Sem Dietterle ist Jugendpastor, Content Creator und Referent für Social-Media-Arbeit. Hier spricht er über KI in der Gemeindearbeit und erklärt, warum Christen auch „toxische“ Orte in sozialen Netzwerken aufsuchen sollten.
In einem Post hast du mal gesagt, dass Social Media ein Muss ist für Kirchen und Gemeinden heutzutage. Das ist eine provokante Aussage. Wie hast du das gemeint?
Ja, das war bewusst provokant. Es ist klar, dass es Gemeinden gibt, die kein Social Media haben und es auch nicht brauchen, weil die Zielgruppe vielleicht gar nicht die richtige ist. Trotzdem ist Social Media wichtig, und damit meine ich gar nicht nur TikTok oder Instagram. Heute haben viele Gemeinden YouTube-Accounts. Ich kann das ganz praktisch aus meiner Arbeit berichten. Viele, die neu in unsere Gemeinde kommen, sagen: „Wir haben euren YouTube-Account gesehen, deswegen kommen wir jetzt zu euch.“ Die Leute finden auch mal eine Website, aber parallel und vielleicht sogar noch mehr nutzen sie Social Media, um Gemeinden zu suchen. Sie wollen erstmal reingucken, irgendwie Teil davon werden im digitalen Leben, bevor sie dann im echten Leben andocken.
Als Creator ermutigt ihr zu Content auf Social Media. Auf der anderen Seite warnt ihr vor zu viel Konsum. Ist das nicht ein Widerspruch?
Man kann das als Widerspruch sehen, aber es geht um die Balance. Wir wünschen uns einen gesunden Umgang mit diesem Medium, und wir leiden darunter, dass die Macher der Plattformen uns eigentlich eine ‚Droge‘ in die Hand geben, die uns abhängig macht. Wir leiden ein Stück weit selbst an dieser Social-Media-Welt. Gleichzeitig wissen wir aber darum, dass wir sie nicht abschalten können und dass sie Realität ist.
Soziologen sagen, diese Plattformen verändern unser Zusammenleben und unsere Gesellschaft. Das allein ist schon Grund genug, zu sagen: Wenn sie uns als Menschheit verändern, dann wollen wir sie auch mitgestalten. Da sehe ich eine große christliche Verantwortung. Wir als Christen sind gefordert, eben gerade da hineinzugehen. Auch dorthin, wo es toxisch ist. Ich vergleiche das manchmal mit Streetworkern. Sie werden dafür gefeiert, dass sie in das prekäre Viertel hineingehen. Aber Leute, die auf Social Media gehen, werden manchmal dafür verachtet.
Social Media nimmt uns unglaublich viel Lebenszeit und Lebensenergie.
Sem Dietterle
Was rätst du den Jugendlichen, die du betreust, in Bezug auf ihren Social-Media-Konsum?
Ich rate immer zu einem sehr bewussten und begrenzten Umgang. Und ich versuche, das vorzuleben. Mir persönlich fehlt die mentale Stärke oder die Willenskraft, mich selbst zu beschränken. Ich merke: Wären die Apps geöffnet, würde ich morgens nach dem Aufstehen direkt scrollen – und das macht etwas mit mir. Also habe ich den Zugriff auf meine Social-Media-Apps über weite Strecken des Tages gesperrt. Ich habe täglich nur ein Zeitfenster vom Nachmittag bis zum frühen Abend, in dem sie nutzbar sind. In diesem Zeitraum habe ich aber auch am meisten zu tun. In meinem Alltag ist daher kaum Zeit, um Social Media zu nutzen.
Auf Freizeiten machen wir mit den Jugendlichen einen Social-Media-Detox. Oder sie geben nachts ihr Handy ab, so wie ich auch. Das Handy ist nicht das erste und letzte am Tag, sondern vielleicht die Freundschaft, die Begegnung, ein Buch. Oder einfach der Gedanke, was passiert heute? Das versuche ich, den Jugendlichen mitzugeben.
Denkst du, dass es bestimmte Dinge immer geben wird, die Social Media niemals bieten oder ersetzen kann?
Wahrscheinlich Tiefe in aller Lebensform, eine tiefe Art der Begegnung mit Menschen. Auch eine tiefe Erkenntnis in Lebensweisen. Ich glaube, dass Social Media uns unglaublich viel nimmt an Lebenszeit, Lebensenergie und manchmal auch zu Trägheit führt. Es gibt viele Dinge, die uns da nicht gegeben werden können. Social Media kann uns Inspiration geben, uns motivieren, uns beflügeln, Themen enttabuisieren. Aber ich glaube, dass es uns im echten Leben eigentlich die Stabilität nimmt, weil wir gar nicht präsent sind bei uns und unseren Mitmenschen.
