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Christsein ade: „Den Glauben abzulegen war wie eine Therapie“

Tobais Faix, Martin Hofmann und Tobias Künkler vom Institut „empirica“ gehen in einer neu veröffentlichten Studie der Frage nach, warum Menschen ihren Glauben verlieren. Über die Ergebnisse haben sie ein Buch veröffentlicht. Die Autoren lassen Menschen zu Wort kommen, die sich vom Glauben abgewandt haben, und zeigen mögliche Gründe für diesen Schritt auf.

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Was war für euch die überraschendste Erkenntnis aus der Studie?

Tobias Künkler: Vor allem, wie unterschiedlich die Geschichten waren. Wir haben zwar gewisse Muster herausgefunden, die sich wiederholen, aber die Breite an Ursachen und Motiven hat mich sehr überrascht. Bei manchen geht es um ganz schlechte Erfahrungen in der Gemeinde, die ein positives Bild des Glaubens verhindert haben. Andere hatten das Gefühl, Gott überhaupt nicht zu erleben, zu spüren.  Diese zwei Geschichten haben zum Beispiel eigentlich nichts miteinander zu tun…

…und haben trotzdem zum gleichen Ergebnis geführt.

Tobias Faix: Genau. Für mich gab es noch eine ganze Menge anderer Überraschungen. Ein Thema, dass ich persönlich ein bisschen unterschätzt hatte, ist die starke Rolle des neuen Atheismus und von Zweifeln. Auch bezeichnend fand ich, dass fast alle Befragten diesen Prozess der Dekonversion – der ja oft über Jahre hinweg ging – weitgehend alleine durchgestanden haben. Es gab wenige Angebote von Kirchen und Gemeinden, die das aufgegriffen hätten.

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Könnt ihr euch vorstellen, warum das so ist?

TF: Manche wollten sich bewusst nicht beeinflussen lassen und wollten diese Entscheidung unabhängig von Familie, Hauskreis oder Jugendkreis treffen. Von denen wussten sie ja, dass sie nicht „neutral“ waren. Andere spürten, wie „Vor dem Thron Gottes verschwinden alle Zweifel…“Versuche, das Thema anzuschneiden, einfach abgeblockt wurden. Sie trafen auf völliges Unverständnis für ihre Fragen. Ich erinnere mich an Sätze wie: „Du musst einfach mehr beten, dann wird das schon gehen“ oder „Stell dich in die Anbetung! Wenn du vor dem Thron Gottes bist, verschwinden alle Zweifel“. Das wird selten so offen gesagt, meist sind es ungeschriebene Gesetze. Es gab niemanden in der Studie, der sagte: „In meiner Gemeinde sind Zweifel nicht erlaubt!“. Aber viele hatten das Gefühl: Wenn ich jetzt sage, was ich wirklich glaube, dann bin ich hier raus! Und das machte ihnen natürlich zu schaffen: Ausgerechnet da, wo meine geistliche Heimat ist, da konnten sie das nicht aussprechen…

Ist das in Gemeinden eine unbewusste Angst, ein Fass aufzumachen? Oder sogar eine bewusste?

TK: Ich glaube, das ist unbewusst. Es gibt gewisse Vorstellungen davon, wie ein Christ zu sein hat. Das sind ungeschriebene Gesetze, die dann auch negativ prägen können. Bonhoeffer schreibt, wir sind als Christen keine Gemeinschaft, die alles richtig macht, sondern wir sind eine Gemeinschaft von Sündern. Das aber konnte scheinbar bei vielen in der Gemeinde nicht zur Sprache gebracht werden. Oder sie hatten zumindest das Gefühl, es wäre so. Oft stand das Verbot, etwas zu äußern, eher zwischen den Zeilen.

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Klare Regeln haben dem einen geholfen, der andere kam genau damit nicht zurechtTF: Ich fand auch sehr herausfordernd, dass ähnliche Situationen von unterschiedlichen Leuten sehr unterschiedlich empfunden wurden. Sehr klare Regeln zum Beispiel haben dem einen geholfen, der andere kam genau damit nicht zurecht. Es gibt kein Pauschalrezept. Die einen haben sich entkehrt, weil ihnen der Glaube zu sehr ein Gefühl war, die anderen, weil sie Gott nicht mehr spürten.

