Derzeit berät der Bundestag über den Eintrag eines „dritten Geschlechts“ in das Personenstandsregister. Die Reaktionen, die das bei manchen Christen hervorruft, sind nur schwer zu verstehen, denn die meisten der Kommentare gehen an der Realität vollkommen vorbei.
Von Nathanael Ullmann
Zugegeben: Als ich gestern die Kurzmitteilung auf Jesus.de veröffentlicht habe, dass der Bundestag derzeit die Einführung der Kategorie „divers“ neben „männlich“ und „weiblich“ diskutiert, hatte ich ein wenig Bauchschmerzen. Nicht der Kurzmitteilung wegen, so etwas ist als Journalist Teil des täglichen Geschäfts. Sondern weil ich ernsthaft Angst vor den Reaktionen unserer christlichen Community hatte. Meine Erfahrung ist, dass sich manch ein Christ nur oberflächlich mit der Unterscheidung Intersexualität/Transsexualität und den Schicksalen dahinter beschäftigt. Das trifft weiß Gott nicht auf alle zu, wie so oft im Leben. Trotz allem bemerke ich gerade in christlichen Kreisen jedoch einen sehr polemischen Umgang mit dem Thema.
Noch einmal in aller Klarheit: Bei den derzeitigen Diskussionen im Bundestag geht es um Intersexualität. Es stehen also die Menschen im Fokus, die mit Geschlechtsmerkmalen beider Geschlechter geboren und umgangssprachlich gerne „Zwitter“ genannt werden. Ja, in der Bibel steht, dass Gott Mann und Frau erschaffen hat. Nur von diesem Satz ausgehend die Existenz von intersexuellen Menschen zu leugnen, funktioniert schlichtweg nicht. Das dritte Geschlecht ist, wenn man so möchte, ein medizinisches Faktum. Und darunter leiden die Betroffenen mit ihren Familien oft am allermeisten.
Ein Interview gab den Anstoß
Mein Augenöffner war ein Interview, dass ich vor einigen Jahren für ein Jugendmagazin mit einer intersexuellen Person geführt habe (die, das nur am Rande, aus einer sehr christlichen Familie stammt und selbst Christ(in) ist). Hier wurde mir schlagartig bewusst, was für ein Kreuz diese Menschen zu tragen haben. Nach der Geburt oder im Heranwachsendenalter wird ihnen nicht selten ein Geschlecht aufgezwungen. Weil es nach unserer sozialen Vorstellung eben nur Mann und Frau geben kann, werden sie körperlich zu etwas gemacht, das sie gar nicht sind. Ihnen wird medizinisch ein Teil ihrer Identität genommen.
Ein sehr holpriger Vergleich ist vielleicht der mit einer Frau, die sich wegen Brustkrebs von ihren sekundären Geschlechtsmerkmalen trennen muss. Das führt nicht selten in eine identitäre Krise. Nur hat diese Frau eine Entscheidungsmöglichkeit, die Operation rettet unter Umständen ihr Leben. Intersexuelle können sich zu oft schlichtweg nicht entscheiden. Ihnen wird etwas aufgezwungen.
Diese Situation empfinde ich als schrecklich. Ich kann nur zu gut verstehen, dass Menschen hier für ihr Recht aufstehen, selbst entscheiden zu dürfen, welchem (und ob überhaupt einem) Geschlecht sie angehören wollen. Dass sich dann jedoch Christen dagegen erheben, diesen Fakt leugnen und deklarieren, Intersexuelle könne es schlichtweg nicht geben, weil sie in der Bibel nicht explizit erwähnt werden, finde ich abartig. Es geht hier nicht um einen Gefühlszustand. Hier darf es meiner Meinung keine Diskussion geben. Es ist unsere christliche Pflicht, diesen Menschen beizustehen. Denn sie machen schreckliche Zeiten durch, die wir uns nicht vorstellen können.
Auch Transsexualität ist keine Laune
So viel zum derzeit diskutierten Thema Intersexualität. Damit ist die aktuelle Bundestagsdiskussion auch schon abgehakt. Gehen wir trotz allem gemeinsam noch einen Schritt weiter: Eine ähnliche Position würde ich persönlich auch beim Thema Transsexualität einnehmen, also bei Menschen, die sich als das Geschlecht identifizieren, das ihrem Körper entgegengesetzt ist. Zugegebenermaßen kann ich hier die Reaktion mancher christlicher Transsexualitätsgegner zumindest nachvollziehen, wenn schon nicht teilen. Denn hier ist die Sachlage nicht ganz so offensichtlich. Es liegt eben kein Zwitterdasein vor, sondern das Gefühl, anders zu sein. Es geht also um eine innere Einstellung, nicht um äußere Fakten.
Und trotz allem habe ich den Eindruck, dass Christen oft ein falsches Bild von diesen Menschen haben. Es ist nicht so, dass ein transsexueller Mann morgens aufsteht und sich denkt: „Jetzt mal eine Frau sein.“ Zumindest wäre mir keiner bekannt. Die Entscheidung, das andere Geschlecht anzunehmen, ist keine Laune. Es ist (in aller Regel) ein langer und belastender Prozess. Diese Menschen haben mit Verachtung von allen möglichen Seiten zu kämpfen: von Freunden, Familienmitgliedern, nicht selten auch von sich selbst. Und da sitzen wir Christen, die sich glücklicherweise im richtigen Körper empfinden, auf einem hohen Ross, schauen herunter und urteilen aus der Ferne, dass das ja nicht richtig sein könne? Wie vermessen sind wir eigentlich?
„Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein“ – mal ganz davon abgesehen, dass ich persönlich bei Transsexualität nicht von Schuld sprechen würde, ist dies ein Satz, der mir bei solchen Diskussionen immer wieder in den Kopf schießt. Wir Christen reden immer von einem gnädigen Gott, sind selbst aber so schnell darin, andere zu verurteilen. „Ja“, werden manche sagen: „Aber nicht die Personen, nur ihre Sünden.“ Ist das denn so viel besser? Was gehen uns die (vermeintlichen) Sünden der anderen an, wenn wir selbst – und damit meine ich jeden einzelnen Leser hier, mich eingeschlossen – knietief im Sündenpfuhl drinstecken und es oft selbst nicht merken?
Miteinander reden, statt übereinander
Jedem, der hier einen großen Bruch mit den Geboten Gottes sieht, empfehle ich, vor seinem Urteil mindestens einmal länger und vor allem vorurteilsfrei mit einer transsexuellen Person zu sprechen. Ich bin mir sicher, danach wird er sich mit seinem Urteil deutlich schwerer tun. Allgemein ist das mein Aufruf: Lasst uns mit diesen Menschen sprechen, nicht über sie.
Noch einmal ganz explizit gesagt: Meiner Meinung nach sollte es uns Christen nicht darum gehen, herauszufinden, was denn nun Sünde ist und was nicht. Das hat jeder für sich selbst mit Gott auszumachen. Aber es geht mir darum, Menschen hinter den Begriffen zu sehen, zu verstehen, welches Kreuz jeder von ihnen zu tragen hat und ihnen nach Möglichkeit zu helfen, es mit ihnen zu tragen. So verstehe ich das höchste unserer Gebote: „Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst“.
Nathanael Ullmann, als Sohn eines Pfarrers in Belgien geboren, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft in Bochum.
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