Stell dir vor, Paulus würde in der heutigen Zeit leben und einen Brief an die Influencer-Gemeinde schreiben. Was würde er ihnen sagen?
Wahrscheinlich würde er viele Sachen identisch zu 1. Thessalonicher 5,11 sagen – erbaut euch, ermutigt einander. Die Kritik, die Paulus üben würde, wäre genau das: Ihr seid alle ein Leib in Christus und deswegen ist es wichtig, den Fokus auf Erbauung und Ermutigung zu legen, anstatt nur auf die Kritik oder den Widerstand und die Empörung, die wir im Social-Media-Bereich natürlich auch oft sehen.
Ich nutze KI viel
Sem Dietterle
im Bereich Kids und Jugend.
Du sprichst auf Social Media viel über KI. In welchen Gemeindebereichen kann KI ganz konkret helfen?
In der Gemeindearbeit nutze ich KI viel im Bereich Social Media, um Content einfacher zu erstellen oder aus Predigten kurze Clips zu machen. Aber eine Gemeinde an sich kann KI natürlich noch in ganz vielen anderen Bereichen nutzen. Du kannst ein Lektorat machen lassen vom Gemeindebrief. Oft haben die Leute, die Korrektur lesen müssen, gar keine Lust darauf und sind happy, wenn es eine KI übernimmt.
Ich nutze KI auch viel im Bereich Kids und Jugend. Aus einem biblischen Text kann ich für den Kindergottesdienst ein Theaterstück schreiben lassen, sogar passend zu den Persönlichkeiten der Schauspieler. Ich kann mir eine ganze Liste an Spielen generieren lassen oder interaktive Ideen. Für die Predigt nutze ich das, um Visualisierungen zu finden. Ich kopiere meinen Kerngedanken in ein Sprachmodell und frage, welche Symbole ich verwenden kann, um ihn zu verdeutlichen. Die helfen mir und am Schluss den Gottesdienstbesuchern, sodass ich eigentlich eine bessere Predigt halte.
Ich nehme trotzdem wahr, dass viele Christen Angst vor KI haben, das auch einfach ablehnen. Denkst du, das ist eine Generationenfrage? Oder eine Frage der Überzeugung?
Ich glaube, das liegt mehr an unserer Kultur. Wir Deutschen haben ein vorsichtiges Gemüt und haben Angst vor den Dystopien, die erzählt werden. Was ist, wenn wir am Ende reguliert werden von fremdartigen Technologien? Ich kann die Angst nachvollziehen. Die wird natürlich auch geschürt, wenn Menschen, die KI-Unternehmen betreiben, ihre Visionen vorstellen und erzählen, was in Zukunft alles möglich ist. Allerdings müssen diese Leute hoch pokern, weil sie natürlich auch von Investoren abhängig sind.
Meine Erfahrung ist: KI kann noch gar nicht so vieles. Es gibt keine Subintelligenz, die eigenständig denkt. Aktuell ist eine KI nur wie eine Spülmaschine, die ausführt, was ich sage. Natürlich komplexere und verschachtelte Aufgaben. Aber am Schluss ist es immer nur ein Programm, das meine Befehle ausführt, für einen ganz speziellen Grenzbereich.
Wir gestalten neue Technologien mit. Wir nutzen sie für unsere Vorteile, anstatt sie zu boykottieren.
Sem Dietterle
Bonhoeffer betont es, in der Welt zu sein, auch in der gefallenen Welt. Auch in der Bibel gibt es das immer wieder. Jesus hat gesagt: „Seid wie ein Licht in der Welt. Seid wie eine Öllampe, die ihr auf einen Lampenständer stellt.“ Das ist eigentlich ein Bild dafür, dass das Evangelium wie ein Licht ist. Aber diese Lichtquelle, von der Jesus spricht, ist die effektivste, die es in der damaligen Technologie gab. Er hat nicht gesagt: „Macht ein Lagerfeuer wie die Urzeitmenschen“, sondern: „Nutzt die neueste Technologie, die effizienteste, die beste und die stärkste, die es aktuell gibt, um Licht zu sein.“ Und ich glaube schon, dass wir Christen in der Technologie auch die Chancen sehen sollen und müssen. Wir sollten sagen, wir gestalten sie mit, wir nutzen sie für unsere Vorteile, anstatt sie zu boykottieren. Denn Boykott ist am Ende auch aufgeben. Ich könnte lange über dieses Thema reden – es gibt so viele Vorteile von KI. Ich bin niemand, der sagt, KI sei die Erlösung der Welt, aber es ist durchaus ein Tool, das uns helfen kann.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Tim Bergen am Rande der christlichen Social Media Night in Wiesbaden. Er ist Volontär bei Jesus.de und dem Männermagazin MOVO.
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