TK: Auch die Gemeindeerfahrungen waren sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite hat man wirklich in Abgründe gesehen: Die Atmosphäre, das Verhalten, was als Glaube gelehrt wird. Aber es gab auch Leute, die ihrer Gemeinde ein ideales Verhalten in diesem Prozess bescheinigten – und auch das hatte ihnen nicht geholfen. Es gab sogar einen Mann, der nach wie vor mit seiner Frau in die Gemeinde geht und sich dort engagiert, obwohl er nicht mehr glaubt. Einfach weil er sich dort wohl fühlt.

TK: Das besondere an dieser Studie ist: Wir lassen das alles so stehen. Wir werten nicht, wir wollen diese Geschichten ernst nehmen – auch in ihrer Tragik. Und da sind uns wie gesagt schlimme Situationen in Gemeinden und Familien begegnet. Bis hin zu geistlichem Missbrauch mit Kindern, Dinge, die zwanzig Jahre später immer noch nicht aufgearbeitet sind und durch die Gottesbilder geprägt wurden. Das sind Sexueller Missbrauch, geistlicher Missbrauch und subversive Manipulation hatten wir in evangelischen, katholischen und freien Gemeinden.Kristallisationspunkte, bei denen sich dann selbst die unterschiedlichsten Biografien treffen und an denen sich der Bruch mit dem Glauben eigentlich entscheidet. Manipulation und Missbrauch ist einer davon. Du kannst dorthin von mehreren Seiten kommen – das kann Moral sein, aber auch Macht. Du kannst eine ganz konservative Freikirche und eine liberale Landeskirche haben, um mal die Klischees zu bedienen. Und beide scheitern an diesem Machtmissbrauch auf unterschiedliche Art und Weise. Das ist definitiv ein Ansatzpunk für Gemeinde bei diesem Thema: Selbstreflektierter sein, Räume öffnen, um diese missbräuchlichen Situationen zu vermeiden. Das Thema ging quer durch die Denominationen. Sexueller Missbrauch, geistlicher Missbrauch und subversive Manipulation hatten wir in evangelischen, katholischen und freien Gemeinden.

Welche Kristallisationspunkte habt ihr noch gefunden?

TK: Identität war ein ganz entscheidender. Es gab viele Menschen, die merkten, dass sie irgendwie anders sind als die meisten anderen in der Gemeinde. Und dass sie eigentlich in zwei Welten lebten. Das zerriss sie dann innerlich. Sie schafften es nicht, eine einheitliche Identität zu entwickeln oder zu bewahren. Um sich überhaupt persönlich weiterentwickeln zu können, um psychisch gesund bleiben zu können, mussten sie den Glauben ablegen, das war zumindest ihre Antwort darauf. Es sind oft kleine Differenzerfahrungen, die dann mit der Zeit wachsen. Wenn diese Menschen dann nicht Erfahrungen machen, die ihnen helfen, beides wieder zu integrieren, dann wird irgendwann die Lücke zu groß. Dann sehen sie keinen anderen Ausweg mehr, als diese Seite von sich abzuschneiden.

Habt ihr Hinweise gefunden, was diesen Menschen geholfen hätte, ihre Integrität wieder zu finden?

TK: Im Grunde ist das die Frage: Wie kann ein mündiger, reifer, im positivsten Sinne widerstandsfähiger Glaube aussehen? Die falsche Antwort wäre sicherlich: Alles läuft glatt und mein Glaube sieht souverän aus. Es gilt vielmehr herauszufinden, wie man gerade mit den Brüchen und Widersprüchen und den offenen Fragen, den Zweifeln und den Zerrissenheiten auf eine positive Art und Weise umgehen kann. Das wird in Gemeinden ganz offensichtlich sehr wenig thematisiert.

