns schnell verlassen, das Ende des letzteren Übels werde ich alternder Rentner auf Erden nicht mehr erleben. Aber all dies ist besser zu ertragen, wenn wir um eine bessere und erneuerte Schöpfung wissen, die unsere Zukunft beinhaltet. Meine Erfahrung aus vielen Jahren Gespräch und Diskussion ist, dass viele Menschen keine wirkliche Hoffnung haben. Aber ich hoffe und glaube, dass in Leben und Tod niemand an Gott vorbeikommt. Und dass Gott völlige Liebe ist.

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