TF: Also ich würde ja noch eine Schippe drauflegen: Ich bin evangelischer Theologe, der bald 500 Jahre Reformation und damit die Gnade gegenüber dem Sünder feiern soll. Es gibt seit 15 Jahren Zeitschriften wie AufAtmen und unzählige Bücher, die uns sagen: Selbst der Bruch und das Burn-Out machen deine Lebensgeschichte besser. „Nein, zu Gott kann ich nicht so kommen, wie ich bin!“Und wir singen im Gottesdienst ständig „Zu dir kann ich so kommen, wie ich bin.“ Und trotzdem scheint in vielen Gemeinden keine Sprachfähigkeit da zu sein, miteinander darüber ins Gespräch zu kommen. Und es auszuhalten, wenn Leute Zweifel haben. Das macht mich ärgerlich. Wo sind die Räume, die Offenheit, die Atmosphäre dafür? Es gab einen schönen Satz: Die Christen sind nicht das, was sie singen. Der Satz bringt es für mich sehr auf den Punkt. Wir feiern ja jetzt auch 15 Jahre Worship und trotzdem sagen Menschen scheinbar: „Nein, zu Gott kann ich nicht so kommen, wie ich bin!“

TK: Ja, und es werden dann oft Dinge auf eine falsche Art und Weise vergeistlicht. Da Predigt der Pastor doppelt to lange wie vereinbart und sagt dann: „Das war der Heilige Geist.“ Damit unterläuft er jede Form von Kritik und fördert nicht die Mündigkeit. So etwas sind sicherlich Extremfälle, aber ich glaube, in christlichen Kreisen gibt es durchaus die Tendenz, dass Christen sich untereinander nicht trauen, etwas zu kritisieren, weil sie dann denken, sie würden ja vielleicht auch Gott kritisieren, weil der durch die anderen handelt. Außerhalb von Gemeinde würden sie das problemlos machen, aber in Gemeinde nicht. Diese Vermischung zwischen Menschlichen und Göttlichem, zwischen eigenen Gedanken und heiligem Geist, ist auf der einen Seite eine große Herausforderung, auf der anderen Seite ist es ja auch eine tolle Sache. Denn es zeigt, wie sehr wir die Gemeinschaft brauchen, die dann gemeinsam überlegt, ob es jetzt von Gott ist oder nur von mir. Das ist ein sehr evangelisches Prinzip und genau das hat aber bei manchen unserer Studienteilnehmer irgendwie nicht funktioniert. Da entstehen solche missbräuchlichen Machtgedanken, bis hin zu Sätzen wie: „Du musst dich jetzt Gott unterordnen, musst demütig sein, der Geist Gottes sagt dir dies und das“. Eine junge Frau hat Lieder auf diese Weise missverstanden: „Immer mehr von dir“ hieß für sie: Immer weniger von mir. Und am Ende war von ihrer eigenen Identität nichts mehr da. Und dann kommt die Dekonversion, weil das wie eine Art Therapie wirkt. Für manche war die Dekonversion tatsächlich der Schlüssel um überhaupt weiterzuleben. Das finde ich sehr herausfordernd.

In vielen Lobpreisliedern herrscht ein ziemlicher MasochismusTF: Tja, in manchem sind die Christen dann wohl doch wie sie singen. In vielen Lobpreisliedern herrscht ein ziemlicher Masochismus mit einer Menge Kontrollfantasien. Über mich soll Kontrolle gewonnen werden und ich soll Verantwortung abgeben und Gott macht das schon.  Reden da nicht oft unsere Lobpreissongs lauter als die Predigt? Dann ist es ja auch kein Wunder, wenn die Leute als wesentliche Botschaft wahrnehmen: „Ich muss weniger werden“. Wie sollen sie da eine eigene Identität im Glauben entwickeln?

TK: Dasselbe kommt oft auch in anderer Gestalt: Wenn etwas gelingt im Leben, dann war es Gott, man ist dankbar. Wenn etwas misslingt, dann war ich das selbst. Da kann sich kein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln. Da ist gesunde Lehre, gesunder Glauben und gesundes Gottesbild gefragt. Da sind die Gemeinden gefordert, Zweifel nicht zu verteufeln, sondern sie zu einem Nährboden für eine neue Reife zu machen.

Wenn sich Menschen vom Glauben abwenden, wenden sie sich dann eher von ihrer frommen Sozialisation und ihrem Gottesbild ab, bleiben aber immer noch „spirituell“? Oder wenden sie sich dann meist ganz von der Idee eines Gottes ab?

TK: Das war nicht so eindeutig. Einige haben mit dem Christsein auch mit Gott abgeschlossen. Andere haben gesagt: Ich war vorher spirituell, das bin ich jetzt auch wieder, der christliche Glaube hatte mir eine Sprache dafür gegeben, die habe ich wieder verloren. Und jetzt bin ich auf der Suche nach einer neuen Sprache. Es gab da kein klares Muster.

Welche Konsequenzen müssen wir aus der Studie ziehen?

TF: Erstmal ist es wichtig, überhaupt die Möglichkeit zu thematisieren, dass Menschen ihren Glauben verlieren können. Die erste Reaktion auf unser Buch ist häufig: „Eine Studie mit Entkehrten? Das ist ja komisch.“ Aber nach kurzem Nachdenken sagen dann viele: „Ja! Das kenne ich aus meiner Familie, aus meinem Freundeskreis, von meinen Studienkollegen, von meinen Arbeitskollegen.“ Ich wünsche mir, dass wir sprachfähig werden für dieses Thema. Denn einer der Kristallisationspunkte war auch, dass in Gemeinden oder Hauskreisen darüber einfach nicht gesprochen wurde. Es gab keinen Raum für Zweifel und Kritik. Zweitens müssen wir weiter an dem Bereich „Macht“ und „missbräuchliche Situationen“ arbeiten. Dabei müssen wir auch manche Strukturen grundsätzlich hinterfragen. Die Studie zeigt deutlich, dass Machtmissbrauch durch bestimmte Strukturen begünstigt wird. An solchen Strukturen müssen wir arbeiten.

TK: Und wenn man sich damit beschäftigt, dass Leute nicht mehr glauben können, dann entsteht auch immer wieder die Umkehrfrage: „Wovon reden wir denn überhaupt, wenn wir von Glaube sprechen?“ Und vor allem: „Wie kann so ein Glaube aussehen?“ Es wäre eine wichtige Konsequenz, dass mehr darüber gesprochen und gepredigt Wovon reden wir überhaupt, wenn wir vom Glauben sprechen?wird und es mehr konkrete Hilfestellung gibt. Es spricht einiges dafür, dass viele irgendwann ihren anfänglichen, im besten Sinne naiven Glauben, zunehmend hinterfragen. Sie erkennen, dass sie vieles von dem, was sie glauben und wie sie glauben, lediglich von anderen übernommen haben. Und dann ist es wichtig zu wissen: Wie kann ein Glaube aussehen, der nicht einfach wieder in diese für sie unbefriedigende Naivität zurückfällt, sondern der nach vorne wächst, der die Fragen und Zweifel als etwas Positives annimmt aber sie auch nicht verharmlost. Das ist eine gemeinsame Aufgabe. Und dafür braucht man Ehrlichkeit und Offenheit und Raum für Zweifel und Ermutigung.

„Begriffe wie ‚Gnade’ und ‚Versöhnung’ waren in meiner Gemeinde leere Begriffe“TF: Natürlich wird kaum eine Gemeinde sagen: „Das wollen wir nicht.“ Die Frage ist nur: Wie wird es umgesetzt, wie wird es gelebt? Einer der Teilnehmer sagte: Begriffe wie „Gnade“ und „Versöhnung“ waren in seiner Gemeinde leere Begriffe, sie wurden nicht gelebt. Das ist ein Problem. Es muss theologisch durchdrungen sein und es muss dann umgesetzt werden. Da geht es nicht um Perfektion, sondern um Gemeinschaft. Ein Schlüssel wird sein: Wie können wir es schaffen, eine Heterogenität in unseren Kirchen und Gemeinden zu leben? So, dass nicht mehr alle dasselbe glauben müssen. Sondern dass es unterschiedliche Lebensphasen, Schwerpunkte und Spiritualitätsformen geben darf. Eine solche Pluralität im positivsten Sinn ist für mich eine Grundvoraussetzung.

Danke für das Gespräch.

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Das Buch zur Studie unter dem Titel „Warum ich nicht mehr glaube“ ist bei SCM R. Brockhaus erschienen und kann hier bestellt werden.

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